Leseproben aus: Ken Wilber, Mut und Gnade
[1] Aus dem Tagebuch von Treya, kurz nach dem Beginn der Strahlenbehandlung (S. 82 f.)
[2] Ken liest Treya auf ihren Wunsch aus seinem Buch "Wege zum Selbst" vor (S. 154 ff.)
[3] Treya beschäftigt sich mit der Frage, wie sie anderen an Krebs erkrankten Menschen eine Hilfe sein kann. Sie übt Kritik an pauschalen Aussagen wie "Du schaffst dir deine Wirklichkeit selbst". Die Frage ist: "Welche Hilfe hilft wirklich?" (S. 284 f.)
[4] Treya wird in der Janker-Klinik in Bonn behandelt; Ken fährt (allein) zur Burg Drachenfels (S. 334)
[1]
Aus dem Tagebuch von Treya, kurz nach dem Beginn der Strahlenbehandlung (S. 82 f.)
Die Balance finden zwischen dem Lebenswillen und dem Annehmen des Todes. Beide sind notwendig. Es scheint, daß ich den Tod schon akzeptiere; mache mir Sorgen, daß ich vor dem Tod keine Angst habe – das könnte ja bedeuten, daß ich sterben möchte. Aber ich möchte nicht sterben; ich habe eben nur keine Angst davor . Ich möchte Ken nicht verlassen! Also werde ich kämpfen!
Aber ich weiß auch von Jerry [Gerald] Jampolsky [der auf der Basis von A Course in Miracles mehrere Bücher geschrieben hat, unter denen Liebe heißt die Angst verlieren hervorzuheben ist], daß ich lernen muß loszulassen; wie Jerry sagt: "Laß los und laß Gott." Er hat mich wirklich aus meinem eigenen Kram herausgeschüttelt. Anstatt dich und andere ändern zu wollen, versuch es doch mal mit dem Verzeihen, dir selbst verzeihen und anderen verzeihen. Und wenn ich jemandem nicht verzeihen kann (weil mein Ego es nicht zulassen will), dann muß ich den Heiligen Geist in mir bitten zu verzeihen. Ich bitte also eigentlich mein höheres Selbst, anderen und mir selbst zu verzeihen. "Gott ist die Liebe, in der ich verzeihe", heißt es im Course.
Mir selbst verzeihen, heißt aber, mich selbst akzeptieren. Schluck! Dann müßte ich mich ja von einem alten Freund verabschieden - der Selbstkritik. Bruder Skorpion. Wenn ich mir all das vorstelle, was ein gutes Verhältnis zu mir selbst verhindert, dann sehe ich, gleichsam als Hintergrund aller meiner Probleme und alles andere überragend, einen Skorpion, der den Schwanz über den eigenen Rücken gekrümmt hat - bereit, sich selbst zu stechen. Das ist die Kritiksucht gegenüber mir selbst, mit der ich mich fertigmache, mit der ich mich unliebenswürdig finde, das Grundgefühl hinter allen anderen Problemen, die ewigen Klagen gegen mich selbst, die mich das Licht nicht sehen lassen - und die Wunder, die nur in diesem Licht zu sehen sind. Hmmm. Die härteste Nuß. Wird schon besser, aber immer noch die härteste Nuß. Leicht saures Gefühl im Magen, wenn ich nur daran denke. So fühlt sich das Gift, das ich mir selbst gebe, an, wenn ich es schlucke.
Früher, wenn jemand etwas Nettes über mich sagte, habe ich das aufgeschrieben; ich konnte kaum glauben, daß jemand so über mich dachte. Es fällt mir manchmal schwer zu glauben, daß jemand mich wirklich lieben kann; irgendwo ist da ein Bruch: Einerseits weiß ich, daß ich ganz in Ordnung bin, daß die Leute gern in meiner Nähe sind, daß ich intelligent, hübsch und so weiter bin ... und doch begreife ich manchmal nicht, wie irgendwer (vor allem ein Mann) mich wirklich lieben kann.
