Leseprobe aus: Jorge Semprún, Was für ein schöner Sonntag!



Lizenzausgabe für Süddeutsche Zeitung Bibliothek 2004, S. 356 ff.



Semprun besucht 1960 Prag in seiner Funktion als Mitglied des Zentralkomitees der spanischen KP. In der Nationalgalerie im Palais Sternberk steht er vor einem Werk Renoirs, das in ihm plötzlich eine Kaskade der Erinnerungen auslöst: Buchenwald 1944, Madrid 1956 und 1934, schließlich – anlässlich der kürzlich erfolgten Veröffentlichung des Geheimberichts von Chruschtschow über die Verbrechen Stalins – erinnert er sich an den Schluss der Rede Chruschtschows aus dem Jahr 1939:


»Es lebe das größte Genie der Menschheit, der Herr und Gebieter, der uns siegreich zum Kommunismus geführt hat, unser lieber Stalin!«

Sie erinnerten sich sicherlich an den lieben Stalin. Sie zitterten immer noch, rückblickend, vor ehrerbietigem und furchtsamem Grauen.

Aber ich bin in Prag, in der Nationalgalerie, vor einem Bild von Renoir.

Warum bin ich in Prag?

Vielleicht ganz einfach nur darum, um vor einem Bild von Renoir zu stehen. Vielleicht habe ich alle anderen Gründe und Voraussetzungen für diese Reise nach Prag eben deshalb vergessen, weil das einzig Wichtige diese Betrachtung eines Bildes von Renoir war. Natürlich nicht nur wegen Renoir. Vielleicht hätte ein Bild von Vermeer oder von Velasquez oder von El Greco genau das gleiche bewirkt. Ich meine damit, daß das Wichtige nicht nur das betrachtete Bild war, sondern auch die Tatsache der Betrachtung selbst. Vielleicht die Tat der Betrachtung selbst.

Aber ich hin in Prag, in der Nationalgalerie im Palais Sternberk. Ich bin nicht in Toledo, in der Iglesia de Santo Tomé vor dem Begräbnis des Grafen Orgáz. Auch nicht im Prado vor den „Meninas“. Noch im Mauritshuis vor der Ansicht von Delft: jenen Bildern, um die herum die Rekonstruktion meines Lebens möglich sein sollte.

Denn mein Leben gleicht keinem Fluß, vor allem keinem immer anderen, niemals gleichen Fluß, in dem man nicht zweimal baden könnte: mein Leben ist die gesamte Zeit des Bereits-Gesehenen, des Bereits-Erlebten, der Wiederholung, des Gleichen bis zum Überdruss, bis es durch das Identische etwas anderes, etwas Fremdes wird. Mein Leben ist kein zeitliches Fließen, keine fließende Dauerhaftigkeit, sondern etwas Strukturiertes oder schlimmer noch: etwas sich Strukturierendes, eine sich selbst strukturierende Struktur. Mein Leben ist unentwegt destrukturiert, ständig im Begriff, sich zu destrukturieren, sich zu verflüchtigen, in Rauch aufzugehen. Es ist eine Folge von Unbeweglichkeiten, von Momentaufnahmen, eine unzusammenhängende Aneinanderreihung vergänglicher Augenblicke, bloß vorübergehend in einer endlosen Nacht flimmernder Bilder. Nur eine übermenschliche Anstrengung, eine völlig unvernünftige Hoffnung halten diese verstreuten Kienspäne und Strohfackeln zusammen, erwecken wenigstens den Anschein, all das zusammenzuhalten. Das Leben als Fluß, als Fließen ist eine romanhafte Erfindung. Eine erzählerische Beschwörung, ein Trick des Ego, um an sein ewiges, zeitloses Dasein glauben zu lassen – sogar in der perversen oder pervertierten Form der Zeit, die verfließt, verlorengeht und wiedergefunden wird – und um sich selbst davon zu überzeugen, indem man sein eigener Biograph, der Romancier seiner selbst wird. Mein Leben ist nichts anderes als dieses Bild von Renoir, mein Blick auf dieses Bild.

