Leseproben aus: Bernhard Schlink, Der Vorleser



S. 34 ff., 112, 128 f., 148 ff.,



[1] Michael ist der Ich-Erzähler des Romans. Als er 15 ist, lernt er die etwa zwanzig Jahre ältere Hanna kennen. Sie verführt ihn, sie treffen sich regelmäßig. (S. 34 ff.)

[2] Etwa zehn Jahre später. Michael studiert Jura. In einem Prozess, den er mit anderen Studenten im Rahmen eines Studienprojekts regelmäßig besucht, sieht er Hanna wieder, auf der Anklagebank. (S. 112)

[3] Später im Prozess. Michael sinnt über Hannas Motive nach (S. 128 f.)

[4] Michael fährt zum Konzentrationslager Struthof im Elsass, da ein Besuch in Auschwitz nur unter großen Mühen möglich wäre. (S. 148 ff.)




[1]

Michael ist der Ich-Erzähler des Romans. Als er 15 ist, lernt er die etwa zwanzig Jahre ältere Hanna kennen. Sie verführt ihn, sie treffen sich regelmäßig. (S. 34 ff.)

Danach waren wir erschöpft. Oft schlief sie auf mir ein.
Ich hörte die Säge im Hof und die lauten Rufe der Handwerker, die an ihr arbeiteten und sie übertönten. Wenn die Säge verstummte, drang schwach das Verkehrsgeräusch der Bahnhofstraße in die Küche. Wenn ich Kinder rufen und spielen hörte, wußte ich, daß die Schule aus und ein Uhr vorbei war. Der Nachbar, der über Mittag nach Hause kam, streute Vogelfutter auf seinen Balkon, und die Tauben kamen und gurrten.
"Wie heißt du?" Ich fragte sie am sechsten oder siebten Tag. Sie war auf mir eingeschlafen und wachte gerade auf. Ich hatte bis dahin die Anrede, das Sie und das Du vermieden.
Sie fuhr hoch. "Was?"
"Wie du heißt!"'
"Warum willst du das wissen?" Sie sah mich mißtrauisch an.
"Du und ich... ich kenne deinen Nachnamen, aber nicht deinen Vornamen. Ich will deinen Vornamen wissen. Was ist daran ..."
Sie lachte. "Nichts, Jungchen, nichts ist daran falsch. Ich heiße Hanna." Sie lachte weiter, hörte nicht auf, steckte mich an.
"Du hast so komisch gekuckt."
"Ich war noch halb im Schlaf. Wie heißt du?"
Ich dachte, sie wüßte es. Es war gerade schick, die Schulsachen nicht mehr in der Tasche, sondern unter dem Arm zu tragen, und wenn ich sie bei ihr auf den Küchentisch legte, stand obenauf mein Name, auf den Heften und auch auf den Büchern, die ich gelernt hatte, mit starkem Papier einzubinden und mit einem Etikett zu bekleben, das den Titel des Buchs und meinen Namen trug. Aber sie hatte nicht darauf geachtet.
"Ich heiße Michael Berg."
"Michael, Michael, Michael." Sie probierte den Namen aus. "Mein Jungchen heißt Michael, ist ein Student..."
"Schüler."
"... ist ein Schüler, ist, was, siebzehn?"
Ich war stolz auf die zwei Jahre mehr, die sie mir gab, und nickte.
"...ist siebzehn und will, wenn er groß ist, ein berühmter..." Sie zögerte.
"Ich weiß nicht, was ich werden will."
"Aber du lernst fleißig."
"Na ja." Ich sagte ihr, daß sie mir wichtiger sei als Lernen und Schule. Daß ich auch gerne öfter bei ihr wäre. "Ich bleibe sowieso sitzen."
"Wo bleibst du sitzen?" Sie richtete sich auf. Es war das erste richtige Gespräch, das wir miteinander hatten.
"In der Untersekunda. Ich hab zuviel versäumt in den letzten Monaten, als ich krank war. Wenn ich die Klasse noch schaffen wollte, müßte ich wie blöd arbeiten. Ich müßte auch jetzt in der Schule sein." Ich erzählte ihr von meinem Schwänzen.
"Raus." Sie schlug das Deckbett zurück. "Raus aus meinem Bett. Und komm nicht wieder, wenn du nicht deine Arbeit machst. Blöd ist deine Arbeit? Blöd? Was meinst du, was Fahrscheine verkaufen und lochen ist." Sie stand auf, stand nackt in der Küche und spielte Schaffnerin. Sie schlug mit der Linken die kleine Mappe mit den Fahrscheinblöcken auf, streifte mit dem Daumen derselben Hand, auf dem ein Gummifingerhut steckte, zwei Fahrscheine ab, schlenkerte mit der Rechten, so daß sie den Griff der am Handgelenk baumelnden Zange zu fassen bekam, und knipste zweimal. "Zweimal Rohrbach." Sie ließ die Zange los, streckte die Hand aus, nahm einen Geldschein, klappte vor ihrem Bauch die Geldtasche auf, steckte den Geldschein hinein, klappte die Geldtasche wieder zu und drückte aus den außen angebrachten Behältern für Münzen das Wechselgeld heraus. "Wer hat noch keinen Fahrschein?" Sie sah mich an. "Blöd? Du weißt nicht, was blöd ist."
Ich saß auf dem Bettrand. Ich war wie betäubt. "Es tut mir leid. Ich werde meine Arbeit machen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, in sechs Wochen ist das Schuljahr vorbei. Ich werde es versuchen. Aber ich schaff's nicht, wenn ich dich nicht mehr sehen darf. Ich ..." Zuerst wollte ich sagen: Ich liebe dich. Aber dann mochte ich nicht. Vielleicht hatte sie recht, gewiß hatte sie recht. Aber sie hatte kein Recht, von mir zu fordern, daß ich mehr für die Schule tue, und davon abhängig zu machen, ob wir uns sehen. "Ich kann dich nicht nicht sehen."
Die Uhr im Flur schlug halb zwei. "Du mußt gehen." Sie zögerte. "Ab morgen hab ich Hauptschicht. Halb sechs - dann komme ich nach Hause und kannst du auch kommen. Wenn du davor arbeitest."
Wir standen uns nackt gegenüber, aber sie hätte mir in ihrer Uniform nicht abweisender vorkommen können. Ich begriff die Situation nicht. War es ihr um mich zu tun? Oder um sich? Wenn meine Arbeit blöd ist, dann ist ihre erst recht blöd - hatte sie das gekränkt? Aber ich hatte gar nicht gesagt, daß meine oder ihre Arbeit blöd ist. Oder wollte sie keinen Versager zum Geliebten? Aber war ich ihr Geliebter? Was war ich für sie? Ich zog mich an, trödelte und hoffte, sie würde etwas sagen. Aber sie sagte nichts. Dann war ich angezogen, und sie stand immer noch nackt, und als ich sie zum Abschied umarmte, reagierte sie nicht.


