Aus der Schreibwerkstatt (August 2021)

Ausschnitt aus dem Roman "Ein blauer Tag" (3. Kapitel)









(Stand: 22.8.21)



Am frühen Morgen des 1. Januar 2000, im Aufbruch ins letzte Jahr des Millenniums (notabene einem Tag, den jedermann, überreizt und verführt durch die Zahlen, als Beginn eines neuen Jahrtausends missverstand), fuhr der neunundzwanzigjährige Maximilian N., promovierter Jurist und seit einem Jahr Referent im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, durch das Dunkel der Münchner Vororte von einem Fest nach Hause, behelligt (wenn auch in unterschiedlichem Maß) von schwankenden Gestalten in den Straßen, ebenso schwankenden flüchtigen Bildern der durchfeierten Nacht und der Angst vor Verkehrskontrollen, die zu scheuen er Grund hatte – wie fast alle, die an diesem Morgen mit dem Auto unterwegs waren, einem Morgen, aus dem – nach ein paar schneeigen Frühstunden – ein stiller, blauer Wintertag werden wollte.

Gefeiert hatte man in Stockdorf, sechzig, siebzig Leute, um die zwanzig waren immer noch da. Den Reißverschluss der Lederjacke hochziehend, trat Max ins Freie (es roch nach biederen Reihenhäusern und erbrochenem Bier), er warf die Kippe in den Rinnstein, streckte sich, sog die Morgenkälte ein, die böig vom Fluss her wehte (die Würm, die sich hinter den Häusern leise durch die Dunkelheit gurgelte). Er ließ den Lärm zurück, das Gequatsche, die Musik, das Bier und was er sich noch gegeben hatte – es war genug. Wo stand das Auto? Sein Stolz, den er nur selten aus der Garage holte (meistens fuhr er mit der S-Bahn in die Stadt): froschgrün (bei Tageslicht), vierzig Jahre alt und zu dieser Stunde fraglos in besserem Zustand als sein Fahrer. Der Grund, weshalb er an diesem Tag mit dem Veteran unterwegs war, bestand (wieder einmal) in dessen Reparaturanfälligkeit, an der Kraftstoffpumpe gab es etwas zu beheben, er konnte nicht alles selber machen. Faruk, der Schrauber seines Vertrauens, hatte seine Werkstatt in Pasing, in einem Hinterhof (dabei war das Etablissement alles andere als eine Hinterhofwerkstatt, jeder Schraubenschlüssel, jedes Ersatzteil, lag oder hing an seinem Platz, alles blitzte und blinkte, der Laden war geradezu klinisch sauber und immer tadellos aufgeräumt). Der Türke, heftiger Liebhaber alter Autos, war der einzige, dessen Händen Max das Goldstück überließ (auch wenn er dafür jedes Mal bis an den westlichen Stadtrand fahren musste). Es gab wenige, die wie Faruk alte Autos schätzten und sogar bereit waren auch mal samstags (oder an einem Tag wie heute) an ihnen zu arbeiten. (Max tat immer gekränkt, wenn jemand den Wagen den DKW nannte – es war ein Auto Union 1000 S de Luxe Coupé mit Scheibenbremsen und Panoramascheibe, das absolute Topmodell von 1959, ein bildschöner, völlig unkorrekter Zweitakter, er liebte das blaue Wölkchen paffende Rönn-dön-dön-dön). Es war widerlich kalt, er würde frieren in dem alten Ding (was tagsüber weniger ins Gewicht fiel, die nächtliche Fahrt hatte er nicht geplant). Immerhin lag kein Schnee, hier wenigstens. Um nach Hause zu kommen, musste er die Isar überqueren, er wohnte in Deining. Am schnellsten führe er über Forstenried und die Starnberger Autobahn zur Schäftlarner Brücke, allerdings war dieses Autobahnstück eins der bestüberwachten im Freistaat (wie er immer wieder feststellte). Natürlich war es bescheuert, mit dem Auto zu einer Silvesterfeier zu fahren. Er hatte nicht vorgehabt, nachdem er das Auto geholt hatte, noch etwas zu unternehmen, das neue Jahr (Jahrhundert, Jahrtausend) hätte gern ohne ihn anfangen können. Das Datum spielte keine Rolle, unausweichlich würde das Jahr Entscheidendes bringen (ihn fröstelte, die gefühlte Temperatur fiel um zwei Grad): die Vereidigung zum Beamten auf Lebenszeit stand bevor, zwei Monate noch und er wäre Regierungsrat (eigentlich nicht schlecht für den Anfang), und das bloß, weil er seinen Doktor mit Ach und Krach hingekriegt hatte, über Literarisches hatte er geschrieben, Eichendorff und die andern, In einem kühlen Grunde, Da geht ein Mühlenrad, Meine Liebste ist verschwunden, Die dort gewohnet hat (scheiß drauf!). Auf Lebenszeit klang freilich nach lebenslänglich – doch das hatte er mit sich ausdiskutiert. Dann war ihm auf dem Heimweg (er war schon in Solln) das Fest bei Filippo eingefallen, seinem Freund (und Arzt), den er noch von der gemeinsamen Zeit bei der freiwilligen Feuerwehr kannte und der im letzten Sommer Teilhaber einer Gemeinschaftspraxis geworden war. Auch so ein Aufsteiger. Immerhin hatte der meistens Zeug, was man nicht einfach in der Apotheke bekam. Er könnte vorbeischauen – vielleicht ist Els da! Der Gedanke hatte ihn (wie immer) für einen Moment aus dem Takt gebracht. Els, die mit ihm Literatur studiert hatte, bis er auf Jura umgestiegen war. Wegen Els‘ Vater. Letztendlich war Els schuld. Sie war sowieso an allem schuld. Sie hatte über Rilke gearbeitet, Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht. Man fühlt den Wind von einem großen Blatt. Und noch bevor sein Jahrhundert gegangen war, war Els gegangen. Fast ein halbes Jahr hatte er sie nicht mehr gesehen. Els! Sie war wirklich gegen elf aufgetaucht (eine Schar Verehrer im Schlepp, Lothar, Sepp und wie sie alle hießen, widerliche Bande), hatte gegen Mitternacht allen, die um sie herumstanden (und fast die ganze Gesellschaft stand um Els herum), eine Weintraube in den Mund gesteckt, man war (natürlich) einander um den Hals gefallen – nein, nichts war natürlich, wenn er ehrlich war, war er froh, dass sie ihn überhaupt angeschaut hatte – pünktlich waren irgendwo ein paar Sektgläser zu Bruch gegangen, und jemand hatte einen Walzer aufgelegt (wieder schüttelte es ihn). Gegen halb zwei war Els gegangen, mit einem ihrer Fans (rücksichtslos knutschend). Max hatte vielleicht zwei Minuten, alles zusammengenommen, mit ihr geredet. Sie hat mir Treu versprochen, Gab mir ein’n Ring dabei, Sie hat die Treu gebrochen, Mein Ringlein sprang entzwei. (Fuck! Wieso überfällt ihn jetzt das ganze überspannte romantische Zeug. Von einem Ring war nie die Rede. Das hätte noch gefehlt. Obwohl.)

