Leseprobe aus: Barbara Vine, Der schwarze Falter



S. 58 ff.



Der verstorbene Schriftsteller Gerald Candless hinterlässt zwei Töchter, Sarah und Hope. Robert Postle, der Lektor von Candless' Verlag, würde gerne eine von beiden dazu überreden, persönliche Erinnerungen an ihren Vater zu verfassen. (S. 58 ff.)



4


Als die Gäste fort waren, sagte Peter, Goethe oder sonst jemanden zitierend: »Es sind durchaus nette Leute, aber wären sie Bücher gewesen, hätte ich sie nicht gelesen.«

Der verlassene Wassermann )*


Hope war viel zu früh vor dem Restaurant und flüchtete sich deshalb auf die andere Straßenseite zu Laura Ashley. Zu Verabredungen mit Männern (abgesehen von Fabian, der zählte nicht) kam sie prinzipiell nie zur vereinbarten Zeit, sondern mit zwei bis fünf Minuten Verspätung. Es fiel ihr schwer, weil sie von Natur aus ein pünktlicher Mensch war, aber sie hielt sich eisern an diese Regel.

In einer kurzen Pause zwischen der Konsultation mit einem Mandanten, für den sie bei der Frau, mit der er in Scheidung lag, eine stattliche Unterhalts zahlung herausschlagen sollte, und einem anderen Mandanten, der eine gemeinnützige Stiftung einrichten wollte, die – soweit sie das überblicken konnte – vor allem zu Nutz und Frommen seiner persönlichen Freunde gedacht war, hatte Hope sich mit der Planung des Gedenkgottesdienstes für ihren Vater beschäftigt. Das Dumme war, daß sie jedesmal, wenn ihr ein Gedicht oder Lied oder Prosastück einfiel, das er besonders geliebt hatte, wieder weinen mußte. Der Mann mit der Idee für die gemeinnützige Stiftung hatte die Tränenspuren auf ihrem Gesicht angestarrt und gefragt, ob sie Schnupfen habe.

Hope war literarisch nicht allzu beschlagen, aber die Lieblingstexte ihres Vaters – zumindest deren Titel – hatte sie im Gedächtnis oder »im Herzen«, wie sie zu sagen pflegte, und zwar für immer. Herberts »Jordan« und Tennysons »Ulysses« und etwas von Sartre, überlegte sie, während sie an den Ständern mit Blümchenkleidern entlangging. »Liegt keine Schönheit wohl im Wahren?« zitierte sie. »Gilt denn als gut gefügt nur eine Wendeltreppe?« Nein, dachte sie, Schluß damit, sonst fängst du wieder an zu heulen. Sie hatte sich, ehe sie die Kanzlei verließ, sorgfältig geschminkt und wollte ihr Werk vor dem Treffen mit Robert Postle nicht zerstören.

Inzwischen würde er wohl da sein. Drei Minuten nach eins, von seinen Besuchen in Lundy View House her meinte sie sich zu erinnern, daß er so pünktlich war, wie sie selbst es sich nie gestattet hätte. Im Restaurant erfuhr sie, daß er bereits eingetroffen war, und da sah sie ihn schon aufstehen und ihr zuwinken.

Robert Postle war kurze Zeit, nachdem Die Waldnymphe auf die Auswahlliste für den Booker-Preis gesetzt worden war, der Lektor ihres Vaters geworden. Der vorgebliche Grund für den Wechsel war das Ausscheiden seines früheren Lektors, der eigentliche Grund aber eben jene Auswahlliste. Das war lange her, und auch an Robert Postle waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Ein starker Typ, befanden die halbwüchsigen Candless-Töchter damals, als sie ihn kennenlernten, richtig sexy, und als er im Jahr darauf heiratete, verfiel Sarah in nur halb gespielte Verzweiflung. Jetzt hatte er sich einen Bauch zugelegt und einen Großteil der dunklen seidigen Haare verloren, so daß ihm nur noch seltsam federnde Büschel über den Ohren geblieben waren und ein paar schäbige Reste auf dem kahlen Schädel, die aussahen wie bewaldete Inseln auf einer blaß braunen See. Er war ein frommer Katholik, der sich, wie seine große Kinderschar bewies, offenbar getreulich an die Vorschriften seiner Kirche hielt. Um zu Gerald Candless’ Beerdigung gehen zu können, hatte er bei seinem Gemeindepfarrer die Erlaubnis eingeholt, eine anglikanische Kirche zu betreten, obgleich Rom das nicht mehr für nötig erachtete und der Pfarrer ihn bei sich einen Erbsenzähler genannt hatte. Hope fand, daß er heute noch angejahrter aussah als vor zwei Wochen.

