Leseprobe aus: José Saramago, Die Stadt der Blinden



S. 337 ff.





Die kleine Gruppe ist unter der Führung der Frau des Arztes, die als einziger Mensch sehen kann, bereits eine längere Zeit zusammen. Ihr Zusammenhalt erweist sich als Mittel, in dem herrschenden Chaos einigermaßen menschenwürdig zu überleben. Da auch die Körperpflege unter den bedrückenden Zuständen zwangsläufig vernachlässigt wird, nimmt die Gruppe einen Regenschauer als Gelegenheit zu einem Bad wahr, auf dem Balkon der Wohnung, die ehemals die des Arztehepaars war, und die die Gruppe nach längerer Irrfahrt wiedergefunden hat. (S. 337 ff.)


Es war eine unruhige Nacht. Zunächst verschwommen, wanderten die Träume von einem Schlafenden zum andern, pflückten hier und dort, nahmen neue Erinnerungen mit, neue Geheimnisse, neue Wünsche, deshalb seufzten und murmelten die Schlafenden, Das ist nicht mein Traum, sagten sie, aber der Traum antwortete, Du kennst deine Träume noch nicht, und so erfuhr die junge Frau mit der dunklen Brille, wer der Alte mit der schwarzen Augenklappe war, der zwei Schritte entfernt von ihr schlief, so glaubte er zu wissen, wer sie war, das glaubte er nur, denn die Träume entsprachen sich nicht. Es begann zu regnen, als der Morgen dämmerte. Der Wind warf einen Schwall Wasser gegen die Scheiben, der sich wie das Knallen von tausend Peitschen anhörte. Die Frau des Arztes wachte auf, öffnete die Augen und murmelte, Wie es regnet, dann schloß sie sie wieder, im Zimmer war es noch ganz dunkel, sie konnte schlafen. Keine Minute verstrich, jäh wachte sie auf mit dem Gedanken, daß sie etwas zu tun hatte, ohne noch genau zu begreifen, was es war, der Regen sagte ihr, Steh auf, was wollte der Regen wohl. Langsam, um ihren Mann nicht zu wecken, ging sie aus dem Zimmer, durchquerte das Wohnzimmer, hielt einen Moment inne, um die anderen, die auf den Sofas schliefen, zu betrachten, dann ging sie durch den Flur bis zur Küche, auf diesen Teil des Gebäudes fiel der Regen noch stärker, vom Wind gepeitscht. Mit dem Ärmel ihres Kittels wischte sie das beschlagene Fenster an der Tür frei und sah nach draußen. Der ganze Himmel war eine einzige Wolke, es schüttete. Auf dem Boden der Veranda lag schmutzige Wäsche aufgehäuft, die sie ausgezogen hatten, dazu die Plastiktüte mit den Schuhen, die geputzt werden mußten. Putzen. Der letzte Schleier des Schlafes hob sich plötzlich, das war es, was sie tun mußte. Sie öffnete die Tür, tat einen Schritt, und sofort durchnäßte sie der Regen von Kopf bis Fuß, als stünde sie unter einem Wasserfall. Ich muß dieses Wasser nutzen, dachte sie. Sie ging wieder in die Küche und begann, mit so wenig Lärm wie möglich, Schüsseln, Kessel, Töpfe zu sammeln, alles, was auch nur ein wenig aufnehmen konnte von diesem Regen, der in Strömen vorn Himmel fiel, wie dichte Vorhänge, die im Wind flatterten, der über die Dächer der Stadt fegte wie ein großer lärmender Besen. Sie trug sie alle nach draußen, stellte sie entlang der Veranda auf, nahe der Balustrade, jetzt würde sie Wasser haben, um die schmutzige Kleidung zu waschen, die verdreckten Schuhe, hoffentlich hört dieser Regen nicht auf, murmelte sie, während sie in der Küche Seife und Waschmittel holte, alles, was irgendwie zur Reinigung dienen könnte, wenigstens etwas, um diesen unerträglichen Schmutz von der Seele zu