Leseproben aus: Martin Suter, Lila, Lila



S. 21 ff., 97 ff., 160 ff.



[1] David verdient sich seinen Lebensunterhalt als Kellner im "Esquina" (S. 21 ff.)

[2] Das gestohlene Manuskript, das vorerst noch seinen Originaltitel "Sophie, Sophie" trägt, hat ungewollt das Lektorat eines Frankfurter Verlags erreicht – und die Lektorin Karin Kohler überzeugt. (S. 97 ff.)

[3] Karin Kohler liest eine Rezension über "Lila, Lila", wie der Roman nun heißt (S. 160 ff.)






[1]

David verdient sich seinen Lebensunterhalt als Kellner im "Esquina" (S. 21 ff.)


Es war ein Abend wie die meisten in diesem Dezember. Das Esquina war voller Leute, die ihre Firmenweihnachtsessen ausklingen ließen. Oder die nach den Weihnachtseinkäufen hängengeblieben waren und noch ihre Tragetaschen dabeihatten. Oder die den Rummel zu ignorieren und den Normalzustand vorzutäuschen versuchten. Es herrschte eine Mischung aus Torschlußpanik, Resignation, Vorfreude und Schwermut.

David hatte wie meistens in letzter Zeit den Sektor C. Das hieß, die Sessel und Lounge Tables, die zur großen Bar gehörten. Er mochte diese Zuteilung, denn im C befand sich der Stammplatz einiger Gäste, mit denen er auch privat Kontakt hatte.

Der Kopf der Gruppe war Ralph Grand, Schriftsteller. Jedenfalls war das der Beruf, den er angab, wenn man ihn danach fragte. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit Übersetzungen technischer Texte aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche. Diese Tätigkeit erlaubte es ihm, regelmäßig im Esquina zu erscheinen und lange zu bleiben. Wann er neben seinen Übersetzungen und seinem Nachtleben noch Zeit für den großen Roman fand, an dem er seit Jahren arbeitete, wurde, wenigstens in Ralphs Gegenwart, nie erörtert.

Ralph war ein sehr unterhaltsamer Gesellschafter mit einem großen literarischen Wissen, mit dem er manchmal etwas zu sehr auftrumpfte. Eine seiner weniger angenehmen Eigenschaften.

Stets an seiner Seite war Sergio Frei. Sergio war Künstler und besaß ein Atelier in einem Industriegebäude ganz in der Nähe. Wovon er lebte, das war niemandem so ganz klar, denn seine Bilder – riesige, mit groben Pinselstrichen überarbeitete Fotodrucke, die man schon irgendwo gesehen zu haben glaubte – wurden selten in Ausstellungen gezeigt und fast nie verkauft. Am glaubwürdigsten war das Gerücht, daß sein Vater, der bei einem Wildwasserfahrerkurs tödlich verunglückt war, etwas Vermögen besessen hatte.

Silvie Alder trat allein auf. Sie hatte vor kurzer Zeit ihre Ausbildung als Zeichenlehrerin abgeschlossen und sofort eine Stelle an der gleichen Gewerbeschule bekommen. Silvie war sehr klein und zierlich und sah aus wie die junge Edith Piaf, was sie durch gezupfte Augenbrauen und blutroten Lippenstift noch unterstrich.

Auch Roger Bertoli und Rolli Meier traten gemeinsam auf. Roger war Texter in einer Werbeagentur und bewunderte Ralph Grand für seine Belesenheit. Rolli war bis vor kurzem AD, Art Director, in der gleichen Agentur gewesen und hatte jetzt unter dem etwas weit hergeholten Namen ADhoc – er stammte von Roger Bertoli – eine Einmannfirma eröffnet. Deren Tätigkeit bestand darin, ihn selbst bei Personalengpässen an Werbeagenturen auszuleihen. Da die Wirtschaftslage für Personalengpässe schlecht war, sah sich Rolli gezwungen, mit technischen Illustrationen, die ihm Ralph Grand vermittelte, ein Zubrot zu verdienen.

Etwas sporadischer stieß Sandra Schär dazu. Sie war als Flight Attendant manchmal tagelang außer Landes. Sie war eine große blonde Frau, glamorous, wie man sich früher eine Stewardess vorstellte. In ihrem Gefolge befanden sich immer Kelly Stauffer und Bob Jäger. Kelly, ein hagerer, kahlgeschorener, schwarz gekleideter Architekt und sein Lebenspartner Bob, ein muskulöser, kahlgeschorener, schwarz gekleideter Fernsehkameramann.

