Leseproben aus: Kathrin Schmidt, Du stirbst nicht



S. 6 ff., 80 ff., 271 f., 278 ff.



[1] Der Anfang des Buches: Helene erwacht (S. 6 ff.)

[2] Helenes Mann Matthes ist bei ihr im Krankenhaus (S. 80 ff.)

[3] Helene ist zuhause am Esstisch, mit ihren Kindern (S. 271 f.)

[4] Helene erinnert sich an ein Treffen mit ihrer Freundin Viola (ehemals Viktor). die sie Maljutka nennt (S. 278 ff.)




[1]

Der Anfang des Buches: Helene erwacht (S. 6 ff.)

ES KLAPPERT UM SIE HERUM. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter?

Die rechte Hand ist aber viel kälter als die linke, sagt sie, und der rechte Fuß genauso.

Warum hat die Mutter eine kalte rechte Hand?, fragt sie sich. Muss lächeln, als sie sich vorstellt, sie überprüfe die Temperatur ihrer Füße.

Sie lacht!, sagt ihre Mutter.

Sie verzieht nur das Gesicht.

Hat das ihr Vater gesagt? Aber ja, das war unzweifelhaft die Stimme ihres Vaters! Jetzt möchte sie doch die Augen öffnen. Was hat sie in der Küche ihrer Eltern zu suchen, wo mit Besteck geklappert und die Hand- und Fußtemperatur untersucht wird und sie ihre Augen nicht öffnen kann?

•••

0, where do you come from? From London?

Das hat sie zu ihrer Tochter gesagt. Hat sie? Ein Auge kann sie öffnen. Sie tut es. Vierzehn ist das Mädchen und heute auf eine Sprachreise nach England gefahren. Warum ist sie schon wieder da? Sie heult. Aus irgendeinem Grund heult sie. Deshalb hat sie ja auch englisch sprechen wollen, um sie aufzumuntern. Es scheint nichts zu nützen, dass sie fröhlich ist. Das Mädchen hat Kummer. Aber welchen? Wen könnte sie fragen? Der Blick wandert. Da! Neben der Tochter steht ihr Mann. My busband, sagt sie. Darüber wird aber doch hoffentlich gelacht werden ...

Nichts.

Wenigstens lächelt der Mann. Je länger sie ihn anschaut, umso seltsamer findet sie sein Lächeln. Angepflockt hängt es zwischen den Wangenknochen wie eine Salzgurke.

Salt cucumber, sagt sie.

Gibt es das überhaupt auf Englisch?

•••

... geboren am 3. 12. 1972, wohnt in Hückelhoven ...

Halt! Das ist sie aber nicht! Warum kann sie das nicht so laut ausrufen, wie sie möchte? Verdammt, das muss doch gehen!

Nun regen Sie sich aber mal schön ab, wir kommen ja gleich zu Ihnen!

Wer hat das gesagt? Der junge Mann da? Sie kann, glaubt sie, beide Augen gleichzeitig öffnen. Es geht ein bisschen schwer, irgendetwas scheint auf den Lidern zu liegen. Der junge Mann lächelt, aber das beruhigt sie kaum.

Das ist sie doch nicht! Sie ist vierzehn Jahre älter und wohnt doch nicht in Hückelhoven!

I don't ... I don't ...

Warum kommt sie nicht weiter mit dem Satz? Jetzt sagt der junge Mann den anderen Männern in blauen Kitteln, dass es beinahe so klinge, als ob sie englisch zu sprechen versuche, seit sie hin und wieder wach werde. Die Männer lachen. Sie sucht nach einer Frau. Hinter den Männern steht eine, aber die scheint mit irgend etwas beschäftigt zu sein.

Einer der Männer beugt sich über sie.

Können Sie mich hören?

Sie wird dem doch nicht sagen, ob sie ihn hören kann. Soll er ruhig weiter so brüllen.

Augen zu.


nach oben



[2]

Helenes Mann Matthes ist bei ihr im Krankenhaus (S. 80 ff.)