wischen. Vorn Körper, sagte sie, als wollte sie diesen metaphysischen Gedanken korrigieren, dann fügte sie hinzu, Es kommt auf das gleiche heraus. Und dann, als sei nur diese Schlußfolgerung möglich, die harmonische Versöhnung zwischen dem, was sie gesagt, und dem, was sie gedacht hatte, zog sie sich mit einem Ruck den nassen Kittel aus und empfing auf dem nackten Körper einmal die Liebkosungen, ein andermal die Peitschenhiebe des Regens, nun wusch sie die Wäsche und zugleich sich selbst. Bei dem Lärm des Wassers um sie her entging ihr, daß sie nicht mehr alleine war, an der Tür zur Veranda waren die junge Frau mit der dunklen Brille und die Frau des ersten Blinden aufgetaucht, welche Ahnung, welche Intuition, welche innere Stimme sie geweckt hatte, weiß man nicht, auch weiß man nicht, wie sie den Weg hierher gefunden hatten, es lohnt nicht, jetzt nach Erklärungen dafür zu suchen, jeder möge sich sein Teil denken. Helft mir, sagte die Frau des Arztes, als sie sie erblickte, Wie denn, wenn wir nicht sehen, fragte die Frau des ersten Blinden, Zieht eure Kleidung aus, je weniger wir zu trocknen haben, um so besser, Aber wir sehen doch nicht, wiederholte die Frau des ersten Blinden, Das macht nichts, sagte die junge Frau mit der dunklen Brille, wir werden tun, was wir können, Und ich bringe es dann zu Ende, sagte die Frau des Arztes, ich werde noch waschen, was schmutzig geblieben ist, und jetzt an die Arbeit, also los, wir sind die einzige Frau auf der Welt mit zwei Augen und sechs Händen. Vielleicht dachten im Gebäude gegenüber hinter den geschlossenen Fenstern einige Blinde, Männer und Frauen, die von dem heftig peitschenden Regen aufgewacht waren und, die Stirn an die kalten Scheiben gedrückt, langsam mit ihrem Atem die Nacht bedeckten, an die Zeit, als sie wie jetzt den Regen vom Himmel hatten fallen sehen. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß gegenüber drei nackte Frauen standen, nackt, wie sie auf die Welt gekommen waren, sie schienen verrückt zu sein, sie müssen verrückt sein, Menschen bei vollem Verstand werden nicht auf einer Veranda, den Blicken der Nachbarn ausgesetzt, Wäsche waschen, und dann auch noch so, was zählt es, daß wir alle blind sind, das sind Dinge, die man nicht tun sollte, mein Gott, wie der Regen an ihnen herunterläuft, zwischen ihren Brüsten herabrinnt, innehält und sich dann in der Dunkelheit ihrer Scham verliert, wie er schließlich über ihre Schenkel läuft, sie eintaucht, vielleicht haben wir zu Unrecht schlecht von ihnen gedacht, vielleicht sind wir einfach nicht in der Lage zu sehen, was irgendwo in der Stadt an Schönem und Wunderbarem geschieht, vom Boden der Veranda fällt ein Tuch aus Schaum, wie gerne würde ich mitfallen, immer fallen, sauber, gewaschen, nackt. Nur Gott sieht uns, sagte die Frau des ersten Blinden, die trotz aller Enttäuschungen und Widrigkeiten noch fest daran glaubte, daß Gott nicht blind ist, worauf die Frau des Arztes antwortete, Nicht einmal er, der Himmel ist bedeckt, nur ich kann euch sehen, Bin ich häßlich, fragte die junge Frau mit der dunklen Brille, Du bist mager und schmutzig, häßlich wirst du nie sein, Und ich, fragte die Frau des ersten Blinden, Schmutzig und mager wie sie, nicht ganz so hübsch, aber hübscher als ich, Du bist schön, sagte die junge Frau mit der dunklen Brille, Woher