Aber wir sind nicht mehr im Herbst 1960, am übernächsten Tag, nachdem ich mit Fernand Barizon über den XX. Parteitag der KPdSU gesprochen hatte. Mit nichtssagender Miene, als wäre nichts vorgefallen, als wäre die Zeit nicht vergangen, nicht verflossen wie das Wasser eines Flusses, so stand ich da, erstarrt in einer anderen beschaulichen Unbeweglichkeit: der gleichen. Ein anderes Ich, das gleiche Ich. Ein anderes Bild, das gleiche Bild. Die gleiche Erinnerung an Josef Frank eines Sonntags in Buchenwald.

Wir sind im Jahre 1969, Anfang April.

Gestern hatte ich Jiri Zak wiedergetroffen.

Die Sonne streifte seitlich die Fensterscheiben des Zimmers, in dem wir uns befanden, aber sie kündigte noch keinen Frühling an. Jan Pallach hatte sich selbst verbrannt, und einige Tage danach sollte Alexander Dubcek von der wenigen Macht, die er noch besaß, ausgeschlossen werden. Die Normalisierung konnte beginnen: die Wiedereinführung des Richtigen Denkens, der Zwangsarbeit, der bürokratischen Korrektur. Sicherlich wußten wir, daß es in diesem Jahr noch nicht Frühling werden sollte, trotz jener schrägen Sonne, die schöne Tage anzukündigen schien.

Ich betrachtete Jiri Zak, der inzwischen weiße Haare hatte. Ich betrachtete die Frau in den Sechzigern, die ihn begleitete und die Josef Franks Witwe war.

Ich war an diesem Frühlingsanfang 1969 mit Costa Gavras nach Prag gekommen, der immer noch die Möglichkeit ins Auge faßte, L'Aveu an den Orten zu drehen, an denen sich die Ereignisse abgespielt hatten. Und dann hatte ich, da ich wußte, daß ich nie mehr nach Prag zurückkehren wurde, all die Lieblingsorte meiner Erinnerung an Prag ausgiebig besucht. Morgen wollte ich, kurz bevor ich wieder abflog, zur Nationalgalerie gehen, um ein letztes Mal jenes Bild von Renoir zu betrachten, mit dem mein Leben eng verbunden war.

Aber ich betrachtete Jiri Zak und Josef Franks Witwe. Da habe ich in der Stille, die sich auf uns senkte, so wie die Nacht sich senkt, so wie man die Arme senkt, in jener Stille, nachdem wir nochmals Erinnerungen heraufbeschworen, Fotos ausgetauscht hatten, plötzlich ganz scharf jenes Bild in meinem Gedächtnis wiedergefunden: Josef Frank drehte sich im Büro der Arbeitsstatistik um, sicherlich um festzustellen, wem Jiri gerade freundschaftlich zugewinkt hatte, erblickte mich, machte mir seinerseits ein Zeichen des Einverständnisses, schenkte mir ein kurzes, gleich wieder verschwundenes Lächeln. Hinter ihm, hinter seinem mir halb zugewandten Gesicht sah ich die Dezembersonne, die die Fensterscheiben auf der anderen Seite der Baracke aufleuchten ließ.

Ich sah auch den viereckigen Schornstein des Krematoriums.

In diesem Augenblick pflanzte sich Willi Seifert mitten unter uns auf.

»Hört zu, ihr Burschen!« sagte er theatralisch. »Seid alle heute abend um sechs Uhr hier! Ich habe ein Hunderagout organisiert, es reicht für alle!«

Ein Stimmengewirr der Zustimmung und Zufriedenheit erhob sich.

Seiferts Blick fiel auf Jiri Zak.

»Du gehörst zwar nicht zu uns. Aber du kannst trotzdem kommen. Du bist eingeladen.«

Jiri schüttelte den Kopf. »Ich mag kein Hundefleisch«, sagte er.

»Hast du es denn schon mal probiert«, fragte Seifert.

Jiri schüttelte nochmals den Kopf.

»Mir gefällt der Gedanke an Hundefleisch nicht«, sagte er schroff.