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[2]

Etwa zehn Jahre später. Michael studiert Jura. In einem Prozess, den er mit anderen Studenten im Rahmen eines Studienprojekts regelmäßig besucht, sieht er Hanna wieder, auf der Anklagebank. (S. 112)

Hanna drehte sich um und sah mich an. Ihr Blick fand mich sofort, und so merkte ich, daß sie die ganze Zeit gewußt hatte, daß ich da war. Sie sah mich einfach an. Ihr Gesicht bat um nichts. Es bot sich dar. Ich erkannte, wie angespannt und erschöpft sie war. Sie hatte ringe unter den Augen, und in jeder Backe führte eine Falte von oben nach unten, die ich nicht kannte, die noch nicht tief war, sie aber schon wie eine Narbe zeichnete. Als ich unter ihrem Blick rot wurde, wandte sie ihn ab und kehrte sich wieder der Gerichtsbank zu.
Der Vorsitzende Richter wollte von dem Anwalt,, der Hanna befragt hatte, wissen, ob er noch Fragen an die Angeklagte habe. Er wollte es von Hannas Anwalt wissen. Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte. Sag's, Hanna. Sag, daß du ihnen den letzten Monat erträglich machen wolltest. Daß das der Grund war, die Zarten und Schwachen zu wählen. Daß es keinen anderen Grund gab, keinen geben konnte.
Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach nicht von sich aus.