Helene spürt eine Hand auf der Stirn. Es ist die von Matthes, sie merkt es, noch ehe sie die Augen geöffnet hat. Matthes sieht nicht zornig aus. Er war sehr oft zornig in den letzten beiden Jahren. Ihr Anblick allein reichte schon aus, ihn in Rage zu versetzen. Aber stimmt das überhaupt? Leise, wie eben geschlüpfte Schlangen, züngelt Unsicherheit. Was gerade wie eine Erinnerung anmutete, kommt ihr in diesem Moment wie ein jäher, plötzlicher und eigentlich unmotivierter Verdacht vor. Hat die Gegenwart sie als Geisel genommen, um die Vergangenheit freizupressen? Aber wer sollte damit zu erpressen sein ... Ihr will niemand einfallen. Die Unsicherheit leckt die Haut der Unterarme, die Härchen stellen sich auf. Sie fröstelt. Nun reicht Matthes’ Anblick, sie in Rage zu versetzen: wie verständnisvoll, er auf sie schaut, wie allwissend! Ganz Vater, der sein kleines, unbeholfenes Kind begütigend und mit ebenjenem Hauch Spott auf den Lippen besänftigen will, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Kind windet sich, tritt, schlägt um sich. Der Vater lächelt und hält es fest.

Sie kann nicht ausdrücken, was sie denkt.

Es ist furchtbar, aber sie ist es, die sich windet. Die schlägt.

•••

Gefühlschaos ist ihr neu. So neu wie übereinander herfallende Gedanken, deren Anfänge und Enden sie jeweils gar nicht bemerkt: Sie sind auf einmal da und schon wieder weg. Wenn sie sich zwingen will, einen von ihnen zu verfolgen, endet das unweigerlich in Tränen, denn sie schafft es nicht. Schlimm ist, dass sie das nicht auszudrücken vermag. Es gäbe aber auch keinen Empfänger für eine solche Mitteilung. Ob das noch schlimmer ist?

Helene ist froh, dass Doktor Allwissend wieder nach Hause gegangen ist. Auf seinem Gesicht hat sie heute nichts als Verständnis ausgemacht und fühlt sich furchtbar gefoppt. Nichts weiß er! Nichts hat er verstanden! Was gibt es aber überhaupt zu verstehen? Sie versucht, sich einen Reim auf ihre Wut zu machen. Getobt hat sie. Weil sie sich nicht mehr verstellen konnte, nicht mehr verstecken wie früher, sondern weil alle Neugier offen zu lesen war in ihrem Gesicht. Ertappt fühlte sie sich, aller Vorsicht beraubt. Nein, schon die Möglichkeit, vorsichtig zu sein, fehlte. Furchtbares Gefühl, dämlich (und vor allem offen) lächelnd anderen ausgeliefert zu sein. Jetzt erst glaubt sie zu bemerken, dass sie tatsächlich über Gebühr lächelt: Die kleinste Freude zieht sofort den Mund breit, sie merkt es inzwischen daran, dass Speichel läuft. Und die Freude hört damit so leicht nicht auf. Sie ist ein Breitmaulfrosch. Sucht das Gesicht im Spiegel der Waschnische auf. Nein, Glupschaugen sind ihr noch nicht gewachsen. Die Finger sind nicht trommelschlegelförmig verändert, ebenso wenig die Zehen. Ein bisschen grün sieht sie aber aus. Siehst du, Helene: grün vor Wut. Sie lächelt, und da überkommt es sie auch schon wieder, das rauschbrausende Wüten. Hilflosigkeit, die im Kopf ihre trostlosen Runden dreht, immer schneller und schneller, und als sie zu schluchzen beginnt, fängt die dicke Bandner unflätig an zu lachen. Ein Glück, dass es die gibt. Ihr Lachen macht, dass Helene sich fängt. Nicht mit der langen Leine, aber mit der kurzen. Sie fährt hinüber zum Bett und lacht heulend mit. Gut, wenn der Schmerz nachlässt, denkt sie. Dass er aber immer noch in ihr hockt, nur notdürftig zugedeckt ist, weiß sie wohl.

