Leseproben aus: Anna Seghers, Transit



S. 68 f., 80 ff., 91 ff., 166 ff.



[1] Der Erzähler ist von Paris nach Marseille gekommen. (S. 68 f.)

[2] In einem Marseiller Café sieht der Erzähler Marie zum ersten Mal (S. 80 ff.)

[3] Auf der Suche nach "der Frau" (Marie) gerät der Erzähler in eine Marseiller Kirche. (S. 91 ff.)

[4] Marie war in Marseille mit einem Arzt zusammen, um mit ihm Frankreich per Schiff zu verlassen. Er fährt ab, sie bleibt zurück, beim Erzähler. (S. 166 ff.)




[1]

Der Erzähler ist von Paris nach Marseille gekommen. (S. 68 f.)


Beim Heimkommen hielt mich die Wirtin an. Ich hatte von dieser Frau stets nur den Kopf und den Busen wahrgenommen, die Teile ihrer äußeren Erscheinung, die in dem Fenster über der hohen Stiege sichtbar waren. Von diesem Platz aus verfolgte sie gleichgültig aufmerksam das Auf und Ab ihrer Gäste. Sie schwatzte, ich hätte Glück gehabt, die Polizei sei wiedergekommen, sie hätten die Zimmernachbarin mitgenommen. – Warum? – Weil sie durch die Verhaftung ihres Mannes bei der letzten Razzia ohne männlichen Schutz in der Stadt lebt. Und alle Frauen, die ohne eigene Männer und ohne genügende Ausweise hier in Marseille entdeckt werden, die sperrt man ein in dem neuen Frauenlager, dem Bompard.

Der Wirtin war alles offenbar herzlich gleichgültig. Sie legte sich jeden Franc zurück, den sie aus ihren unsicheren Gästen herausholte, um sich so bald wie möglich ein Spezereigeschäft einzurichten. Vielleicht stand sie auch im Bunde mit einem der Polizisten, dem Führer der Razzien, mit dem sie, die über uns alle Bescheid wußte, die Prämie für jeden Menschenfang teilte. So lebte sie ganz unternehmend in ihrem stillen Schlupfwinkel. Und alle Klagen und alle Verzweiflung der Festgenommenen verwandelten sich in ihren Gedanken zuletzt in Erbsen, Seife und Makkaroni. Die nächsten Tage versuchte ich Paulchens Rat zu befolgen. Doch fielen auf allen Komitees meine Versuche kläglich aus. Anfangs erzählte ich allen, ich erwartete Arbeit auf einer Farm, ich brauchte nur ein klein bißchen Geld, um solange hier durchzuhalten. Darauf zuckten alle die Achseln. Ich bekam nichts und hatte nicht einmal Geld für Zigaretten. Darauf schlug ich endlich die Lehren in den Wind, die mir meine Eltern gegeben hatten und die mir immer noch im Blut steckten: daß der Mensch standhalten müsse, seine Sache immer erst aufgeben, wenn es unumgänglich geworden sei. Ich aber fing jetzt gleich an zu erzählen, daß ich alles aufgeben wolle und abreisen. Das begriffen alle. Hätte ich sie um Geld gebeten für eine Hacke, damit ich noch mal mein Glück versuchte auf einem Rübenacker, irgendwo auf der alten Erde, sie hätten mir bestimmt keine fünf Francs für die Hacke gegeben. Sie belohnten allein die Abfahrtsbereiten, die alles aufgaben. Also stellte ich mich von nun an abfahrtssüchtig, worauf ich Geld genug bekam für die Wartezeit auf das Schiff. Ich zahlte mein Zimmer, ich kaufte mir Zigaretten und Bücher für Binnets Jungen.


nach oben



[2]

In einem Marseiller Café sieht der Erzähler Marie zum ersten Mal (S. 80 ff.)


Ich komme jetzt auf das Wichtigste. Es war am 28. November. Ich habe das Datum behalten. Mein zweiter Aufenthaltsschein sollte in kurzem ablaufen. Ich grübelte, was ich machen solle. Noch einmal neu ankommen auf den Lagerentlassungsschein, den mir Heinz geschenkt hatte? Zu den Mexikanern hinaufgehen? Ich setzte mich in den Mont Vertoux. In diesem Café saß ich jetzt vier- bis fünfmal die Woche.