Von ihm geküßt zu werden war nicht mehr so genußvoll wie früher und außerdem eine ziemlich umständliche Aktion, da Hope in London nie ohne Hut ausging und an diesem Tag ein riesiges Gebilde aus korallenrotem Leinen trug. Sie behielt den Hut auf, weil er ihrem Gesicht einen kleidsamen rosa Hauch verlieh.

»Wie fandest du den Artikel in der Mail?« fragte Robert.

»Nicht umwerfend.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß du von deinem ‘Partner’ gesprochen hast.«

»Nein, meine Partner sind drei Leute in der Kanzlei Ruskin de Gruchy. Ich hatte ‘mein Typ’ gesagt, aber das haben sie geändert. Was mich wirklich geärgert hat, war die Sache mit dem Taschentuch. Natürlich benutze ich welche aus Stoff, Papiertaschentücher sind doch ekelhaft, so klitschig, aber es ist kein gesticktes H drauf. Bekomme ich was zu trinken? Es gibt hier Weißwein in Literkaraffen, den könnte ich jetzt gebrauchen. Der Vormittag war einfach grauenhaft.«

Sie haben auch Halbliterkaraffen, dachte Robert, sagte es aber nicht laut. Er wollte Hope einen Vorschlag machen und hatte sich die Formulierung schon zurechtgelegt, wartete aber noch ab, während sie Orvieto in sich hineinschüttete, die Speisekarte las und über Zeitungen, Journalisten und die Medien im allgemeinen jammerte. Sie sah ihrem Vater ungeheuer ähnlich, sogar ihr Gesicht wirkte so rot wie das seine in den letzten Jahren, da der Hut ihre helle Haut in tiefen Schatten tauchte. Es fiel ihm immer noch schwer zu akzeptieren, daß Gerald tot war, so wie es einen immer Mühe kostet, sich mit dem Tod eines außergewöhnlich vitalen Menschen abzufinden.

»Du weißt wahrscheinlich«, sagte er, als der Risotto vor ihr stand, »wie beliebt neuerdings eine bestimmte Art von Biographie ist. Ich meine die Erinnerungen eines Kindes an einen Elternteil, meist, aber nicht zwangsläufig den Vater.«

Sie sah unter der breiten Hutkrempe zu ihm hoch. »Eines Kindes?«

Wenn man sie so reden hörte, mußte man sich fragen, wie sie es geschafft hatte, in Cambridge angenommen zu werden, ja ihren Abschluß mit Auszeichnung zu machen. Ein Großteil ihrer Naivität war natürlich gespielt. Sie gehörte zu den Frauen, die sich einen Spaß daraus machen, ihren Mitmenschen gegenüber die dumme Gans zu mimen, um dann mit einem Bonmot oder einer nebenher hingeworfenen Bemerkung über das, was sie im Leben schon erreicht haben, um so wirkungsvoller für Verblüffung zu sorgen.

»Eines Kindes im Sinne von Deszendent, Nachkomme, Abkömmling, Sproß, Erbe.«

»Ach so. Alles klar.«

»Sind dir solche Bücher schon mal untergekommen?«

»Weiß ich nicht«, sagte Hope.

»Meist ist die Berühmtheit der Elternteil, nicht das Kind, manchmal sind es beide. Ich kenne auch eines oder zwei, in denen beide nicht berühmt waren, aber das Leben, von dem das Kind erzählt, so interessant und der Stil so gekonnt war, daß die Erinnerungen trotzdem ein Erfolg wurden.«

»Ich habe keine Zeit zum Lesen«, sagte Hope und wischte den Teller mit einem Stück Brot aus, als habe sie seit einer Woche nichts Vernünftiges mehr zu essen bekommen. Zwei von gutem Essen und vom Wein glänzende Augen richteten sich auf ihn. Geralds Augen: ein sattes Dunkelbraun wie von gewichstem Leder, Wimpern so dicht wie Bürsten. »Mit Ausnahme von Daddys Romanen habe ich seit Jahren kein Buch mehr in die Hand genommen.«

Was kein Nachteil zu sein braucht, dachte er. Ein neuer Zugang, noch nicht von den berühmten Daddy-Biographien der letzten Jahre beeinflußte Ansichten.

»Wenn du schon nicht liest«, sagte er, als er seinen Fisch, sie ihr Kalbfleisch vor sich stehen hatte, »hättest du dann vielleicht Lust, etwas zu schreiben?«

Sie fixierte die Karaffe wie eine Hauskatze den leeren Freßnapf. Er klopfte ans Glas und sagte dem Ober, er solle noch eine bringen.

»Würdest du die Lebensgeschichte deines Vaters schreiben?«

»Ich?« fragte Hope.

Nein, der Weinkellner, dachte er. Der Typ mit Brille am Nebentisch. »Etwas über deine Beziehung zu ihm, deine Erinnerungen als kleines Kind, wie es sich als seine Tochter gelebt hat. Und über seine Wurzeln natürlich, seine Vorgeschichte, seine Familie und Herkunft. Über die Geschichten, die er euch erzählt, die Spiele, die er mit euch gespielt hat.« Zu seiner Bestürzung füllten sich ihre Augen, die denen von Gerald so sehr glichen, mit Tränen. Sie kann ja kaum noch was sehen, dachte er. »Verzeih mir, Hope, ich wollte dich nicht quälen, Kind ... «

Zwei Tränen rollten ihr über die Wangen. Sie tupfte mit einem Taschentuch daran herum. Tatsächlich, es war eins aus Stoff. Sie zerknüllte es in der Hand, ehe er erkennen konnte, ob ein H darauf war. Sie stärkte sich mit einer großen Scheibe Kalbfleisch und sagte mit vollem Mund: »Ich kann nicht schreiben. Ich habe keine Phantasie.«

Was er brauchte, waren Fakten, keine Phantastereien. Das heißt, ein wenig Phantasie, ein wenig Gefühl durfte natürlich dabei sein. Aber er hatte schon gemerkt, daß es verlorene Liebesmühe war. Der Ober schenkte ihr nach. Sie schüttete den Wein herunter wie eine Verdurstende, und Robert mußte paradoxerweise an jene Szene in König Salomons Schatzkammer denken, in der Sir Henry Curtis und Hauptmann Good das letzte Stück bäuchlings durch den Wüstensand kriechen, um schmutziges Wasser aus einem Tümpel in der Oase zu schlürfen.

Zu seiner Überraschung fragte sie: »Wäre das eine Auftragsarbeit für deinen Verlag?« Aber schließlich war sie ja Juristin.

»Auftragsarbeit? Hm, ja ... «, sagte er vorsichtig. »Wenn es so ausfällt, wie wir uns das vorstellen, würden wir es gern herausbringen. «

»Da seid ihr bei mir an der falschen Adresse. Ich nehme Zabaglione, nein, doch lieber Tiramisu und Strega, keinen Kaffee, und dann muß ich schleunigst los, mein Terminkalender für heute nachmittag ist mehr als voll. Frag doch mal meine Schwester.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber sie hat immer so viel zu tun.«

»Besten Dank. Ich sitze also da und drehe Daumen! Wenn du willst, frage ich sie, es würde sie wahrscheinlich reizen.«

Wie machte sie es bloß, so schlank zu bleiben und dabei noch ihre Arbeit zu bewältigen? Geralds Töchter tranken beide so viel. Hope hatte gut und gern einen Liter Wein konsumiert.

»Sie flippt wegen Daddy nicht so leicht aus wie ich.« Robert sah ihr nach, wie sie mit sehr geradem Rücken, schwankend wie ein Rohr im Wind, hinausging. Er dachte an die Erinnerungen von Kindern, die ihre Eltern verloren hatten – Mommie Dearest an einem Ende der Qualitätsskala, When Did You Last See Your Father? am anderen –, dachte an Klassiker wie A Voyage Round My Father und an das von ihm besonders geschätzte Germaine-Greer-Buch, das geradezu detektivisch vorging. In diesem Zusammenhang fiel ihm der Leserbriefschreiber in der Times ein, der behauptet hatte, Gerald habe nie für den Walthamstow Herald gearbeitet. Blanker Unsinn wahrscheinlich. Andererseits hatte er, Robert, nie wirklich geglaubt, daß Gerald in Trinity studiert hatte. Natürlich hatte er nie etwas gesagt, weder zu Gerald noch zu anderen Leuten, aber er hatte das deutliche Gefühl, daß da etwas nicht stimmte.

Er zahlte und ging – ein überzeugter Taxigegner – zu Fuß zurück in Richtung Bloomsbury.


)* die Mottos zu den einzelnen Kapiteln sind fiktive Auszüge aus den Werken der Hauptfigur, des verstorbenen Schriftstelles Gerald Candless






nach oben


         
         
         
         
     
Ausdrucken