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[3]

Später im Prozess. Michael sinnt über Hannas Motive nach (S. 128 f.)

Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben Fra-gen gestellt. Wenn Hannas Motiv die Angst vor Bloßstellung war - wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm? Und war sie so eitel und böse, für das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?
Ich habe es damals und seitdem immer wieder verworfen. Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten. Und nein, sie hatte die Zarten und Schwachen nicht mit dem Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr vorgelesen hatten, sondern hatte sie fürs Vorlesen ausgewählt, weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte, ehe sie ohnehin nach Auschwitz mußten. Und nein, im Prozeß wog Hanna nicht zwischen der Bloßstellung als Analphabetin und der Bloßstellung als Verbrecherin ab. Sie kalkulierte und taktierte nicht. Sie akzeptierte, daß sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur nicht überdies bloßgestellt werden. Sie verfolgte nicht ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihre Gerechtigkeit. Es waren, weil sie sich immer ein bißchen verstellen mußte, weil sie nie ganz offen, nie ganz sie selbst sein konnte, eine klägliche Wahrheit und eine klägliche Gerechtigkeit, aber es waren ihre, und der Kampf darum war ihr Kampf. Sie mußte völlig erschöpft sein. Sie kämpfte nicht nur im Prozeß. Sie kämpfte immer und hatte immer gekämpft, nicht um zu zeigen, was sie kann, sondern um zu verbergen, was sie nicht kann. Ein Leben, dessen Aufbrüche in energischen Rückzügen und dessen Siege in verheimlichten Niederlagen bestehen.
Seltsam berührte mich die Diskrepanz zwischen dem, was Hanna beim Verlassen meiner Heimatstadt beschäftigt haben mußte, und dem, was ich mir damals vorgestellt und ausgemalt hatte. Ich war sicher gewesen, sie vertrieben, weil verraten und verleugnet zu haben, und tatsächlich hatte sie sich einfach einer Bloßstellung bei der Straßenbahn entzogen. Allerdings änderte der Umstand, daß ich sie nicht vertrieben hatte, nichts daran, daß ich sie verraten hatte. Also blieb ich schuldig. Und wenn ich nicht schuldig war, weil der Verrat einer Verbrecherin nicht schuldig machen kann, war ich schuldig, weil ich eine Verbrecherin geliebt hatte.


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[4]

Michael fährt zum Konzentrationslager Struthof im Elsass, da ein Besuch in Auschwitz nur unter großen Mühen möglich wäre. (S. 148 ff.)

