Leseprobe aus: Gerhard Wehr, Giordano Bruno










Einige zentrale Punkte aus den Gedanken Giordano Brunos (S. 102 ff.)



Für Bruno setzt sich die Schöpfung fort, ja sie ist ein andauernder, weiter schreitender Prozeß. Für das Innen-Sein steht die Weltseele, die - wie angedeutet - das Universum auf allen nur denkbaren Ebenen und in allen Seinssphären durchdringt. Daher ergibt sich für Bruno die Lehre von der Allbeseelung (Hylozoismus*). Nicht nur Mensch, Tier und Pflanze sind beseelt, sondern auch das, was - entgegen dem Augenschein oder der Wahrnehmungsfähigkeit - gemeinhin für "leblos" oder "seelenlos" gehalten wird. Schon in "Aschermittwochsmahl" bereitete Bruno diese Auffassung vor: "Denn genau betrachtet, wird man erkennen, daß die Erde und all die anderen Körper, die wir Gestirne nennen, als hauptsächliche Glieder des Weltalls nicht nur Leben und Nahrung den Dingen spenden, die aus ihnen ihren Stoff nehmen und ihn wieder zurückgeben, sondern selbst ebenso oder gar in höherem Maße Leben in sich haben, durch das sie mit festem und natürlichem Willen aus einem inneren Prinzip sich auf angemessenen Bahnen zu den Dingen bewegen."

Neu waren diese Gedanken allerdings nicht. Der deutschamerikanische Wissenschaftshistoriker Arthur O. Lovejoy wies bereits darauf hin, daß die Elemente der neuen Kosmographie schon früher in verschiedenen anderen Bereichen existierten. Auch die Brunosche Naturphilosophie ging von bereits bestehenden Denkschemata aus, auch wenn er diese teilweise gebrauchte, um sich von ihnen - speziell von denen der Aristoteliker - abzugrenzen. Unstrittig ist jedoch, daß er als "der erste Repräsentant der Lehre vom dezentralisierten, unendlichen und unendlich belebten Universum gesehen werden (muß); denn er verkündete sie nicht nur in ganz Westeuropa mit dem Eifer eines Evangelisten, sondern er gab auch als erster eine eingehende Darstellung der Gründe, die dann zu ihrer allgemeinen Anerkennung führten" (Lovejoy).

Zu den Hindernissen, die Bruno zu überwinden hatte, gehört zweifellos die Tatsache, daß seine Sicht der Dinge dem Augenschein widerspricht, folglich nicht auf dem empirischen Weg erforscht und bewiesen bzw. einsichtig gemacht werden kann (übrigens ein Gesichtspunkt, den Johannes Kepler als ein Gegenargument benutzen sollte). Das unterscheidet Bruno von den Pionieren der modernen Naturwissenschaft. Tatsächlich war er nie ein beobachtender, mathematisch prüfender Forscher, im Gegenteil: Wie schon wiederholt bemerkt, verachtete er die Mathematik, ja er behauptete deren Unzulänglichkeit bei einer ganzheitlichen Wirklichkeitserfassung. Dadurch unterschied er sich erheblich von seinen forschenden Zeitgenossen wie Tycho Brahe und Galileo Galilei, die gerade auf die genaue Beobachtung der Phänomene großen Wert legten. Gleich im ersten Dialog seiner Unendlichkeitsschrift kommt Bruno auf die Frage nach der mathematischen Berechenbarkeit des Kosmos und auf die offenkundige Begrenztheit der Sinneswahrnehmung zu sprechen. Die begrenzten menschlichen Sinne, schreibt er, seien von ihrer Natur her nicht in der Lage, die unbegrenzten kosmologischen Tatsachen wahrzunehmen.