•••

Doktor Allwissend sagt nichts. Jedenfalls nicht zur Situation. Helene glaubt zu wissen, dass sie in Trennung lebten, aber wenn sie versucht, sich an die letzten Wochen zu erinnern, scheitert sie einigermaßen jämmerlich. Vielleicht hatten sie beschlossen, die Trennung rückgängig zu machen ... Vielleicht hatten sie eine kleine glückliche Zeit gehabt, ehe das Aneurysma platzte ... Das würde Matthes’ Gesicht erklären, als er mit ihr schlief. Beseligt hatte er ausgesehen. Die Augen schwollen ihm im Zustand der Leidenschaft immer beinahe zu, und wenn er sie mühsam öffnete, um sie anzuschauen, war seine Iris oben und unten gekappt. Das erinnerte dann an einen schlafenden Löwen, der mal eben das Lid lüpfte, weil sich eine Fliege auf seine Nase gesetzt hatte. Träge sah das aus und zufrieden, dabei bebte er vor Erregung. Sie hatte gelernt, sich in dieser Gegensätzlichkeit zurechtzufinden, wenn sie auch anfangs irritiert war dadurch. Andererseits kam es aber niemals vor, dass er hinter fiebrigem Blick mit großer Ruhe aufwartete. Einem aufgeregten Auge entsprach eine aufgeregte Verfasstheit.

Der Märchendoktor Allwissend weiß eigentlich nichts. In seiner Unbeholfenheit sagt er aber immer das Richtige. Matthes weiß eigentlich viel. In seiner Art von Unbeholfenheit ist davon manchmal nichts zu merken.


nach oben



[3]

Helene ist zuhause am Esstisch, mit ihren Kindern (S. 271 f.)

Die Mädchen haben Sellerie und Kartoffeln gekocht, Fleisch gebraten und einen Vanillepudding aus dem Kühlschrank geholt. Helene ist bemüht, den Mund geschlossen zu halten beim Essen. Kein Fädchen soll sich abseilen, kein Bröckchen herausfallen. In dieser Anstrengung krampft die rechte Hand, die sie nun unter dem Tisch zu halten versucht, die sich aber immer wieder langsam in die Höhe zieht. Es macht sie wütend, dass sie das Fleisch nicht selbst schneiden, die Kartoffeln nicht zerdrücken kann, oder? Ja, es ist Wut. Sie muss sich bezähmen. Mit ihrem dämlichen Schneidbrett hier zu sitzen, würde ihr schließlich auch nicht gefallen. Allmählich merkt sie, wie Speichel einschießt, wie sie die Kaumuskeln nicht mehr bewegen kann, weil ihr Gesicht von einer Heulattacke verzogen wird und ihr Mund sich öffnet. Tränen rollen. Meine Güte, warum muss ihr das aber auch immer wieder passieren! Und sie kann ja nicht einmal rausrennen! Allmählich scheinen sich die anderen immer weiter zu entfernen, sie zieht sich ganz auf sich selbst zurück und sitzt schließlich in der Ecke am Tisch, zwischen Wand und Billy, auf verlorenem Posten, ein verlorenes Kind, enfant perdu, schutzlos, als hätte man ihr das dicke Fell abgezogen, und hält den Kopf tief gesenkt, aus dessen fleischrotem Großloch durchspeichelter Brei längst hinabgestürzt ist, auf Bluse, Hose, Schuhe, sie schämt sich, im Schämen wird das Gefühl der Verlorenheit immer größer, bis sie schließlich gar nicht mehr da zu sein glaubt zwischen jenen Menschen, die sie in Briefen an ihre Eltern, als sie die noch schreiben konnte, meine Lieben genannt und das doch auch so gemeint hatte: Jeder war eine große Liebe gewesen. Kann man vor großen Lieben bestehen, wenn man spuckt, wenn man hilflos ist, sein Gesicht nicht beherrscht, seine Haltung verliert? Mareile umarmt sie plötzlich, ihr scheint das Gespucke nichts auszumachen, pass doch auf!, will sie rufen, dein Pullover!, aber nichts kommt mehr aus ihrem Mund, stattdessen fliegt auf einmal der linke Arm um Mareiles Schulter, ihr Kopf in die Nische zwischen Mareiles Kopf und Schulter, und nun sitzt sie, an ihre Tochter gelehnt, und spürt, dass die Tränen wohl endlich die längste Zeit geflossen sind. Gott sei Dank. Als sie sich später von ihr löst, sieht sie Fleischsellerie auf ihrer Brust, Kartoffelpamps im Hosenbund.