Ich beschloß wegzufahren. Wenn ich von heute auf morgen nach Auschwitz hätte fahren können, hätte ich es gemacht. Aber ein Visum zu bekommen, dauerte Wochen. So bin ich zum Struthof ins Elsaß gefahren. Es war das nächste Konzentrationslager. Ich hatte noch nie eines gesehen. Ich wollte die Klischees mit der Wirklichkeit austreiben.
Ich bin getrampt und erinnere mich an eine Fahrt in einem Lastwagen, dessen Fahrer eine Flasche Bier nach der anderen leerte, und an einen Mercedes-Fahrer, der mit weißen Handschuhen steuerte. Hinter Straßburg hatte ich Glück; der Wagen fuhr nach Schirmeck, einer kleinen Stadt unweit vom Struthof.
Als ich dem Fahrer sagte, wohin genau ich unterwegs war, schwieg er. Ich sah zu ihm hinüber, konnte in seinem Gesicht aber nicht lesen, warum er mitten in lebhafter Unterhaltung plötzlich verstummt war. Er war mittleren Alters, hatte ein hageres Gesicht, ein dunkelrotes Mutteroder Brandmal an der rechten Schläfe und strähnig gekämmtes, akkurat gescheiteltes schwarzes Haar. Er sah konzentriert auf die Straße. Vor uns liefen die Vogesen in Hügeln aus. Wir fuhren durch Weinberge in ein sich weit öffnendes, sachte ansteigendes Tal. Links und rechts wuchs Mischwald die Hänge hinauf, manchmal gab's einen Steinbruch, eine backsteingemauerte Fabrikhalle mit gefaltetem Dach, ein altes Sanatorium, eine große Villa mit vielen Türmchen zwischen hohen Bäumen. Mal links, mal rechts begleitete uns eine Eisenbahnlinie.
Dann redete er wieder. Er fragte mich, warum ich den Struthof besuche, und ich erzählte vom Verfahren und von meinem Mangel an Anschauung.
"Ah, Sie wollen verstehen, warum Menschen so furchtbare Sachen machen können." Er klang ein bißchen ironisch. Aber vielleicht war es auch nur die mundartliche Färbung von Stimme und Sprache. Ehe ich antworten konnte, redete er weiter. "Was wollen Sie eigentlich verstehen? Daß man aus Leidenschaft mordet, aus Liebe oder Haß oder für Ehre oder Rache, verstehen Sie?"
Ich nickte.
"Sie verstehen auch, daß man mordet, um reich zu werden oder mächtig? Daß man im Krieg mordet oder bei einer Revolution?"
Ich nickte wieder. "Aber ..."
"Aber die, die in den Lagern gemordet wurden, hatten denen, die sie gemordet haben, nichts getan? Wollen Sie das sagen? Wollen Sie sagen, daß es keinen Grund zum Haß gab und keinen Krieg?"
Ich wollte nicht wieder nicken. Was er sagte, stimmte, aber nicht, wie er es sagte.
"Sie haben recht, es gab keinen Krieg und keinen Grund zum Haß. Aber auch der Henker haßt den, den er hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin. Weil es ihm befohlen wurde? Sie denken, daß er es tut, weil es ihm befohlen wurde? Und Sie denken, daß ich jetzt von Befehl und Gehorsam rede und davon, daß den Mannschaften in den Lagern befohlen wurde und daß sie gehorchen mußten?" Er lachte verächtlich. "Nein, ich rede nicht von Befehl und Gehorsam. Der Henker befolgt keine Befehle. Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind ihm völlig gleichgültig. Sie sind ihm so gleichgültig, daß er sie ebensogut töten wie nicht töten kann."
Er sah mich an. "Kein ‘aber’? Kommen Sie, sagen Sie, daß ein Mensch einem anderen so gleichgültig nicht sein darf. Haben Sie das nicht gelernt? Solidarität mit allem, was Menschenantlitz trägt? Würde des Menschen? Ehrfurcht vor dem Leben?"
Ich war empört und hilflos. Ich suchte nach einem Wort, einem Satz, der das, was er gesagt hatte, auslöschen und ihm die Sprache verschlagen würde.
"Ich habe einmal", fuhr er fort, "eine Photographie von Erschießungen von Juden in Rußland gesehen. Die Juden warten nackt in einer langen Reihe, einige stehen am Rand einer Grube, und hinter ihnen stehen Soldaten mit Gewehren und schießen sie ins Genick. Das geschieht in einem Steinbruch, und über den Juden und Soldaten, auf einem Sims in der Wand, sitzt ein Offizier, läßt die Beine baumeln und raucht eine Zigarette. Er kuckt ein bißchen verdrießlich. Vielleicht geht es ihm nicht schnell genug voran. Er hat aber auch etwas Zufriedenes, sogar Vergnügtes im Gesicht, vielleicht weil immerhin das Tagwerk geschieht und bald Feierabend ist. Er haßt die Juden nicht. Er ist nicht ..."
"Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen und ..."
Er hielt an. Er war ganz bleich, und das Mal an seiner Schläfe leuchtete. "Raus!"
Ich stieg aus. Er wendete so, daß ich einen Sprung zur Seite machen mußte. Ich hörte ihn noch in den nächsten Kurven. Dann war es still.
Ich ging die Straße bergan. Kein Auto überholte mich, keines kam mir entgegen. Ich hörte Vögel, den Wind in den Bäumen, manchmal das Rauschen eines Bachs. Ich atmete erlöst. Nach einer Viertelstunde hatte ich das Konzentrationslager erreicht.


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