Ich kam von den Binnets. Das Kind war damals schon fast gesund. Wir hatten mit dem Arzt, ich will nicht sagen Freundschaft geschlossen, dazu war er doch der Mann nicht aber ganz gute Bekanntschaft. Er machte uns Spaß, er war anders als wir. Er erzählte immer zunächst von dem Stand seiner Abreise. Es gab auch bei ihm immer neue Zwischenfälle. Er sehe, sagte er, Tag und Nacht die weiße Wand eines neuen Krankenhauses, die Kranken ohne Arzt. Seine Besessenheit gefiel mir. Seine Selbstüberschätzung belustigte mich. Der Arzt war bereits so vertraut mit dem Ort seiner späteren Wirksamkeit, daß er annahm, wir müßten es auch sein. Er hatte sein Visum bereits im Paß. Der Knabe drehte sich, wenn die Visengespräche begannen, mit dem Kopf zur Wand. Ich war damals noch so töricht, anzunehmen, daß sie ihn maßlos langweilten.

Sobald der Arzt seinen Kopf auf die Brust des Kindes legte, um es abzuhorchen, wurde er selbst ruhig und vergaß seine Visen. Sein Gesicht, das gespannte Gesicht eines abgehetzten Mannes, der von irgendeinem Wahn behext ist, bekam einen Ausdruck von Weisheit und Güte, als richte sich plötzlich sein ganzes Dasein nach Weisungen anderer Ordnung als der von Kanzleibeamten und Konsuln.

Ich dachte an die Umstände dieser Abreise und an meinen eigenen Aufenthalt. Das Café Mont Vertoux liegt Cannebière, Ecke Quai des Belges. Was später kam, warf keinen Schatten voraus, weit eher ein klares Licht, das mich und alles an jenem Nachmittag erhellte, auch das Müßigste und Belangloseste meines ohnedies belanglosen müßigen Daseins.

Zwischen mir und dem Büfett gab es zwei Tische. An einem saß eine kleine Frau mit zottigem Haar, die immer da saß um dieselbe Zeit und immer den Stuhl schräg stellte und immer jedem dasselbe erzählte mit immer neuem Schreck in den Augen: wie sie ihr Kind bei der Evakuation von Paris verloren hatte. Sie hatte es auf ein Soldatenauto gesetzt, weil es müde geworden war. Da waren die deutschen Flieger gekommen, die Straße war bombardiert worden. Der Staub! Das Geheul! Und dann war das Kind nicht mehr da. Man hatte es erst Wochen später weitab in irgendeinem Gehöft gefunden, es würde nie mehr werden wie andere Kinder. An ihrem Tisch saß ein langer vertrackter Tscheche, der wollte durchaus nach Portugal, doch nur, um von dort nach England zu fahren, wo er mitkämpfen wollte, was er jedem zuflüsterte. Ich horchte sogar eine Weile hin, halb gelähmt vor Langeweile. Am anderen Tisch saß eine Gruppe von Einheimischen. Sie waren zwar nicht Marseiller, doch Festgesetzte, die hier ganz gut von der Furcht und der Abfahrtswut der Neuankömmlinge lebten. Sie erzählten sich lachend von einem Schiffchen, das zwei junge Ehepaare, die Männer waren gemeinsam aus dem Lager geflohen, für höllisch viel Geld gemietet hatten. Doch die Verkäufer hatten sie betrogen, das Schiffchen hatte ein Leck. Sie kamen bis an die spanische Küste. Da mußten sie wieder zurück. Sie fuhren noch in die Rhonemündung hinein, da wurden sie von der Küstenwache beschossen und bei der Landung gestellt. Ich hatte diese Geschichte auch schon hundertmal erzählen hören. Neu war mir nur der Schluß: Die Männer waren gestern zu zwei Jahren Bagno verurteilt worden. – Der Teil des Cafés, in dem wir saßen, stieß an die Cannebière. Ich konnte von meinem Platz aus den Alten Hafen übersehen. Ein kleines Kanonenboot lag vor dem Quai des Belges. Die grauen Schornsteine standen hinter der Straße zwischen den dürren Masten der Fischerboote über den Köpfen der Menschen, die den Mont Vertoux mit Rauch und Geschwätz erfüllten. Die Nachmittagssonne stand über dem Fort. Hatte der Mistral wieder begonnen? Die vorübergehenden Frauen hatten ihre Kapuzen hochgezogen. Die Gesichter der Menschen, die durch die Drehtür hereinkamen, waren gespannt von Wind und von Unrast. Kein Mensch bekümmerte sich um die Sonne über dem Meer, um die Zinnen der Kirche Saint-Victor, um die Netze, die auf der ganzen Länge des Hafendamms zum Trocknen lagen. Sie schwatzten alle unaufhörlich von ihren Transits, von ihren abgelaufenen Pässen, von Dreimeilenzone und Dollarkursen, von Visa de sortie und immer wieder von Transit. Ich wollte aufstehen und fortgehen. Ich ekelte mich. – Da schlug meine Stimmung um. Wodurch? Ich weiß nie, wodurch bei mir dieser Umschlag kommt. Auf einmal fand ich all das Geschwätz nicht mehr ekelhaft, sondern großartig. Es war uraltes Hafengeschwätz, so alt wie der Alte Hafen selbst und noch älter. Wunderbarer, uralter Hafentratsch, der nie verstummt ist, solange es ein Mittelländisches Meer gegeben hat, phönizischer Klatsch und kretischer, griechischer Tratsch und römischer, niemals waren die Tratscher alle geworden, die bange waren um ihre Schiffsplätze und um ihre Gelder, auf der Flucht vor allen wirklichen und eingebildeten Schrecken der Erde. Mütter, die ihre Kinder, Kinder, die ihre Mütter verloren hatten. Reste aufgeriebener Armeen, geflohene Sklaven, aus allen Ländern verjagte Menschenhaufen, die schließlich am Meer ankamen, wo sie sich auf die Schiffe warfen, um neue Länder zu entdecken, aus denen sie wieder verjagt wurden; immer alle auf der Flucht vor dem Tod, in den Tod. Hier mußten immer Schiffe vor Anker gelegen haben, genau an dieser Stelle, weil hier Europa zu Ende war und das Meer hier einzahnte, immer hatte an dieser Stelle eine Herberge gestanden, weil hier eine Straße auf die Einzahnung mündete. Ich fühlte mich uralt, jahrtausendealt, weil ich alles schon einmal erlebt hatte, und ich fühlte mich blutjung, begierig auf alles, was jetzt noch kam, ich fühlte mich unsterblich. Doch dieses Gefühl schlug abermals um, es war zu stark für mich Schwachen. Verzweiflung überkam mich, Verzweiflung und Heimweh. Mich jammerten meine siebenundzwanzig vertanen, in fremde Länder verschütteten Jahre.