Armes Mädchen. Jetzt lächelt sie wieder.

Jetzt lächeln die anderen aber nicht.

Jetzt aber bitte lächeln, meint ihr Blick, den sie von einem zum anderen schickt. Ist er flehentlich? Sie weiß nicht mehr, wie man einen flehentlichen Blick ins Gesicht hineinpflanzt. Sie will es versuchen. Ihre Versuche müssen komisch aussehen, denn einer nach dem anderen prustet los, bis sie schließlich beinahe unter dem Tisch liegen vor Lachen.

So nahe ist also das eine beim anderen.


nach oben



[4]

Helene erinnert sich an ein Treffen mit ihrer Freundin Viola (ehemals Viktor). die sie Maljutka nennt (S. 278 ff.)

Auf dem Weg zum Treffen hatte sie sich Maljutka immer wieder mit kurzen Haaren vorstellen müssen, hatte Angst gehabt, sie nicht sofort zu erkennen, vielleicht würde sie ja auch in betont männlicher Aufmachung erscheinen? Helene hatte gezittert vor Aufregung, immer wieder waren die Schauer ihr vom Kopf in die Beine geschossen, dass sie stolperte. Es war Mitte April, sie sieht sich in einer Tulpenrabatte landen, auf irgendeinem zentral gelegenen Platz in Berlin ... Ja, richtig, sie hatten sich in einem Café Nähe Bahnhof Charlottenburg verabredet, zu dem sie beide etwa die gleiche Entfernung zurückzulegen hatten. Vielleicht war es zu früh am Tage, jedenfalls waren nur zwei Tische besetzt gewesen, ihre Angst hatte sich als unbegründet erwiesen. Trotz der kurzen Haare sah Maljutka auf Anhieb weiblicher aus als bei ihrem letzten Treffen, die Frisur stand ihr ausgezeichnet. Sie hatte deren Ton ihrer natürlichen Haarfarbe angepasst, das Grau im Aschblond durch Funkelsträhnchen ersetzt. Gekonnt sah das aus, alle Achtung. Helene machte sich nicht halb so viel aus ihrer äußeren Erscheinung, wie Maljutka aufgewandt haben musste, um in diesem Look zu erscheinen. Die Kleidung war nur auf den ersten Blick indifferent, auf den zweiten enttarnte sich das karierte Kurzarmhemd als eine Bluse, die Hose als eine weiblich geschnittene Schlagjeans. Magerer war sie geworden im letzten Monat, Helene konnte nicht anders, als sich die kleinen Brüste als Spiegeleier auszumalen. Sie sah schön aus, viel schöner, als Helene sie in Erinnerung gehabt hatte. Sofort zog es wieder im Bauch, und Helene hatte das deutliche Gefühl, eben nicht den Kerl in Viola zu meinen. Der steckte doch drin, der würde sich doch nie gänzlich verabschieden!, dachte sie zwar, aber sie musste sich seiner bewusst erinnern, von selbst zeigte er sich ihr nicht. Das war neu und veranlasste sie auf der Stelle zu einem hingenuschelten spät, aber Gott sei Dank nicht zu spät, was Maljutka Malysch mit einem Blick auf ihre kleine! goldene! Damenarmbanduhr! quittierte und Helene die drei Minuten großherzig vergab. Sie schüttelte augenfällig den Unterarm aus und damit das Ührchen ein Stück herunter, auf dass es locker wie ein Armband das Handgelenk umspielte. Helene lächelte, fragte, ob das Ding eine Neuanschaffung sei. Kurzlebiger Stolz glättete Maljutkas Gesicht, das sich aber sofort wieder zerfurchte. Überscharf nahm nun auch Helene das Tuscheln am Nachbartisch wahr, der Kellner gab der Tresenfrau Zeichen, und wenn auch nicht klar war, worüber getuschelt, wozu Zeichen gegeben wurden, so wusste sie doch, dass Maljutka alles auf sich bezog. Vermutlich zu Recht. Helene hängte ihren Mantel an den Garderobenständer, setzte sich. Bestellte einen schwarzen Tee, ein Stück Kirschkuchen. Maljutka kippte das erste Glas Rotwein, längst hatte sie eine Flasche bestellt, mit dem Trinken aber auf Helene gewartet, und goss sofort nach, als sie hörte, dass sie die Flasche würde alleine leeren müssen.