Auch Zamjatin gefiel der Gedanke an Hundefleisch nicht. Ich spreche nicht von Jewgenij Zamjatin, den im Pariser Exil verstorbenen Schriftsteller. Ich spreche von einem anderen Zamjatin, von dem nach Kolyma deportierten orthodoxen Geistlichen.

Oder genauer, Warlam Schalamow spricht in Kolyma – Insel im Archipel von ihm. Jedenfalls ißt der Pope Zamjatin die Reste des Hunderagouts, das die Privilegierten der Baracke »organisiert« haben. Und als er sich daran gütlich getan hat, eröffnet Semjon, der Landstreicher, dem Popen, daß er kein Hammelfleisch gegessen hat, wie er geglaubt hatte, sondern Hundefleisch. Und der Pope Zamjatin kotzte in den Schnee. Ihm gefiel der Gedanke an Hundefleisch ebensowenig wie Jiri Zak. Das Hundefleisch hatte ihm gut geschmeckt. Er hatte gefunden, daß sein Geschmack dem von Hammelfleisch gleichwertig war. Der Gedanke an Hundefleisch ließ ihn kotzen.

Doch Willi Seifert lacht.

»Es ist nicht der Gedanke an Hundefleisch, den man ißt, sondern das Fleisch selbst! Und Hundefleisch schmeckt wie geschmortes Rindfleisch!«

Ich muß sagen, daß ich eher Seiferts als Semjons, des Landstreichers aus Kolyma, Meinung bin. Hundefleisch hatte, zumindest als Ragout mit Gemüse und einer dicken Sauce, wie wir es an jenem Sonntag in der Arbeitsstatistik gegessen hatten, eher den Geschmack von geschmortem Rindfleisch als den von Hammelfleisch.

»Um so schlimmer«, entgegnet Jiri Zak mit leiser Dickköpfigkeit. »Mir gefällt der Gedanke an Hundefleisch nicht!«

In diesem Augenblick, in dem Augenblick, in dem sich der Mittagsappell seinem Ende nähert, in dem die Musikanten des Lagerorchesters gleich wieder die Trompeten, Klarinetten und Tuben an den Mund setzen werden, weiß ich natürlich nicht, daß Léon Blum gerade dabei ist, einen Kommentar über die platonische Idee der Gleichheit zu schreiben. Ich weiß nicht, was Blum über den Gedanken an Hundefleisch sagen wurde, ich weiß nicht, was er in diesem Augenblick über die Idee der Gleichheit sagt. Übrigens würde ich, selbst wenn ich es wüßte, mir nichts daraus machen. 1944 interessiere ich mich nicht besonders für Platos politische Ideen. Erst zehn Jahr später bin ich gezwungen worden, mich auf eine ganz eigentümliche Art für Plato zu interessieren. Plato gleicht ein wenig dem Fußball, er hat mich, wenn ich meine Erinnerungen an die Philosophievorlesungen beiseite lasse, zu der politischen Praxis der Illegalität geführt. In der Mitte der fünfziger Jahre habe ich in Madrid tatsächlich die Lektüre von Plato wiederaufnehmen müssen. Ich muß gestehen, daß ich darauf nicht vorbereitet war. Ich hatte mich sorgfältig darauf vorbereitet, über die Thesen von Wetter oder Calvez oder Bochenski, über die der Jesuiten und Katholiken, über den historischen Materialismus zu diskutieren. Ich war darauf vorbereitet, stundenlang über die süßliche Version des Thomismus zu diskutieren, den die traditionalistischen Philosophen in Spanien verbreiteten. Ich war darauf vorbereitet, Punkt für Punkt die Ansichten von Ortega y Gasset zu widerlegen, dessen Denken seinen Standpunkt an der Kreuzung der Marburger Schule und des empirischen Kritizismus hatte. Aber ich hatte nicht gedacht, daß ich mich in meinen Diskussionen mit den von der antifranquistischen Aktion angezogenen, aber – wie sehr zu Recht!, sage ich heute – gegenüber Politzer mißtrauischen Madrider Akademikern, sei es nun in seiner ursprünglichen oder der von Besse und anderen angereicherten Version, ein Handbuch, das damals für sie die Hauptinformationsquelle über den Marxismus war, daß ich mich zumindest indirekt mit Plato auseinandersetzen müßte. Tatsächlich, man wird es erraten, mußte ich mich nicht direkt mit Plato auseinandersetzen, sondern mit den Ansichten von Karl Popper über Plato. The Open Society, das Buch, das Popper etwa zu dem Zeitpunkt beendete, als Blum Faguet in Buchenwald las und sich für das politische Denken Platos begeisterte, den er, zumindest was die Frage der Gleichheit betrifft, als Revolutionär einstufte. The Open Society and its Enemies war also schon um 1954-1955 ins Spanische übersetzt worden, und der Essay Poppers löste unter den fortschrittlichen Akademikern Verheerungen aus. Ich habe mich also an das Studium von Popper und Plato machen müssen (bei Hegel und Marx war das, Gott sei Dank, schon geschehen! Ich hatte sogar einen kleinen Vorsprung, da ich die Grundrisse von Marx 1953 in einer Ostberliner Ausgabe gefunden hatte).