Er könnte den Weg nehmen, den er gelegentlich fuhr, wenn er aus dem Westen kam, über Solln und die Grünwalder Brücke. Er verwarf den Gedanken, zu gefährlich, zu nah an der Stadt. Am sichersten wäre – weit draußen – die Wolfratshauser Brücke (Vroni war aus Wolfratshausen, sie war mit Horst auf dem Fest erschienen und mit ihm wieder verschwunden, aber sie war sowieso zweite Wahl), nur: Wolfratshausen war ein elender Umweg, wenn man nichts wie (allein, wenn’s denn sein musste) ins Bett wollte. Und wenn er diese heikle Autobahn meiden wollte, müsste er über Starnberg fahren: kein sicheres Gebiet, gerade Starnberg! Vor zwei Wochen hatten ihn die Starnberger blasen lassen, nullkommavier, Glück gehabt. Summer surprised us, coming over the Starnbergersee with a shower of rain, die Literatur hatte ihn jedenfalls noch nicht (wie Els) verlassen (um diese Jahreszeit kam vom See her freilich eher Nebel). Über Dichterjuristen hatten sie ihn promovieren lassen, das immerhin, Verhaeren und so. Eichendorff. Und Saint-John Perse! – Jeunes femmes! et la nature d’un pays s’en trouve toute parfumée … was hatte Els immer gut gerochen – nach Veilchen. Oder war’s Flieder? Und Carol hatte mit einem Typen, den er nicht kannte, rumgemacht (ein Ami, dem Gelaber nach). Alles in allem eine bescheuerte Fete, das hätte er sich sparen können. Nicht einmal aus dem Christbaumverbrennen war was geworden, Filippo, der Spießer, hatte gemeint, das sei zu früh, komm an Dreikönig wieder. Zwei, drei andere Bräute wären noch infrage gekommen, allenfalls, er wusste keine Namen. Alle zweite Wahl, höchstens. Wobei: zweite Wahl würde irgendwie zu ihm passen (in ihm lachte es auf), in seinem Leben war alles zweite Wahl, das Studium zum Beispiel. Er hatte gewechselt, weil Els‘ Vater ihm in Aussicht gestellt hatte, irgendwann in die Kanzlei einzusteigen, der Vater hatte ihn gemocht. Jura wäre kreativ, man könne viel bewirken, Gutes tun, bla bla. Als es dann mit Els vorbei war, hatte sich auch der Kontakt zum Vater abgekühlt, logisch, im Studium war er aber schon so weit, dass er es nicht mehr abbrechen wollte. Und inzwischen konnte er der Juristerei sogar einiges abgewinnen, das mit der Kreativität war vielleicht nicht falsch. Dann eben in irgendein Amt, erst mal. Beim Staat. Und? – war doch o.k. für den Anfang, Regierungsrat und so. Die Literatur konnte er nebenbei betreiben (wäre als Beruf eh brotlos gewesen), die war dann halt jetzt die zweite Wahl (wieder Aufgelächter). Eh alles erloschen. Bitteres stieß ihm auf (er hatte allerhand durcheinandergegessen). Zum Schluss, da hatte er sich mit einer Zigarette und einem letzten Bier in die Ecke verzogen, wollte seine Ruhe, da hatte ihn diese Schwatzblase Gesine oder wie sie hieß noch angebaggert, (das Make-up nicht mehr unbeschädigt, wie die ganze Person), nicht sein Typ, überhaupt nicht (dürr wie die war), trotzdem war er nahe daran gewesen ihr nachzugeben (getrunken hatte er hinreichend). Wenn schon nicht Els (Els, das hatte wehgetan). Oder wenigstens Vroni. Oder Carol. Als unordentlicher Figurentanz traten sie in der dunklen Straße zwischen den ahnungs- und lieblosen Eigenheimen vor ihm auf. Die Schäftlarner Brücke war sicher am besten, die Autobahn musste er nicht zwingend nehmen, er kannte sich aus. Er konnte sich auf Schleichwegen an die Brücke heranmachen (bei einer Brücke wird’s wohl klappen, hehe), von Leutstetten führte ein schmales Waldsträsschen an der Schwaig vorbei nach Wangen. Und von da nach Schäftlarn und über die Isar. So könnte es gehen. Gar so übel war die Gisa (oder so) in ihren abgeschabten Lederklamotten zuerst nicht, struppige rote Haare (ob die Farbe echt war? – wahrscheinlich nicht), ein bisschen jung vielleicht (ob die schon achtzehn war? – aber das war ja kein Schaden). Und etwas ordinär, hehe. Erheblich blau auch (das waren alle). Eine Macke hatte sie, so wie die drauf war. Wie heißt du was studierst du (er studierte schon lange nichts mehr, das sah man doch) was machst du woher kennst du Filippo hast du mal eine Zigarette für mich haben wir uns nicht schon mal im Club gesehen und so fort, nur Geseier ohne Punkt und Komma, bestimmt hatte sie was genommen. Hätte ja interessant werden können (er hatte da seine Erfahrungen). Gepierct war sie auch, auf der Zunge und wer weiß, wo noch überall. Sie rauchten zusammen eine von seinen Marlboro, er hatte seine Fantasie ein bisschen spazieren geführt, während ihr Geblubber durch ihn hindurchperlte, und er sich (Typ hin, Typ her) in ihren entgegenkommenden Ausschnitt versenkte (mit, wie er fand, Spurenelementen von Weiblichkeit drin). Was sie wollte, war klar. Das hatte was. Nur hörte sie sich an, als würde sie die Nacht durchplappern. Und was für einen Mist. Er sah sich am Morgen (also am Nachmittag) neben ihr aufwachen, Nettigkeiten absondern, das Frühstück mit ihr teilen – mit einem Mal war er ernüchtert, fühlte sich geprellt (Els mischte sich – wieder einmal – in die Fantasien). Post coitum animal triste, soweit reichte das Latein noch. Das muss man nicht abwarten. Nicht viel, und ihm wäre schlecht geworden. Wie hatte er sich verabschiedet? Hatte er das überhaupt? Unerquicklich, wie gesagt, das Fest, und es entglitt ihm, kaum dass er die ersten Schritte die Straße hinunter getan hatte (wo er den DKW an der Ecke unter der Laterne stehen sah). Alles kippte ins Dunkel, die Musik, das Geschwätz, die Figuren, Els, Vroni, Carol, Gisela (hieß sie Gisela? Quatsch, kein Mensch heißt heute Gisela). Er griff in die Hosentasche, fühlte das Taschentuch, den Autoschlüssel, zog ihn heraus (und traf auf Anhieb das Schlüsselloch). Irgendwo schrie jemand. Besoffenes Volk. Er öffnete die Tür, ließ seine Einmeterneunzig auf den Sitz fallen und schlug die Tür zu, dass es froschgrün in die Nacht schepperte, hey! Um Gauting herum müsste er wachsam sein, ganz ohne Risiko war auch diese Strecke nicht. Es war halb vier. Er fuhr los, auf Gauting zu.