Am Nebentisch erzählte jetzt jemand von einem Dampfer namens »Alesia«, der, unterwegs nach Brasilien, von den Engländern in Dakar gestoppt worden war, weil er französische Offiziere an Bord gehabt hatte. Jetzt endeten alle Passagiere in einem afrikanischen Lager. Wie munter war der Berichterstatter! Wahrscheinlich weil diese Leute nicht ankamen, so wenig wie er selbst. Ich hatte auch diese Geschichte bereits unzählige Male anhören müssen. Ich sehnte mich nach einem einfachen Lied, nach Vögeln und Blumen, ich sehnte mich nach der Stimme der Mutter, die mich gescholten hatte, als ich ein Knabe gewesen war. O tödliches Getratsche! Die Sonne verschwand jetzt hinter dem Fort Saint-Nicolas.

Es war sechs Uhr nachmittags. Ich sah gleichgültig über die Leute weg auf die Tür. Sie drehte sich wieder auf. Eine Frau kam herein. Was soll ich Ihnen darüber sagen? Ich kann nur sagen: sie kam herein. Der Mann, der sich das Leben nahm in der Rue de Vaugirard, hat es anders ausdrücken können. Ich kann nur sagen: sie kam herein. Sie werden von mir auch keine Beschreibung verlangen. Ich hätte übrigens an diesem Abend nicht sagen können, ob sie blond oder dunkel gewesen war, eine Frau oder ein Mädchen. Sie kam herein. Sie blieb gleich stehen und sah sich um. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von angespannter Erwartung, fast von Furcht. Als hoffe und fürchte sie, jemand an diesem Ort zu finden. Was für Gedanken sie auch bewegen mochten, mit Visen hatten sie nichts zu tun. Sie ging zuerst quer durch den Teil des Raumes, den ich selbst überblicken konnte, der an den Quai des Belges stieß. Ich sah noch den spitzen Zipfel ihrer Kapuze gegen das große, jetzt graue Fenster. Ich wurde von Angst ergriffen, sie könne nie mehr zurückkommen, es gebe dort in dem anderen Teil des Raumes eine Tür, die ins Freie führe, sie könne nur einfach hindurchgegangen sein. Sie kam aber gleich drauf wieder zurück. Der Ausdruck von Erwartung in ihrem jungen Gesicht ging bereits in Enttäuschung über.