Demzufolge sei ein anderes Vorgehen geboten. Um zu bestimmten Erkenntnissen zu gelangen, müssen jeweils angemessene Erkenntnismittel und -methoden zur Verfügung stehen. Für das, was zwar existiert, aber nicht sinnlich wahrnehmbar ist, bedarf es eben eines anderen Erkenntnisorgans, das dafür qualifiziert ist. Bruno legt auch dar, welches "Organ" er meint: "Dem Intellekt kommt es zu, Rechenschaft zu geben über abwesende Dinge, die durch zeitlichen Abstand und räumliche Entfernung von uns getrennt sind. Und es ist uns in diesem Fall vollkommen genug, und wir haben ein hinreichendes Zeugnis durch die Sinne, da sie nämlich nicht in der Lage sind, uns zu widersprechen, und außerdem ihre Schwäche und Unzulänglichkeit durch den Anschein der Endlichkeit zeigen und eingestehen, den sie durch den Horizont hervorrufen, an dessen Hervorbringung schon zu sehen ist, wie unbeständig sie sind."

Bruno geht es also keinesfalls darum, einer generellen Erkenntnisskepsis (ignoramus ignorabimus) Vorschub zu leisten. Doch zeigt er, inwiefern die Sinne in wichtigen Fragen den Dienst verweigern, zumal sie in kosmologischen Dingen nur in unspezifischer Weise eingesetzt werden können. Schon über die Kugelgestalt der Erde täusche die Sinneswahrnehmung den Betrachter, und dennoch steht sie mittlerweile für viele außer Frage.

Von weitreichender Bedeutung ist, wie Bruno die Fassade der Sinnesbeobachtung durchstößt und damit zu einer vertieften Anschauung des physisch nicht Beobachtbaren gelangt. So lehrt uns der Augenschein beispielsweise, daß die sichtbare Welt auf ebenem Feld mit kreisförmig vorstellbarem Horizont eine runde Scheibe darzustellen scheint, über die sich eine von Sonne, Planeten und Sternen bevölkerte Halbkugel wölbt. Deshalb sagen wir heute noch - entgegen unserem Wissen von der Kugelgestalt der sich um sich selbst drehenden und um die Sonne kreisenden Erde: Die Sonne geht im Osten auf, sie erreicht mittags im Süden den höchsten Stand und geht im Westen unter. Dabei wissen wir, daß diese Redeweise auf einer Annahme beruht, die zwar der Augenschein als evident nahelegt, jedoch durch die Fakten längst widerlegt ist. Unsere tatsächliche Situation auf der Erde im Gegenüber zu deren Umkreis ist eben eine ganz andere ...

Zur Erkenntnis der Vielheit und Unendlichkeit der Welten fügt Bruno die Lehre von der Einheit allen Seins hinzu, die sich für ihn zwingend ergibt. Diese Vorstellungen erinnern an die überlieferten Fragmente des aus Unteritalien stammenden Parmenides von Elea (540—470 v.Chr.), in denen dieser sich mit dem unvergänglichen "Einen" (hen) beschäftigt. Wie sein früher Landsmann vertritt der Nolaner selbst eine ausgesprochen monistische Position, wenn er den fünften Dialog seines ‘De la causa’ mit den Worten des Teofilo eröffnet: "Das Universum ist Eins, unendlich und unbeweglich. Eins, sage ich, ist die absolute Möglichkeit, Eins die Wirklichkeit, Eins die Form oder die Seele, Eins die Materie oder der Körper. Eins die Ur-Sache, Eins das Wesen, Eins das Größte und Beste, das - um nicht erkannt werden zu können - Unbegrenzbare und Unbeschränkbare und insofern Unbegrenzte und Unbeschränkte und folglich Unbewegliche."

Bruno charakterisiert dieses absolute Eins und Alles - das hen kai pan der antiken Denker - als ohne Anfang und Ende, weil es kein anderes Sein geben kann, das etwas begehren oder ersehnen könnte. Es hat ja schon selbst alles Sein in sich, etwa analog zum "Pleroma" auf der Ebene der göttlich-geistigen Welt bei den frühchristlichen Gnostikern. Und unvergänglich ist es, weil es auch nichts anderes gibt, in das es sich verwandeln könnte, zumal es, da es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich birgt, in seiner Zeitlosigkeit besteht, eine zeitlose, im Urewigen aufgehobene Schöpfung. Im Doppelsinn des Wortes aufgehoben ist in ihr auch der Mensch.