Der Verkehr auf der Hauptstraße überraschte ihn. Autos voller Feiernder kamen ihm entgegen oder folgten ihm, alle blau! (nur ich bin grün – Kalauer waren ihm zur zweiten Natur geworden), manche hatten trotz der Kälte die Scheiben heruntergedreht und grölten irgendetwas in die Nacht hinaus. Immer wieder wurde gehupt. Millenniumsgetue. Er fuhr konzentriert, soweit es ihm möglich war. Nicht zu langsam natürlich. Jetzt merkte er, wie müde er war (betrunken wollte er nicht denken) trotz Speed und so Zeug, und er fing an, laut zu singen um sich wachzuhalten, oh Susanna, oh don't you cry for me, je seichter die Songs (und je lauter er sie schmetterte), desto besser erfüllten sie ihren Zweck. Im Rhythmus hieb er mit der Faust aufs Lenkrad. Selbst mitten im Wald – links und rechts hockten rußige Schneereste – sah er Lichter hinter sich (auch andere kannten den Schleichweg über die Schwaig). Die Lichter kamen auf einmal näher, der wird doch hier nicht überholen wollen, spinnt der! Nichts als Besoffene unterwegs, reiß dich zusammen, Mann. Dann war alles wieder gut, die Lichter fielen zurück. Bei Neufahrn unterquerte er die Autobahn (die er gemieden hatte), und als er oben an der Ausfahrt Blaulichter tanzen sah, gratulierte er sich.