(Ende des Tagebucheintrags)
Es war übrigens durchaus nicht so, daß Treya nicht schon eine Menge "geleistet" und "getan" hätte. Sie hatte mit Auszeichnung graduiert und dann im Fach Englische Literatur unterrichtet, bevor sie wieder an die Universität ging (Boston), um ihren Magister zu machen; sie hatte bei der Gründung von Windstar geholfen und dort drei Jahre als Ausbildungsleiterin gearbeitet; sie hatte am California Institute for Integral Studies den Magister im Fach psychologische Beratung erhalten; sie hatte drei Jahre in Findhorn gearbeitet, gehörte dem Rocky Mountain Institute an, war Mitglied der Threshold Foundation, Mitarbeiterin beim Jugendaustauschprogramm zwischen den USA und der UdSSR. Und ihre «Liste des Tuns», wie sie es nannte, sollte noch gewaltig anwachsen; allein mit ihren Schriften über Krebs und Krankheit sollte sie über eine Million Menschen auf der ganzen Welt erreichen.
Trotzdem, und gerade in dieser Zeit, fand Treya nicht die rechte Wertschätzung für das, was sie war, und so konnte sie wirklich nicht begreifen, weshalb die Menschen sie so sehr mochten und liebten und so gern in ihrer Nähe waren. Was sie war, machte sie anziehend, nicht irgendeine Liste des Tuns, mochten deren einzelne Punkte noch so bedeutend sein; und Treya übersah das offenbar, wollte dem keinen Wert beimessen.
Es gab Zeiten, wo sie völlig baff war angesichts der Tatsache, daß ich sie liebte, und darüber war ich dann wieder völlig baff. In diesem ersten Jahr kam es immer wieder zum gleichen Gespräch, in dem ich immer wieder entgeistert antwortete: "Was, du kannst nicht verstehen, weshalb ich dich liebe? Willst du mich veräppeln? Mir scheint, du meinst das ernst, oder? Ich liebe dich restlos und total, und du weißt das. Ich bin vierundzwanzig Stunden am Tag für dich da, weil ich absolut verrückt nach dir bin. Du denkst, du bist wertlos, weil du deine eigentliche Berufung noch nicht gefunden hast. Du findest sie, da bin ich ganz sicher, aber bis dahin kannst du doch nicht einfach übersehen, was du bist! Das kann doch nicht dein Ernst sein. Die Leute sind komplett begeistert von dir, das weißt du doch. Ich kenne sonst niemanden mit so vielen außergewöhnlichen, treu ergebenen Freunden. Wir lieben das, was du bist, nicht, was du tust."
[2]
Ken liest Treya auf ihren Wunsch aus seinem Buch "Wege zum Selbst" vor (S. 154 ff.)
"Lies mir noch was vor." Ich konnte nicht den Arm um sie legen, sie war außerstande, länger als ein paar Minuten stillzusitzen.
In dem Maße, wie Ihnen klar wird, daß Sie beispielsweise Ihre Ängste nicht sind, bedrohen Ihre Ängste Sie nicht mehr. Angst mag vorhanden sein, aber Sie werden von ihr nicht mehr überwältigt, weil Sie nicht mehr mit ihr identifiziert sind. Sie kämpfen nicht mehr gegen sie an, Sie leisten keinen Widerstand, Sie laufen nicht weg vor ihr. Schließlich soll die Angst angenommen werden, wie sie ist, sie soll den Lauf nehmen, den sie nun mal nimmt. Sie haben durch ihr Kommen und Gehen nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen, denn Sie sehen sie einfach ihren Lauf nehmen, wie Sie vielleicht den ziehenden Wolken zuschauen ... Wenn Sie das beharrlich üben, wird die Einsicht, die darin liegt, wirksam werden, und Sie bemerken vielleicht Ansätze zu einem völlig anderen "Ich"-Gefühl. Es kann zum Beispiel sein, daß Sie eine Ahnung bekommen von einem tiefen inneren Frieden, einer erlösenden Leichtigkeit. Dieser Grund, dieses unbewegte "Auge des Zyklons", wird seine klare Ruhe immer behalten, auch wenn draußen der Wirbelsturm von Angst und Leid rast.