Sie schwiegen.

Sie schwiegen lange, nur das Kratzen der Kuchengabel auf dem Teller, Maljutkas kehliges Schluckgeräusch beim Trinken und das gelegentliche Aufsetzen des Teeglases auf dem Untersatz blieben zu hören. Schließlich räusperte sich Maljutka und fragte nach Lissy, die sie beeindruckend gefunden hatte bei ihrem ersten und letzten Besuch in Helenes Zuhause, so ohne Fett auf den Rippen und doch irgendwie stark und sehnig, sagte sie, und ein unsicheres Flackern erschien in ihren Augen. Helene nahm die Frage zum Anlass, der beidseitigen Verlegenheit ein Schnippchen schlagen zu wollen. Sie legte los mit Entwicklungsberichten aller fünf Kinder im letzten Halbjahr, und als sie, beinahe erschöpft, absetzte, sahen sie sich an und mussten lachen. Befreit meinte Maljutka, sie könnte ja verstehen, wie wichtig Matthes für Helene sei. Dass sie kein Recht habe, sich da reinzuhängen, dass sie aber geglaubt hätte, sich nicht mehr verlieben zu können, und da hätte ihr Helene einen gehörigen Strich durch die offenbar voreilig veranschlagte Rechnung gemacht. Sie schämte sich dennoch kein bisschen, nicht der Männer-Fotoaktion noch der dussligen Zustände, in die sie immer wieder geraten wäre, so ohne Helene und doch ganz mit ihr, so himmelhochjauchzendzutodebetrübt, so einfordernd und wieder weichend, so vor und zurück. So sei das eben, sie wäre aus der Übung im Lieben. In letzter Zeit hätte sie sich dann zu dem Gedanken verstiegen, Frauenliebe liefe doch außer Konkurrenz, wäre keine Gefahr, für nichts, für niemanden, und wenn sie, Helene, das auch so sehen könnte, müssten sie doch niemandem sagen, wie es um sie bestellt wäre, oder? Ein Tag in der Woche würde reichen, ach, was sagte sie, einmal im Monat!, alle zwei Monate!, sie könnte warten, würde warten, würde doch niemandem etwas wegnehmen, sondern ihr, Helene, höchstens etwas schenken wollen! Ganz klein wurde sie bei dieser Rede, schrumpfte unter Helenes ungläubigem Blick, den sie in Dackelmanier erwiderte, und Helene mochte nicht glauben, dass es Maljutka Malysch war, die gesprochen hatte. Dass es Maljutka Malysch war, die kein Recht zu haben glaubte, sich in Helenes Beziehungen reinzuhängen, dabei hatte Helene selbst sie mitten hineingehängt, ihr eine Gloriole verpasst und sie über allem segeln lassen, was Gott werden ließ im letzten halben Jahr. Nein, Maljutka. Du hast sehr wohl das Recht, das Recht zu haben. Helene hatte ihr sagen wollen, wie sie sie heute zum ersten Mal, auf Anhieb, gesehen hatte: Als Frau, nicht als Neutrum oder kastrierten Kerl, wie es ihr zuvor einfach passiert war, sie hatte das gar nicht ändern können, etwas anderes als abwarten hätte nichts gebracht, glaubte sie zu wissen, aber gleichzeitig wurde es ihr auf der Stelle zu viel, Maljutka das zu erklären und ihr damit das Hoffen zu stärken, das sie ihr hatte nehmen wollen; den ganzen Weg, die lange S-Bahn-Fahrt über hatte sie nach den richtigen Worten gesucht, den Abschied plausibel zu machen, den sie Maljutka zu geben