An diesem Abend waren sie alle da. Sie saßen in ihrer abgewetzten Sitzgruppe vor den üblichen Getränken – ein Glas Rioja für Ralph, Bier für Sergio und Rolli, Cava für Silvie und Kelly, Mojito für Roger, Gin Tonic für Sandra und ein alkoholfreies Bier für Bob.

David kannte die Bestellungen auswendig und würde sie ungefragt bringen, hätte er damit nicht einmal schlechte Erfahrungen gemacht:

Er hatte Ralph, kaum hatte er sich gesetzt, seinen Rioja gebracht. »Ich habe keinen Rioja bestellt«, hatte der gesagt.

»Entschuldige. Ich dachte, weil du immer einen Rioja bestellst. Was möchtest du denn?«

»Einen Rioja.«

David grinste und stellte das Glas vor ihn hin.

»Nicht diesen Rioja, ich möchte den Rioja, den ich bestellt habe.«

Ohne Sergios Hilfe hätte Ralph darauf bestanden, daß David den Rioja wieder mitnahm und einen neuen brachte. Den ganzen Abend, wenn er in Hörweite der Runde kam, schnappte David Fetzen einer Diskussion auf über das Recht des Menschen auf Unvoraussagbarkeit, wie es Ralph Grand nannte.

Am nächsten Abend ging David in den Bergfrieden, ein Arbeiterrestaurant des Quartiers, das von einem spanischen Wirt geführt wurde. Ralph pflegte dort zu Abend zu essen, bevor er ins Esquina wechselte. David wollte ihn zur Rede stellen. Er wollte ihm sagen, daß er ihn nicht wie einen Kellnerlehrling vor allen Gästen zurechtweisen könne. Schließlich seien sie auch so etwas wie Freunde. Falls ihm etwas an seinem Service nicht behage, könne er ihm das unter vier Augen sagen.

Aber als er sich zu Ralph an den Tisch setzte, war dieser tief in eine Diskussion verwickelt mit einem dünnen Mann, der mit gelben Fingern russische Zigaretten rauchte. Ralph schenkte Davids Erscheinen kaum mehr Beachtung als im Esquina, wenn er ein neues Glas Rioja brachte.

David bestellte eine Tortilla und eine Cola – er trank keinen Alkohol vor der Arbeit – und wartete auf eine Gelegenheit, sich am Gespräch beteiligen zu können.

Das war eine vertraute Situation für David: warten, bis man ihm Beachtung schenkte. Vor allem, bis Ralph ihm Beachtung schenkte. Denn wenn dieser es tat, taten es die andern sieben auch.

Nicht, daß David Kontaktschwierigkeiten gehabt hätte. Es gab viele Leute, die ihn mochten und mit denen er ein ganz normales entspanntes Verhältnis pflegte. Weshalb er sich in den Kopf gesetzt hatte, ausgerechnet in die Gruppe um Ralph aufgenommen zu werden, war ihm selbst nicht ganz klar. Er redete sich ein, daß es damit zusammenhing, daß es interessante Leute waren, die interessante Dinge taten und sich über interessante Themen unterhielten. Vielleicht lag es aber auch nur daran, daß sie ihn als Kellner behandelten.

David war kein Kellner, das war nur sein momentaner Job. Er hatte ein paar Jahre das Gymnasium besucht, er hatte eine Weile als Supporter in einem Computershop gearbeitet, er verstand viel von Obst und Gemüse, denn er hatte ein Jahr auf einem französischen Biobauernhof gelebt.

David wollte nicht als der sympathische Kellner behandelt werden, den man auch auf der Straße erkannte und mit dem man auch einmal privat etwas trinken konnte. Er wollte als der gute Bekannte, vielleicht auch als der Freund gelten, der zufällig im Esquina die Getränke brachte und kassierte, weil er momentan zufällig als Kellner jobbte.

Um diesen Status zu erreichen, ging David auch an freien Abenden manchmal ins Esquina und setzte sich zu Ralph und den andern und versuchte, sich am Gespräch zu beteiligen.

Das war nicht einfach, denn die Clique kannte sich schon so lange, daß sich gewisse Codes eingebürgert hatten. Verkürzungen, Redewendungen, Betonungen und Gesten, die für Außenstehende schwer zu verstehen waren. So beschränkte sich David meistens aufs Zuhören und darauf ein Stichwort abzuwarten, bei dem er mithalten konnte.