So wohnte ich mit recht sarkastischem Erstaunen, zwei Jahrzehnte nach meinen praktischen Madrider Übungen, der typisch pariserischen neuen Diskussion über die Meisterdenker bei, in deren Verlauf alle so taten, als wußten sie nicht, daß Popper, inzwischen Sir Karl Popper, schon vor langem diesen Weg geebnet und die Rabatten dieser Neuheit ausgetreten hatte.

Aber ich bin 1944 in Buchenwald und ich weiß noch nichts von Karl Popper. Hatte ich über Blums Ansichten über die Gleichheit nach Plato diskutiert, so hätte ich mich wohl an dem als Kritik am Gothaer Programm bekannten Text von Marx gehalten, an einen Text, den ich mit Michel Herr gelesen und durchgearbeitet habe und der mir die Elemente für eine Kritik an der utopischen Vorstellung einer sozialen Gleichheit zu liefern schien, die das gerechte Verhältnis zwischen den natürlichen Ungleichheiten wiederherstellen sollte.

Augenblicklich denke ich jedenfalls nicht an die Vorstellung von der Gleichheit. Ich denke an die Vorstellung von Hundefleisch. Ich muß gestehen, mir gefällt die Vorstellung von Hundefleisch. Mir gefällt die Vorstellung von diesem Hunderagout, das Seifert für heute abend »organisiert« hat. Ich sage mir, einen berühmten Geistesblitz von Engels parodierend, daß der Beweis für das Hundefleisch der ist, daß man es ißt! Ich habe Lust, diese tröstliche Wahrheit herauszuschreien.

Da erschallt, als gälte es diese optimistische Schlußfolgerung der praktischen Philosophie zu unterstreichen, die Stimme des Rapportführers im Lautsprecher, um das Ende des Appells zu verkünden: »Das Ganze, Stand!« »Das Ganze« ist ein Hegelsches Wort. Vielleicht ist es die Stimme des Absoluten Geistes, die in der Leitung der Lagerlautsprecher erklingt. Die Stimme des Ganzen, die zu uns spricht, die uns in der Leichenstarre des Strammstehens, in der totalitären Starrheit des im blassen Dezemberhimmel, an dem der Rauch der Verbrennungsanlage schwebt, verlorenen Blicks totalisiert. »Das Ganze, Stand!« brüllt der Absolute Geist auf dem Platz.

Aber man soll nicht allzu sehr Notiz von meinen sonntäglichen Hirngespinsten nehmen. Der Gedanke an das Hundefleisch hat mich abschweifen lassen. Ich meine damit: der Gedanke an das Hunderagout. Was für ein Tag, Kumpel! Was für ein schöner Sonntag, würde Barizon sagen! Erst der Gedanke an die Nudelsuppe, die man uns gleich austeilen wird, und dann der Gedanke an das Hunderagout um sechs Uhr. Gedanken wie diese lenken die Welt, daran ist nicht zu zweifeln.




nach oben


         
         
         
         
     
Ausdrucken