Vielleicht können wir uns dieser fundamentalen Einsicht der Mystiker, daß es nur ein unsterbliches Selbst gibt - einen Zeugen, der für uns alle derselbe ist - so nähern: Wie die meisten Menschen empfinden vielleicht auch Sie, daß Sie heute derselbe sind wie gestern oder vor einem Jahr und überhaupt, so weit Sie sich zurückerinnern können. Anders gesagt, Sie erinnern sich an keine Zeit, in der Sie nicht Sie waren. Etwas in Ihnen scheint also unberührt zu bleiben vom Lauf der Zeit. Gewiß ist aber Ihr Körper ein anderer als vor einem Jahr, und Ihre Empfindungen sind andere als die früheren. Auch Ihre Erinnerungen sind insgesamt anders als vor zehn Jahren. Ihr persönlicher Geist, Ihr Körper, Ihre Gefühle - alles ändert sich mit der Zeit. Aber etwas ändert sich nicht, und Sie wissen, daß da etwas ist, das sich nicht ändert. Was ist das, was sich immer gleich anfühlt? ...
Es ist Ihre transzendente Ichheit, und dieses Ich - es gibt nur eins im ganzen Kosmos — ist dasselbe Ich, das in jedem neugeborenen Wesen erwacht, das Ich, das aus den Augen unserer Vorfahren blickte und aus den Augen unserer Nachkommen blicken wird ...
Aber dieses innere eine Ich - was ist das? Es wurde nicht mit Ihrem Körper geboren und wird nicht mit Ihrem Körper untergehen. Es kennt keine Zeit und gibt sich nicht mit ihren Wechselfällen ab. Es ist ohne Farbe, ohne Form, ohne Größe, und doch ist es das, was all die Pracht vor Ihren Augen wahrnimmt. Es sieht die Sonne, die Wolken, die Sterne, den Mond, aber ist selbst nicht sichtbar. Es hört die Vögel, die Grillen, den Wasserfall, aber ist selbst nicht zu hören. Es erfaßt das dürre Blatt, den Stein, den knorrigen Ast, aber ist selbst nicht zu fassen.
Versuchen Sie gar nicht erst, Ihr transzendentes Ich zu sehen, es geht nicht. Kann Ihr Auge sich selbst sehen? Üben Sie einfach beharrlich, Ihre irrtümlichen Identifikationen mit Ihren Erinnerungen, Ihrem mentalen Geist, Ihrem Körper, Ihren Emotionen und Gedanken fallenzulassen. Das erfordert keine übermenschlichen Anstrengungen und keine theoretische Durchdringung. Es kommt in erster Linie darauf an zu begreifen, daß alles, was Sie sehen, nicht der Sehende sein kann. Alles, was Sie über sich wissen, ist eben nicht Ihr Selbst, der Erkennende, die innere Ichheit, die weder gesehen noch definiert, noch in irgendeiner Weise zu einem Objekt gemacht werden kann. Je mehr Sie mit Ihrem wahren Selbst in Berührung kommen, desto weniger sehen Sie; Sie spüren nur einen inneren Raum der Freiheit, der Erlöstheit, der Offenheit, in dem es keine Grenzen, keine Beschränkungen und keine Objekte gibt. Im Buddhismus nennt man das "Leere" ... Das ist eine einfache, aber mühevolle Übung, doch sie führt, so heißt es, zur vollkommenen Befreiung in diesem Leben, denn das transzendente Selbst gilt überall auf der Welt als ein Strahl der Göttlichkeit. Im Grunde sind Ihr transzendentes Selbst und Gott von einer Natur. Im Letzten und Tiefsten ist es Gott selbst, der durch Ihre Augen sieht, mit Ihren Ohren hört und mit ihrer Zunge spricht. Wie sonst könnte der heilige Clemens sagen, daß der Gott erkennt, der sich selbst erkennt? Das also ist die Botschaft der Heiligen, Weisen und Mystiker, seien sie Indianer, Taoisten, Hinduisten, Muslime, Buddhisten oder Christen: Am Grunde Ihrer Seele ist die Seele der Menschheit, und das ist eine göttliche, transzendente Seele, die Sie von der Gefangenschaft zur Freiheit, vom Traum zum Erwachen, von der Zeit zur Ewigkeit, vom Tod zur Unsterblichkeit führt.