Updike wäre zum Beispiel so eines gewesen. David hatte in den Anfängen seiner Tätigkeit im Esquina von Ralph die Bemerkung aufgeschnappt: »Nicht zu glauben, daß ich meine Abende mit jemandem verbringe, der noch nie Updike gelesen hat.« Gemeint war Roger Bertoli, der Texter, der sich verlegen grinsend hinter seinem Mojito versteckte. David hatte darauf, nicht ohne Mühe, Updikes sämtliche Rabbit-Romane gelesen und wartete seither vergeblich darauf, daß das Thema Updike wieder angeschnitten wurde.

Er war wohl der einzige der Runde, der das Versäumnis nachgeholt hatte. Die andern mieden das Thema fortan gewissenhaft.


An jenem Abend im Bergfrieden mußte David zur Arbeit, bevor er Ralph zur Rede stellen konnte.

Ob er die Sache tatsächlich zur Sprache gebracht hätte, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergeben hätte, stand auf einem andern Blatt.


Kurz vor Mitternacht betrat eine Frau das Esquina, die er wiedersehen wollte.

David war gerade mit einer Bestellung gemischter Tapas unterwegs zu einem der Sofas beim Eingang, als sie aus dem kurzen Korridor trat, der vom Eingang ins Lokal führte. Sie knöpfte den Mantel auf und sah sich dabei im Lokal um.

Sie stand etwa zwei Meter vor ihm. Das erste, was ihm auffiel, war ihr Nackenhaar. Ein Spot, der eine Wandnische voller Nippes aus den sechziger Jahren anleuchten sollte, streifte ihren Hals und ließ den Flaum, der von ihrem Nacken bis zum Ansatz der kurz geschnittenen Haare wuchs, golden aufleuchten.

Sie wandte den Kopf. Ihr Gesicht war schmal und blasser als das der meisten Gäste, die um diese Zeit von der kalten Straße ins Esquina traten. Ihre Augen waren blau oder grau oder grün, schwer zu sagen bei dieser Beleuchtung. Ihr kleiner Mund war leicht geöffnet, als ob er gleich etwas fragen wollte. Und zwischen den Augenbrauen im gleichen dichten Weizenblond wie ihr Haar hatte sich eine winzige senkrechte Falte gebildet. Wohl aus Ärger darüber, daß das Lokal nicht aussah, als fände sich darin noch ein Platz für sie.

Sie begann schon, den Mantel wieder zuzuknöpfen, als David sie ansprach. »Suchst du einen Platz?«

»Hast du denn noch einen?«

»Wenn es dir nichts ausmacht, dich zu jemandem dazuzusetzen.«

»Kommt auf die Leute an.«

»Die sind okay.«

David führte sie zur Sitzgruppe von Ralph und den andern. Dort gab es meistens einen Sessel, der als Mantelablage und Reservesitz diente. Der Sessel war zwar tabu, aber David wußte keinen anderen Weg, sie am Gehen zu hindern und gleichzeitig in seinem Einflußbereich zu behalten.

Er fing denn auch einige ungläubige Blicke auf, als er mit den Worten »hier kommt wohl niemand mehr« die Mäntel vom Stuhl nahm und über eine Sofalehne legte. Aber niemand protestierte, dazu war der neue Gast zu hübsch.

An diesem Abend vernachlässigte David vielleicht ein paar Gäste. Dafür leerte er bei der Gruppe um Ralph die Aschenbecher öfter als nötig. Und nie fragte er, wenn dort jemand etwas bestellte, ob sonst noch jemand einen Wunsch habe. Lieber kam er eigens für jede Bestellung zurück.

Sie hieß Marie, das hatte er schon aufgeschnappt, als er ihr das erste Glas Cava brachte. Nicht Maria, nicht Mary – Marie, Betonung auf der zweiten Silbe. Ein schöner Name, fand David. Einfach und schön. Wie alles an ihr.



nach oben



[2]

Das gestohlene Manuskript, das vorerst noch seinen Originaltitel "Sophie, Sophie" trägt, hat ungewollt das Lektorat eines Frankfurter Verlags erreicht – und die Lektorin Karin Kohler überzeugt. (S. 97 ff.)