Wenn aber diese Behauptung zutrifft, so läßt Bruno seinen als unwissend gezeichneten Dialogpartner, den Pedanten Burchio, am Eingang der Unendlichkeitsschrift sagen, dann sei er zwar nicht in der Lage, dieses "Unendliche" in seinen Kopf zu bringen und in seinem Magen zu verdauen, doch es sei allemal tröstlich, "denn falls ich je das Mißgeschick hätte, aus dieser Welt hinauszufallen, geriete ich doch immer an irgendeinen Ort". Er fiele eben niemals aus diesem Eins heraus, sondern bliebe in dem Einen geborgen. Diese Ansicht teilt Bruno durchaus. Wer sich die Vorstellung dieses Geborgenseins zu eigen macht, der muß sich auch nie als Ausländer oder als Flüchtender verstehen. Er ist in dem großen Einen zu Hause und schon am Ziel, auch wenn er - vor der Geburt und nach dem Tod - sich in immer neue Existenzformen hineinbegibt, d. h. im Brunoschen Sinne wiederverkörpert wird. Wie bereits besprochen, stellt sein auf Gewißheit beruhender Glaube an die Ewigkeit, d.h. an die Präexistenz und Reinkarnation der Seele (bzw. des menschlichen Wesenskerns) einen unverzichtbaren Bestandteil seiner Weltanschauung dar. Oder um es in einem Bild auszudrücken: Die Bühne der Welt ändert sich ständig; es verändern sich die Stücke, mithin die dazu benötigten Masken und das Bühnenbild (sprich: die jeweils konkrete Schicksalskonstellation). Doch die Schauspieler und Schauspielerinnen, die in die verschiedenen Rollen schlüpfen, bleiben dieselben, auch wenn die Zuschauer ihre Identität nicht erkennen.

Was Bruno immer wieder zu bedenken gibt, ist die Frage des Zugangs zum allumfassenden Einen, das letztlich für Gott steht. Das Eine ist der Inbegriff der Unendlichkeit, entzieht sich aber der Erkenntnis. Der endliche Verstand des Menschen versagt hier in ähnlicher Weise wie der Augenschein angesichts der kosmischen Phänomene. Das Eine kann zwar gleichsam erspürt oder annäherungsweise ertastet werden, man kann sich ihm erkenntnismäßig annähern, aber umfassen und in seiner Totalität ergreifen kann man es nicht. Hier greift er auf Nikolaus von Kues und dessen Gedanken von der Einheit der Gegensätze (coincidentia oppositorum) zurück, denn in dem Einen, um das es Bruno geht, vereinigen sich das Qualitative und das Quantitative, das Unkörperliche und das Körperliche, die Seele und die Materie, kurzum all das, was - um mit Heraklit zu reden - eine Gegensatzstruktur aufweist, eben die Wirklichkeit als solche, denn erst durch sie als dem Vater und der Mutter aller Dinge ist schöpferisches Werden überhaupt denkbar. Erst durch sie wird die unüberschaubare Vielfalt von Substanzen und Formenreichtum möglich.









* Hylozoismus, von griechisch hyle = Materie und zoé = Leben, bezeichnet die philosophische Anschauung, wonach alle Materie als belebt, bzw. beseelt (Hylopsychismus) betrachtet wird. Diese Vorstellung findet sich bereits bei den vorsokratischen griechischen Naturphilosophen, die über das Wesen des Urstoffes nachdachten. So meinte z.B. Thales von Milet, die allgegenwärtige Urmaterie sei das Wasser, nicht zuletzt wegen der Wandelbarkeit des Flüssigen. Hylozoismus findet sich bei den Stoikern, nach Bruno unter anderem bei Diderot.


zurück zum Text







         
         
nach oben
 
Ausdrucken