Leseprobe aus: Markus Werner, Am Hang



S. Fischer, gebundene Ausgabe, S. 99 ff.






Der Ich-Erzähler und der Fremde, der sich mit dem Namen Loos vorgestellt hatte, verbringen den zweiten Abend gemeinsam am Restauranttisch.

Ich muss um Nachsicht bitten, sagte ich, ich habe mich Ihnen aufgedrängt und Ihre Kreise gestört. Es fällt mir sehr leicht, Kontakte zu knüpfen, und als extravertierter Mensch laufe ich offenbar manchmal Gefahr, nicht zu merken, dass andere anders sind. Ich fühle mich wohl unter Leuten und bin ungern allein, für mich ist Menschenscheu ein Fremdwort. Wie es sich ohne Umgang lebt und leben lässt, ist mir ein Rätsel. Gut, Sie haben zum Glück noch die Schule, was aber geschieht in der Freizeit? Was tun Sie in den Ferien? Reisen Sie wenigstens manchmal? – Ich halte es mit Ovid, sagte Loos, bene qui latuit, bene vixit. – Das müssten Sie mir übersetzen, sagte ich, ich verstehe leider nur „bene“, Latein war nicht meine Stärke. – Wer gut verborgen war, hat gut gelebt, sagte Loos, aber von solcherlei Wahrheit ahnt das Rudeltier nichts. Im übrigen, so arg allein bin ich nun auch wieder nicht, ich bin ja innerlich vereint, aber lassen wir das. Also, was tue ich in meiner Freizeit? Sie werden staunen, ich tue das, was mir vorschwebt seit meiner Geburt, nämlich nichts. Das gelingt mir natürlich nicht immer, aber ich übe und übe und bin auf dem Weg. Der Klügere gibt nach, sage ich mir und überlasse es den Tätigen, sich gegen die Schwerkraft zu stemmen. – Wie sieht das Nichtstun denn aus, konkret, und wie kann man sich darin üben? fragte ich Loos. - Nun, sagte er, üben heißt hier wie überall: etwas immer von neuem versuchen, bis es gelingt. Nehmen Sie an, Sie liegen auf dem Sofa, am Samstagmittag, und setzen sich das Lernziel, zwei Stunden lang liegen zu bleiben, ruhig, aber ohne zu schlafen. Sie hören, wie eine Nachbarin staubsaugt oder jemand den Rasen mäht. Statt jetzt an Dinge zu denken, die zu erledigen wären, sollten Sie nur die Spinne betrachten, die reglos an der Zimmerdecke sitzt und dabei keinesfalls dem Wunsch nachgeben, sie aus dem Weg zu räumen. Jetzt läutet Ihr Telefon. Als Anfänger springen Sie auf und greifen zum Hörer. Das wäre nur dann bedenklich, wenn Sie aus Ihrem Versagen nichts lernten. Gehen Sie in sich, üben Sie weiter, bis Sie die Freiheit erlangen, auf Außenreize, die Sie zu einem Tun verleiten wollen, nicht mehr zu reagieren.

Ich verstehe, sagte ich, aber wozu das alles, was ist der Sinn der Übung? – Vielleicht, sagte Loos, erfahren Sie zwei Stunden lang, wie es sich anfühlt, kein Sklave zu sein, wie friedlich es in Ihnen wird, wenn Sie das Dauergefühl, etwas zu müssen, für eine Weile verlieren. – Jedem das Seine, antwortete ich, mir ist es wohler, wenn ich tätig bin, selbst dann, wenn hinter meiner Tätigkeit ein Müssen steht und nicht das eigene Wollen. – Ja ja, sagte Loos, sich regen bringt Segen, das sagt auch der Volksmund, das habe ich mir auch gesagt, nein eingehämmert, um mich zu überreden, nach Zakynthos zu fliegen. Sie haben mich ja nach etwaigen Reisen gefragt, nicht wahr, ich habe eine unternommen, acht Tage Zakynthos im September vergangenen Jahres, und die Vollmundigkeit des Volksmunds hat sich dabei als himmelschreiend erwiesen. Mein Urlaub war scheiße. Ich verwende das Wort bewusst, es ist das einzige vulgäre Wort, das ich je aus dem Mund meiner Frau vernahm, und auch das nur ein einziges Mal. Sie fluchte nämlich nie, sie brauchte fast nie Kraftausdrücke, es wäre aber falsch, wenn Sie jetzt denken würden, sie sei brav oder bieder gewesen, sie war nur fein, und klänge es nicht so madonnig, so würde ich sagen: rein. Sie stand eines Morgens vor dem Schlafzimmerspiegel, nackt, und meinte wahrscheinlich, die Tür zur Stube, in der ich saß, sei zu, ich könne sie nicht hören. Bekanntermaßen gibt es am weiblichen Körper bestimmte Zonen, die als Problemzonen gelten, weil sie für Fettablagerungen besonders anfällig sind. Auch meine Frau war da und dort ein bisschen fülliger als früher, und diese Zonen lehnte sie ab, während ich ihnen zugetan war. Das glaubte sie mir nicht, obwohl ich es ihr zu vermitteln versuchte. Es war ihr unangenehm, an einer solchen Stelle berührt zu werden, sie zuckte förmlich zurück, kurzum, sie stand eines Morgens vor dem Schlafzimmerspiegel und sagte ziemlich laut: Ich sehe scheiße aus.

Loos blickte über mich hinweg, abwesend, als lausche er diesem Sätzchen nach.

         
         
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