Bisher, wenn eine Frau an den Ort kam, wo ich war, eine Frau, die mir wohl gefallen konnte, doch nicht zu mir kam, dann ist es mir immer gelungen, festzustellen, daß ich sie dem gönnte, dem sie gefiel, daß mir nichts Unersetzliches abging. Die Frau, die eben an mir vorbeiging, gönnte ich niemand. Es war für mich furchtbar, daß sie hereingekommen war, aber nicht zu mir, es gab nur etwas, was ebenso furchtbar hätte sein können: wenn sie nicht hereingekommen wäre. Sie sah sich jetzt noch einmal genau in dem Teil des Raumes um, in dem ich selbst saß. Sie suchte alle Gesichter ab, alle Plätze, wie Kinder suchen, zugleich gründlich und ungeschickt. Wer war der Mensch, nach dem sie verzweifelt suchte? Wer war imstande, so stark erwartet zu werden, so bitter zu enttäuschen? Ich hätte den Mann, der gar nicht vorhanden war, mit Faustschlägen bearbeiten mögen. – Zuletzt entdeckte sie unsere drei etwas abseitigen Tische. Sie sah sich die Menschen an diesen drei Tischen aufmerksam an. So töricht es war, ich hatte einen Augenblick die Empfindung, ich selbst sei der, den sie suchte. Sie sah mich auch an, aber leer. Ich war der letzte, den sie ansah. Sie ging jetzt wirklich hinaus. Ich sah noch einmal ihre spitze Kapuze draußen vor dem Fenster.


nach oben



[3]

Auf der Suche nach der Frau (Marie) gerät der Erzähler in eine Marseiller Kirche. (S. 91 ff.)


Ich trat auf die Straße. Die Frau schien bereits in der Menge verschwunden. Ich lief die Cannebière hinauf und hinunter. Ich stieß in die Menschen, ich störte sie auf in ihrem Abfahrtsgetratsch, in ihren Konsulatsprozessionen. Ich sah die hohe spitze Kapuze weit von mir entfernt am Ende der Cannebière. Ich lief ihr nach, sie verschwand auf dem Quai des Belges. Ich folgte ihr auf den Quai die Treppen hinauf, durch die kahlen, langen Straßen bis zur Kirche Saint-Victor. Da blieb sie stehen im Tor der Kirche bei den Kerzenhändlerinnen. Ich sah jetzt, daß sie gar nicht die Frau war, die ich suchte, sondern ein fremdes häßliches Weib mit verschrumpelten geizigen Zügen. Ich hörte auch, daß sie sogar um die Kerzen feilschte, die für ihr Seelenheil brennen sollten.

Ich setzte mich, als ein Regen anbrauste, auf die nächste Kirchenbank. Ich weiß nicht, wie lange ich da sitzen blieb, den Kopf in den Händen. So war ich denn wieder einmal am Rand angelangt, am Rand meiner Unternehmungen. Trotzdem trieb ich das alte Spiel immer weiter, selbst auf dem Rand. Mir fiel auch ein, daß ich heute morgen Heinz hätte treffen sollen. Doch längst war die Stunde verpaßt und mit der Stunde, so kam es mir vor, das Beste, was mir bestimmt war. Wie kalt es hier war! Nicht nur in der Kirche SaintVictor, auch in dem halboffenen Tor war tiefe Regendämmerung. Der Mistral knickte sogar hier drinnen die Kerzenflämmchen auf den Altaren. Wie leer war das mächtige Kirchenschiff, und doch kamen immer neue Menschen von außen, wohin verschwanden sie nur? Ich hör te einen schwachen Gesang, von dem ich nicht wußte, woher er kam, denn die Kirche blieb leer. Die Kirchgänger wurden von einer Mauer verschluckt. Ich folgte ihnen die Treppe hinunter in die Erde, die an dieser Stelle Fels war. Je tiefer wir kamen, desto deutlicher wurde auch der Gesang. Schon fiel aus der Krypta das flackrige Licht auf die Stufen. Wir mußten jetzt unter der Stadt sein, ja, wie mir deuchte, unter dem Meer.