vorhatte. Den vorläufigen, versuchsweisen, unter Vorbehalt stehenden, zeitweiligen, vorübergehenden, experimentellen, behelfsmäßigen, provisorischen, den Abschied bis auf Weiteres, zur Probe, bis auf Widerruf, den Interimsabschied. Das noch leicht geöffnete Türchen fest im Blick. So ein Türchen sollte der Abschied schon offen lassen, es war, als wollte sie, wenn schon nicht den Fuß, so aber doch den Schuh dort stehen lassen. Schon aber fragte sie sich, wovon sie sich in diesem Falle zu verabschieden hatte. Von täglichen, mitunter sogar mehrmals täglich gewechselten Mails? Von Nichttagen und Nichtnächten, die sie miteinander hatten? Wie lange hatten sie einander schon nicht mehr gesehen? Das letzte Mal war ihre Märznacht gewesen, danach hatte Maljutka ihr den Abschied gegeben, jedenfalls hatte das anfangs so ausgesehen, bis dann wieder täglich die Mails eintrafen und abgingen und alles zurückgeschnippt war in den früheren Zustand der ausgesprochenen, ungelebten Liebe, der für Helene zu einem des ungeliebten Lebens zu werden drohte, wenn sie ihm nicht irgendwie Einhalt gebot. Nicht mit Abstand ordnete, was der Ordnung weit abstand, jedenfalls der in Jahrzehnten eingeübten Matthesordnung, die sie nie grundsätzlich hinterfragt hatte. Ja, sie war durcheinander, und eine devote, fußfällige Maljutka war das Letzte, was sie gebrauchen konnte. Jetzt merkte sie, dass es gerade Maljutkas stacheliges, widerborstiges Wesen gewesen war, das sie gereizt hatte, bis aufs Blut sozusagen, nicht etwa ihre schlecht zu versteckende Männlichkeit oder der breite, ausufernde Schritt, den sie zeigte, wenn es ihr nicht darauf ankam. Helene selbst war nie widerborstig und stachelig gewesen, sondern dem Muster des anschmiegsamen Weibchens nur halbherzig entwachsen. Zwar konnte sie für ihre Rechte, beruflich und politisch zum Beispiel, einstehen, hatte das früh gelernt und sich auch nichts vormachen lassen, aber im persönlichen, privaten Bereich zog sie schnell die Fühler ein und sich zurück in die Muschelschale, wenn die Harmonie auf der Kippe stand und durch einen Verzicht zu retten war.

Eine servile Maljutka war undenkbar, unvorstellbar. Sollte ihr doch nicht die Finger lecken, wenn sie die gnädig, einmal im Quartal?, rüberreichte! So hatten sie nicht gewettet, Helene wurde geschüttelt, schüttelte sich, eine Welle des Widerwillens brach sich an ihrem eben noch klaren Blick, und hätte Maljutka ihr nicht erschrocken die Hand auf den Unterarm gelegt, so wäre das Ganze womöglich in eine Art Schüttellähmung ausgeartet ...

Sie muss lächeln bei diesem Gedanken, das stimmt sie versöhnlich. Mit dem, was man Schicksal nennt? So weit würde sie vielleicht nicht gehen. Aber mit dem heutigen Tag, der eben heraufkriecht und rote Streifen ins Schwarz, ins Grau malt, der ihr gestattet hat, sich ein ernst zu nehmendes Stück der Vergangenheit wiederzuholen, muss sie nun nicht so hart ins Gericht gehen wie mit dem gestrigen.


nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken