Aus der Schreibwerkstatt (April 2017)

Ausschnitt aus dem Essay "Wir sind nicht auf der Welt, um glücklich zu sein" (1. Teil eines dreiteiligen Projekts mit dem vorläufigen Titel "Die Wegwerfwelt")









(Stand: 19.4.17.)



Warum beschäftige ich mich mit dem Bösen? Und: was ist das überhaupt? Die erste Frage ist leichter zu beantworten. Kein singuläres Ereignis, keine dramatische Begegnung, kein Schicksalsschlag haben mich auf das Thema gestoßen, vielmehr näherte es sich mir schleichend, verübte auf mich jähe Anschläge von beträchtlicher Schmerzwirkung.

Einige dieser Gewaltstreiche will ich beispielhaft beschreiben. Ihr Eindringen in meine Lebenssphäre hat sich über einen langen Zeitraum abgespielt, die Reihenfolge zeichnet den Weg meiner Sensibilisierung für das Thema nach.

Erstens. Im Hotelzimmer läuft der Fernseher (zuhause habe ich aus Selbstschutz kein solches Gerät), es ist die Zeit der beginnenden Gräuel des IS, damals noch ISIS genannt. Die ARD sendet einen Brennpunkt zum Thema, und im Vorspann schießt für eine halbe Sekunde das Bild eines schreienden Gekreuzigten vor mir vorbei.

Zweitens. In einer Zeitschrift lese ich den Bericht eines jungen Syrers, der nach Deutschland geflüchtet ist: Ich ging wie jeden Tag über den Marktplatz von Hama. Hier habe ich als Kind mit meinen Freunden gespielt. Meine Mutter saß hier und gab mir Sonnenblumenkerne zu essen. Da sah ich zehn blutige Köpfe auf Holzpfählen aufgespießt.

Drittens. Ich höre eine Radiosendung über Jesidinnen, in der eine Frau berichtet: Ein Mann suchte mich aus und zwang mich zu sich nach Hause. Er vergewaltigte mich, folterte mich. Als ich versuchte zu fliehen, brachte er mich zu den Wächtern. Sie vergewaltigten mich ebenfalls, alle gemeinsam, bis ich ohnmächtig wurde.

Viertens. Ich erinnere mich Die Brücke über die Drina gelesen zu haben, den 1945 erschienenen Roman des Nobelpreisträgers Ivo Andrić. Der Autor schildert im dritten Kapitel in allen Einzelheiten, wie ein Mensch durch das Pfählen ums Leben gebracht wird, eine der bestialischsten Hinrichtungspraktiken, die Menschen je erdacht haben.

Fünftens. Die Erinnerung an dieses Kapitel ruft ein weitere hervor: In den achtziger Jahren habe ich die Fahnenkorrektur eines Romans ausgeführt, Feuer und Schwert von Igor Šentjurc. Anlässlich der Auffindung von fünf gepfählten serbischen Soldaten wird diese Technik dort ebenfalls detailliert geschildert. Eine handwerklich saubere Anleitung. Ich vermute, Šentjurc hat die Grundzüge seiner Darstellung von Andrić übernommen, die Parallelen scheinen unübersehbar. Eine andere, weniger harmlose Erklärung für die Doppelung wäre, dass diese schweinische Hinrichtungsart auf dem Balkan gang und gäbe war.

Sechstens. Etwa um dieselbe Zeit wie die Korrektur von Šentjurc' Roman muss es gewesen sein, dass ich in einer Ausgabe des Stern Fotos von der Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten gesehen habe, ich glaube, es waren Bilder aus dem Irak. Man hatte den Mann zwischen zwei Jeeps gespannt, auf beiden Seiten Gas gegeben und ihm die Arme aus dem Leib gerissen, bevor er zuletzt erschossen wurde. Die Fotostrecke zeigte den ganzen Vorgang.

Die Fotos dieser Hinrichtung, die Schilderungen der Pfählung sowie die anderen Beispiele vorgeführter menschlicher Grausamkeit habe ich nicht mehr vergessen. Ich bin jederzeit in der Lage, die Beschreibungen beziehungsweise Bilder mit allen Details in meinem Gedächtnis auferstehen zu lassen.

Vielleicht lebe ich hinter dem Mond, aber ich war sehr überrascht, in welcher Form eine sich seriös gebende Zeitung wie die Welt in ihrem Onlineangebot über die Orgien der altrömischen Kaiser oder den Baron Gilles de Rais berichtet, einen der grausamsten und perversesten Verbrecher aller Zeiten – soweit überhaupt Vergleichsmöglichkeiten bestehen. Genüsslich werden Einzelheiten präsentiert, die jedem noch halbwegs gesunden Menschen den Magen umdrehen müssten. Die zeitliche Distanz (de Rais lebte Anfang des 15. Jahrhunderts in Frankreich) erlaubt hier einen voyeuristischen Blick in Abgründe, die, wie man annehmen muss, Abgründe in jedem von uns sind. Genau darauf wird in diesen Berichten spekuliert, und darauf beruht ihre Popularität, die mir bei meinen Recherchen sichtbar geworden ist. Das Fernsehen, auch das öffentlich-rechtliche, ist nicht besser, eher im Gegenteil. Hier hat der politisch gewollte und geförderte Aufstieg der Privatsender, die sich an so gut wie keine Anstandsregeln halten müssen und ungehemmt sämtliche noch so abseitigen Neigungen bedienen, einen großen „Fortschritt“ gebracht. Die sogenannten seriösen Sender müssen nachziehen, um ihre Quoten zu halten. Hier ist etwas in der Mitte der Gesellschaft angekommen und darf sich ungeniert zeigen, dessen Sichtbarwerden offenbar seit Langem herbeigesehnt wurde. Endlich darf die Sau raus. Sie ist es, die man "das Böse" nennen könnte.








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