willst du das wissen, wenn du mich nie gesehen hast, Ich habe zweimal von dir geträumt, Wann, Das zweite Mal war letzte Nacht, Du hast von der Wohnung geträumt, weil du dich sicher und ruhig fühltest, das ist nur natürlich, nach allem, was wir durchgemacht haben, in deinem Traum war ich die Wohnung, und da du mir, um mich zu sehen, ein Gesicht geben mußtest, hast du eins erfunden, Aber auch ich finde dich schön, und ich habe nie von dir geträumt, sagte die Frau des ersten Blinden, Das zeigt nur, daß die Blindheit die Vorsehung der Häßlichen ist, Du bist nicht häßlich, Nein, das bin ich nicht, aber ich bin älter, Wie alt bist du, fragte die junge Frau mit der dunklen Brille, Ich gehe auf die Fünfzig zu, Wie meine Mutter, Und sie, Sie was, Ist sie noch hübsch, Früher mehr, So geht es uns allen, wir waren ' immer einmal mehr, Du bist nie so viel wie jetzt gewesen, sagte die Frau des ersten Blinden. So sind die Wörter, sie verdecken viel, eines reiht sich an das andere, als wüßten sie nicht, wohin sie gehen sollen, und plötzlich, wegen zwei oder dreien oder vier, die plötzlich hervorkommen, einfach in sich selbst, ein Personalpronomen, ein Adverb, ein Verb, ein Adjektiv, haben wir die ganze Erschütterung, die unwiderstehlich an die Oberfläche der Haut und der Augen dringt und unseren Gemütszustand aufwühlt, manchmal sind es die Nerven, die es nicht mehr aushalten, sie haben viel durchge-standen, alles durchgestanden, es war, als hätten sie eine Rüstung getragen, es heißt, Die Frau des Arztes hat Nerven wie Stahlseile, und plötzlich löst sich die Frau des Arztes in Tränen auf, wegen eines Personalpronomens, eines Adverbs, eines Verbs, eines Adjektivs, einfacher grammatikalischer Kategorien, einfacher Begriffe, wie auch die beiden anderen Frauen, indefinite Pronomen, auch ihnen ist zum Weinen, sie umarmen sich zum vollständigen Satz, drei nackte Grazien unter dem strömenden Regen. Es sind Augenblicke, die nicht ewig dauern können, seit mehr als einer Stunde sind die Frauen hier, sie beginnen zu frieren, Mir ist kalt, sagte die junge Frau mit der dunklen Brille. Für die Kleidung kann man jetzt nichts mehr tun, die Schuhe sind sauber, jetzt müssen diese Frauen sich waschen, sie seifen sich die Haare und gegenseitig den Rücken ein und lachen, wie sie nur gelacht haben, wenn sie als Kinder im Garten Blindekuh spielten, als sie noch nicht blind waren. Nun ist es Tag geworden, erste Sonnenstrahlen lugen über die Schulter der Welt, bevor sie sich wieder hinter den Wolken verstecken. Es regnet weiter, aber nicht mehr ganz so stark. Die Wäscherinnen haben die Küche betreten, sich abgetrocknet und mit den Handtüchern abgerieben, die die Frau des Arztes im Badezimmer aus dem Schrank geholt hatte, ihre Haut riecht nach Reinigungsmittel, aber so ist das Leben, ein jeder ohne Hund jagt mit einer Katze, die Seife hat sich im Handumdrehen aufgelöst, und dennoch scheint es in diesem Haus noch alles zu geben, oder ist es, weil alles umsichtig genutzt wird, schließlich ziehen sie sich an, das Paradies war dort draußen auf der Veranda, der Kittel der Frau des Arztes ist klatschnaß, aber sie hat ein Kleid mit Zweigen und Blüten angezogen, das sie seit Jahren nicht mehr getragen hat und das sie nun zur Schönsten von den dreien macht.



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