Dort hielten sie ihre Messe. Verwitterte Kapitäle uralter Säulen verwandelten sich in dem dünnen Geriesel aus Rauch in die Fratzen der heiligen Tiere. Der uralte Priester trug einen weißen Bart und eine kostbar bestickte, weiße Stola. Er glich einem jener ewig uralten Priester, die in der heiligen Handlung betroffen werden, wenn ihre unheilige Stadt auf den Meeresgrund sinken muß, weil sie die Drohungen dessen verachtet hat, der diesen Felsen gründete. In ewiger bleicher Jugend, die nie heranreifen darf, trugen Chorknaben singend ihre Kerzen um die Säulen herum. Das dünne Geriesel vor unseren Gesichtern wurde zu zittrigem Wellenschlag. Gewiß, das Meer rauschte über uns. Auf einmal war der Gesang zu Ende. Mit jener gleichzeitig schwachen und harten Stimme, die Greisen eigen ist, begann der Priester uns zu beschimpfen wegen unserer Feigheit und unserer Verlogenheit und unserer Todesangst.

Auch heute kamen wir nur hierher, weil dieser Ort uns sicher dünke. Doch warum ist dieser Ort denn sicher? Warum hat er denn die Zeit überstanden, die Kriegszüge von zwei Jahrtausenden? Weil der, der um das Mittelmeer in viele Felsen sein Haus schlug, die Furcht nicht gekannt hatte.

»Ich bin dreimal gestäupt, einmal gesteinigt, dreimal hab ich Schiffbruch erlitten, Tag und Nacht zugebracht in der Tiefe des Meeres, ich bin in Gefahr gewesen durch Flüsse, Gefahr durch Mörder, Gefahr unter Juden, Gefahr unter Heiden, Gefahr in den Städten, Gefahr in der Wüste, Gefahr auf dem Meere, Gefahr unter falschen Brüdern.«

Die Adern traten dem Greis aus der Stirn, seine Stimme erlosch. Die Kirche schien immer tiefer zu sinken, und furchtsam und zitternd vor Scham und Angst horchten die Menschen gleichsam auf das erbitterte Schweigen des Greises. Da fing der Gesang der Knaben an in seiner unerträglichen Engelsreinheit, sinnlose Hoffnung in uns erweckend, solange der Ton verschwebte. Und dumpf und Reue erweckend erwiderte ihm ein furchtbarer Ton aus der tiefen Brust des Greises.

Ich rang nach Atem. Ich wollte nicht auf dem Meeresgrund klebenbleiben, ich wollte dort oben zugrunde gehen mit meinesgleichen. Ich stahl mich hinauf. Die Luft war kalt und klar. Die Sintflut hatte aufgehört. Der Mistral hatte ausgeblasen. Die Sterne glänzten schon in den Zinnen des Forts Saint-Nicolas, das der Kirche Saint-Victor gegenüberliegt.


nach oben



[4]

Marie war in Marseille mit einem Arzt zusammen, um mit ihm Frankreich per Schiff zu verlassen. Er fährt ab, sie bleibt zurück, beim Erzähler. (S. 166 ff.)


Da lag sie in einer Ecke des Zimmers, als sei sie mir zugefallen als Beute in irgendeinem Kriegszug. Ich glaube, ich schämte mich damals sogar, daß sie mir allzu leicht zugefallen war, durch Würfel, nicht durch Zweikampf. Sie hatte den Kopf auf den Knien liegen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Doch merkte ich an dem einzelnen schrägen Blick, den sie mir quer durch das Zimmer zuwarf zwischen zwei Fingern, daß sie wohl wußte, was ihr bevorstand: noch einmal, was auch sonst, die Liebe.

Gewiß, ich werde sie jetzt gewähren lassen, sich auszutrauern nach Herzenslust. Dann mußte sie ihre Siebensachen zusammenpacken und unter mein eigenes Dach ziehen. Es war gewiß etwas kühn, das Hotel de la Providence »mein eigenes Dach« zu nennen. Ich würde ihr keinen Garten pflanzen können, doch unser beider Papiere würde ich hegen und pflegen, daß kein Polizist uns je etwas anhaben könnte. Wir könnten vielleicht auch später von Marseille wegziehen auf Marcels Farm.

