Die Insel des zweiten Gesichts | Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis | dtv, 1990 (Erstveröffentlichung 1953) |
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Ein ziemlich unglaubliches Buch, diese "Insel des zweiten Gesichts". Anlässlich des hundertsten Geburtstages des Autors im September 2003 hat ein Kritiker im Überschwang seiner Begeisterung dieses Werk das wichtigste Buch der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert genannt. Das scheint mir dann doch etwas hoch gegriffen und möchte das so nicht unterschreiben. Es ist aber ohne Zweifel eines der originellsten und sprachlich-stilistisch eines der reichsten Bücher, die im vergangenen Jahrhundert in Deutschland erschienen sind. Dabei war es mehr oder weniger in tiefe Vergessenheit geraten, und wenn nicht eben der Hundertste von Thelen gewesen wäre, wäre es wahrscheinlich auch weiterhin dort geblieben.
Der äußere Handlungsrahmen erscheint auf den ersten Blick wenig spektakulär. Das Buch schildert fünf Jahre aus dem Leben von Albert "Vigoleis" Thelen, die er mit seiner Frau Beatrice auf Mallorca verbracht hatte. Es waren die Jahre 1931 bis 1936, in denen es die beiden zunächst aus persönlichen Gründen, dann aber auch auf der Flucht vor den politischen Umständen in Europa, speziell in Deutschland, dorthin verschlagen hatte. Die Schilderung grotesker Ereignisse und bizarrer Persönlichkeiten, denen die beiden begegnen, geschieht mit dem furiosen Talent Thelens, der in der Lage ist aus jeder Begebenheit des Alltags eine unvergessliche Szene - Komödie oder Tragödie - entstehen zu lassen. Unerhört erscheinen seine Phantasie, sein Humor und seine Sprachkraft. Er kleidet seine Szenen in einen Wortschatz, der sicher wenig Vergleichbares unter den deutschen Schriftstellern kennt. Thelen beschreibt aber nicht nur Harmlos-Alltägliches. Der Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges und die Machtergreifung Hitlers in Deutschland haben massive Auswirkungen auf das Leben des Paares. Mit großer Klarheit sieht Thelen den Untergang voraus und er schildert in starken, plastischen und drastischen Worten die Barbarei des heraufziehenden Faschismus in Europa. Mit ätzender Schärfe kommentiert er die Verstrickungen von Kirche, Großbürgertum und Geldadel in die Kriegs- und Bluthetze jener Zeit, und das immer auf der Ebene des einzelnen Menschen. Seinem Buch stellt Thelen folgende "Weisung an den Leser" voraus: "Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewusstsein ihrer Persönlichkeit auf, der Verfasser einbegriffen, weshalb sie weder für ihre Handlungen noch auch für die im Leser sich erzeugenden Vorstellungen haftbar gemacht werden können. Im gleichen Maße, wie die Spaltung der ichverlorenen Gestalten größer oder kleiner zu sein scheint, unterliegt auch der chronische Ablauf der Geschehnisse einer Umschichtung, die bis in die Aufhebung des Zeitgefühls gehen kann. In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit." Dieser Wahrheit, die unter der bizarren Oberfläche lebt, nachzuspüren: das ist das große Abenteuer bei der Lektüre dieses Buches. | ||||
(Es gibt eine Homepage, die Albert Vigoleis Thelen gewidmet ist: ![]() |
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