Jetzt, in Schäftlarn, hatte er alle Gefahren hinter sich. Fünf Minuten zum Kloster runter, dann über die Brücke und auf der anderen Seite hinauf, alles im Wald. Erst einmal drüben, war er so gut wie zu Hause. Die Straße tauchte mit einer weiten Rechtskurve steil in den Isarhang ab. Wieder Lichter hinter ihm. Polizei? Blödsinn, die hätten sich bemerkbar gemacht. Der Wind hatte nachgelassen, Nebel zog von der Isar herauf. In breiten Streifen lag Schnee den Wald entlang, machte die Fahrbahn schmal, hin und wieder sah er Reste mitten auf der Straße liegen. Links und rechts erkannte er im (bescheidenen) Licht der Scheinwerfer Begrenzungspfähle und Stangen für die Schneeräumer. Vereinzelt schaukelten zierliche Flocken durch die Lichtkegel, dunkle Stämme sprangen aus dem Nichts, huschten wieder zurück, and when I find Susanna, I'll fall upon the … sh-shit!, er sollte besser aufpassen, jetzt war er glatt (haha) ins Rutschen gekommen. Vielleicht zwanzig Meter weit konnte man sehen, nicht mehr. Auf der rechten Seite glitt verwaschen die Abzweigung nach Ebenhausen vorbei, gleich würden die drei Haarnadelkurven kommen. Die Schneeflocken wurden größer. Er fuhr so umsichtig wie möglich. Winterreifen wären eine gute Idee gewesen (aber doch nicht am DKW, den er so gut wie nie fuhr). Mist. Da war das Kloster, alles gut. Oh Susanna (Els Vroni Carol Gi-dings). Die Straße, die sich zögernd weiß bedeckte, führte mitten durch die weitläufige Anlage, den Friedhof entlang, aus einem Fenster erhellte gelbes Licht diffus den Nebel, Bruder Pförtner sicher. Die Mönche schliefen, hatten‘s gut, octava hora noctis surgendum est. Die Regula sancti Benedicti hatten sie einmal in einem Seminar über mittelalterliche Literatur durchgenommen, warum er dort hingegangen war, wusste er nicht mehr, vielleicht hatte er etwas mit seinem Großen Latinum anfangen wollen. Medizin hätte er studieren können (wie Filippo). Was hätte er nicht alles machen können. Und jetzt: Regierungsrat! (ob man immer hinter seinen Möglichkeiten zurückblieb?) Noch die kerzengerade Allee runter zum Fluss, die Brücke war überraschend nebelfrei, die Schneedecke fast geschlossen. Er kroch über die Isar, die unter ihm schwarz und diskret der großen Stadt zu trieb.






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