Wie sieht einer aus, der so etwas schreibt:

Seit einer Woche ist mein Motorrad in der Werkstatt, und ich muß mit dem Elfer zur Arbeit. Weißt Du, was das schlimmste daran ist? Nicht, daß er jeden Morgen so überfüllt ist, daß ich manchmal bis zum Bergplatz auf dem Trittbrett fahren muß. Nicht, daß er nach nassen Mänteln und kalten Stumpen stinkt und fünfmal länger braucht als mein Motorrad. Nein, das schlimmste ist, jeden Tag zweimal mit so vielen Leuten zusammengepfercht zu sein, die Dich nicht kennen. Nicht wissen, daß, wenn Du lächelst, in Deiner rechten Wange ein Grübchen entsteht und in der linken keines. Nicht ahnen, daß es im Nacken unter Deinen offenen Haaren nach Lebkuchen duftet. Nie gespürt haben, wie leicht Deine Hand in meiner liegt. Es ist mir unerträglich, eine halbe Stunde Körper an Körper mit Menschen zu verbringen, die keinen Schimmer davon haben, wie es sein muß, Dich zu lieben. Noch nie waren mir die Menschen so fremd, und noch nie mußte ich sie aus so großer Nähe ertragen.
Karin Kohler hatte versucht, aus der Beschreibung, die ihr Marie Berger am Telefon gegeben hatte, sich von David Kern ein Bild zu machen. Groß, dunkles kurzes Haar, eher schüchtern, trägt eine schwarze wattierte Jacke.

Karin hatte gesagt, sie sei auch groß, ihr Haar sei auch dunkel, aber nicht mehr überall, und sie stehe am Treffpunkt in der Bahnhofshalle und halte den Herbstkatalog von Kubner sichtbar in der Hand.

Es war jetzt Viertel nach zwei. Um sieben vor hätte der ICE ankommen sollen, aber die Anzeigetafel zeigte eine Verspätung von fünfundzwanzig Minuten an. Es war wieder mal so, wie Karin immer sagte: Nur wenn man selber verspätet ist, ist die Deutsche Bahn pünktlich.

Es war nicht ganz einfach gewesen, Everding von Sophie, Sophie zu überzeugen. »Schon der Titel«, hatte er gesagt, nachdem sie das Manuskript bei der Wochensitzung auf den Besprechungstisch geknallt und nur ein Wort gesagt hatte: Bestseller. Als ob man Titel nicht ändern könnte.

Nachdem er den Text endlich gelesen hatte, hatte er den Plot bemängelt. Everding hatte den Plot etwa gleichzeitig mit der Tabakpfeife entdeckt und hatte von beidem etwa gleich viel Ahnung.

»Das ist eine Liebesgeschichte. Liebesgeschichten brauchen keinen Plot«, hatte sie geantwortet.

»Und weshalb muß sie in den schrecklichen fünfziger Jahren spielen?«

»Weil man in den schrecklichen fünfziger Jahren die Liebe noch verbieten konnte.« Sie hatte Everding nur dadurch überzeugen können, daß sie gedroht hatte, mit dem Manuskript zu Schwarzbusch zu gehen, dem etwas erfolgreicheren Konkurrenzverlag, bei dem Everding seine Laufbahn begonnen und von dem er sich damals unter seltsamen Umständen getrennt hatte.

Es war schließlich Hannelore Braun, die Verlagssekretärin, die den Ausschlag gab. Mit der unsachlichen Bemerkung: »Ich habe jedenfalls geweint.«


Als David Kern endlich vor ihr stand, merkte sie es nicht. Obwohl er etwas größer war als sie selbst, dunkles kurzes Haar hatte und eine schwarze wattierte Jacke trug. Die Beschreibung paßte nicht auf den jungen Mann, der ihr die Aussicht auf den jungen Autor nahm, den sie erwartete, und der aussah, als wollte er sie um etwas Kleingeld bitten. Es hatte mit seinem Ausdruck zu tun. Sie brachte dieses hübsche, etwas unfertige Jungengesicht nicht im Traum mit Sophie, Sophie in Verbindung.

Erst als er schüchtern fragte: »Frau Kohler?«

»Ach, so sehen Sie aus!« rief sie und schüttelte ihm die Hand. »Sind Sie gut gereist?«

Sie führte ihn durch den Bahnhof zum Parkplatz, wo ihr Wagen stand. »Kennen Sie Frankfurt?«

»Ich war noch nie hier«, gestand er.

»Da ist Ihnen nicht viel entgangen. Ich schlage vor, wir gehen zuerst zu mir, dort können Sie Ihre Tasche loswerden und sich etwas frisch machen. Sie wohnen in meinem Gästezimmer. Die meisten unserer Autoren ziehen das einem unpersönlichen Hotel vor. Ist das für Sie in Ordnung?«



nach oben



[3]

Karin Kohler liest eine Rezension über "Lila, Lila", wie der Roman nun heißt (S. 160 ff.)


Von der ersten Seite des Bundes blickte sie das etwas beholfene Autorenporträt von David an. Bildlegende: »Kein Dandy der Postmoderne – David Kern.«

Der Titel über der seitendominierenden Besprechung hieß: »Das Ende der Postmoderne.«

Karin hielt den Atem an und begann zu lesen.

»Von der Kritik kaum beachtet ist im Frankfurter Kubner Verlag ein Romandebüt erschienen, über das zu reden sein wird. Lila, Lila von David Kern, die Geschichte einer verbotenen Liebe und vielleicht der Anfang vom Ende der literarischen Postmoderne.«
Sie hatte zu atmen vergessen, jetzt holte sie tief Luft.

»Lila, Lila ist die Chronik der Liebe zwischen dem zwanzigjährigen Peter und der sechzehnjährigen Lila. Die Schüchternheit der ersten Annäherung, das Glück er heimlichen Treffen, der Schmerz während der von den Eltern erzwungenen Trennung und die ausweglose Verzweiflung über die während dieser Zeit gewachsene Entfremdung. Der Autor, David Kern, 23, schildert Ereignisse und Gefühle in einer Unmittelbarkeit, Dringlichkeit und Ungekünsteltheit, wie man sie nur – und auch das selten genug – bei ersten Gehversuchen junger Autoren antrifft. Aber damit erschöpfen sich auch schon die typischen Merkmale der Erstlinge, mit denen uns die junge Autorengeneration in den letzten Jahren heimgesucht hat. In Lila, Lila klingt zwar der Mitteilungsdrang und die literarische Naivität des klassischen Buchdebüts an, aber der Roman verzichtet auf die Verfallenheit an die Gegenwart und die Verkündigung des Zeitgeistes: Lila, Lila spielt in den fünfziger Jahren! Mit diesem Kunstgriff beweist der junge Autor eine literarische Reife, die ihn mit einem Schlag zu einem der wenigen Hoffnungsträger der neuen deutschen Literatur macht.«
»Jipiih!« stieß Karin aus.

»Dadurch, daß er die tragische Liebesgeschichte im Mief der verklemmten fünfziger ansiedelt, gewinnt sie eine emotionale Glaubwürdigkeit, wie sie seit Jahren, vielleicht seit Jahrzehnten, keine deutsche Liebesgeschichte mehr besessen hat.«
»Jipiih! Jipiih!«

»Lila, Lila ist keine dieser Beziehungs- und Post-Beziehungsgeschichten über das Trauern des Protagonisten über den Verlust der Freundin und dessen Versuche, darüber wegzukommen mit Sex and Drugs and Drum’n‘Base.«
»Hallelujal«

»Schluß mit der Positionslosigkeit und der gleichzigen Suche nach Identifikation. Genug der Unverbindlichkeit, Seichtheit und Schnöselhaftigkeit. Fertig Markenverehrung und Bildermacht. Ende Oberflächlichkeit der Konsumwelt und ihrer Affirmation.«
»Schluß!« rief Karin. »Genug! Fertig! Ende! Jipiih!«

»Lila, Lila ist radikal. Ein Buch über Liebe, Treue, Verrat und Tod. Keine Literatur für zwanghaft Junggebliebene. Nicht im lockeren Parlando der Lifestylemagazine geschrieben. Lila, Lila ist der Roman, auf den wir sehnlich gewartet haben: Das Ende der Knabenwindelprosa.«
Gezeichnet: Joachim Landmann!

Karin Kohler stellte sich auf ihren kleinen, mit Blumentöpfen und Pflanzkisten vollgepferchten Balkon, ballte die Faust, stieß sie in die Luft und brüllte: »Yeah!«

Herr Petersen, der auf dem Nachbarbalkon die Schwarze Susanne düngte, starrte sie erschrocken an. »Was gibt's zu feiern?«

»Das Ende der Knabenwindelprosa«, strahlte Karin, wünschte ihm einen schönen Sonntag, ging zurück ins Wohnzimmer und erlaubte sich eine Extrazigarette.

Das war er, der Durchbruch. Wenn Landmann, der gefürchtete Großkritiker der Republik am Sonntag, eine solch Hymne schrieb, konnte das übrige Feuilleton Lila, Lila nicht länger ignorieren. Es mußte ihn bestätigen oder ergänzen, korrigieren oder widerlegen. Totschweigen konnten sie ihn nicht.




nach oben

         
         
         
         
     
Ausdrucken