So dachte ich damals. Doch muß ich wahrheitsgemäß hinzufügen, daß ich nicht weiß, was sie damals selbst dachte. Ich sprach sie nicht an und fragte sie nichts, und ich berührte auch nicht ihr Haar, das einzige, wozu ich im Augenblick Lust hatte. Ich wollte sie weder allein lassen noch mit Trost behelligen. Ich drehte mich weg von ihr und sah auf die Straße hinunter. In dieser Stunde gab es in der Rue du Relais schlechterdings nichts zu sehen. Man sah von diesem Fenster aus nicht einmal das Straßenpflaster. Ich hätte mir einbilden können, in einen Abgrund hinunterzusehen, wenn ich nicht gewußt hätte, daß das Zimmer im dritten Stock lag. Mir war beklommen. Als ich mich tiefer hinausbückte, um zu atmen, sah ich rechts unten über den Dächern gegen den hellgrauen Morgenhimmel die feinen Eisenstäbe über dem Alten Hafen. Wir werden oft diese Fähre nehmen, dachte ich damals, um auf der anderen Seite in der Sonne zu sitzen. Vielleicht in Jardin des Plantes. Wir werden abends die Binnets besuchen. Ich werde im korsischen Viertel herumlaufen, ob ich ein Stück Wurst ohne Karten finde, das sie gern ißt. Sie wird frühmorgens um eine Sardinenbüchse anstehen. Wir werden, wie es Claudine macht, aus unserer Kaffeeration die echten Bohnen herauslesen, damit wir sonntags einen Kaffee haben. Vielleicht wird mir Georg eine Halbtagsarbeit finden. Wenn ich heimkomme, wird sie am Fenster stehen. Wir werden manchmal zusammen Pizza essen und Rose trinken. Sie wird in meinem Arm einschlafen und aufwachen. Das wird alles sein, dachte ich damals. Alle diese dürftigen Posten ergeben zusammen eine gewaltige Summe: das gemeinsame Leben. Nie zuvor hab ich mir etwas Ähnliches gewünscht, ich Wegelagerer. Jetzt aber, in dem Erdbeben, in dem Geheul der Fliegersirenen, in dem Gejammer der flüchtenden Herden, wünschte ich mir das gewöhnliche Leben herbei wie Brot und Wasser. Jedenfalls würde die Frau bei mir Frieden finden. Ich würde darauf achtgeben, daß sie nie mehr einem Burschen wie mir als Beute in die Hände fiel.

Es war inzwischen Tag geworden. In der Müllabfuhr, am Ende der Gasse, klapperten sie mit den Eimern. Die Schleusen wurden geöffnet. Ein scharfer Strahl Wasser schoß durch die Gasse und spülte den gestrigen Dreck in eine tiefer gelegene Gasse. Auf dem gegenüberliegenden Dach lag schon die Sonne. Ein Auto fuhr vor, der erste Morgengast für das Hotel Aumage.

Ich erkannte sofort zwei von den Koffern: den, den ich selbst verschnürt hatte, und den mit den Vorlegeschlössern. Der Arzt stieg aus und gab seine Anweisungen. Er kam nicht nur mit dem Gepäck, das im Hotel gewesen war, sondern auch mit dem großen Koffer, den er bereits vor zwei Tagen auf die Transports Maritimes gebracht hatte. Ich sagte: »Dein Freund ist wieder zurück.« Sie hob den Kopf, sie hörte jetzt selbst seine Stimme, das Gepolter auf der Treppe. Sie sprang auf. Ich hatte sie niemals vorher so schön gesehen. Der Arzt trat ein, er gab gar nicht acht auf Marie, die heiter, mit leisem Spott in den Zügen, an der Wand lehnte. Er war bleich vor Zorn und erzählte: »Wir waren schon alle im Hangar. Die Hälfte von uns hatte schon die letzte Polizeikontrolle passiert. Da hieß es plötzlich, die Militärkommission habe alle Kabinen für die Offiziere beschlagnahmt, die nach Martinique abgehen. Man lud unser Gepäck wieder aus. Da bin ich.« Er lief herum und stöhnte: »Wieviel Mühe hab ich verwandt, um eine Kabine zu bekommen, wieviel Ausgaben. Nur mit einer vorausbezahlten Kabine, glaubte ich, sei ich sicher, niemand könne mir mehr etwas anhaben. Jetzt hat die französische Militärkommission die Kabinen beschlagnahmt, und die Leute im Zwischendeck läßt sie fahren. Diese Leute werden vielleicht ankommen. Werden schon angekommen sein, während ich noch hier im Hotel Aumage sitze. Narren werden ankommen, ich aber kann hier verrecken.« Während er in diesem Tonfall fortfuhr, hingen Mariens Augen an ihm. Ich hörte ihn hinter der Tür weiterfluchen, ich fluchte auf der Treppe.


nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken