Leseproben aus: Virginia Woolf, Mrs Dalloway



S. 42 ff., 68 ff., 186 ff.



[1] Während Clarissa an ihrem Kleid, das sie zur Abendgesellschaft anziehen wird, näht, taucht unerwarteter Besuch auf: Peter Walsh, ein Jugendfreund, den sie beinahe geheiratet hätte, ist nach langjährigem Aufenthalt in Indien wieder zurück. (S. 42 ff.)

[2] Während Peter Walsh durch London bummelt (siehe am Ende dieses Ausschnitts) ist auch Septimus Warren Smith mit seiner Frau Rezia (Lukrezia) im Park. Seine Kriegserinnerungen, vor allem der Tod seines Kameraden Evans, haben ihn in den Wahnsinn getrieben. (S. 68 ff.)

[3] Auf der Abendgesellschaft erreicht Clarissa die Nachricht von Warren Smiths Selbstmord. (S. 186 ff.)




[1]

Während Clarissa an ihrem Kleid, das sie zur Abendgesellschaft anziehen wird, näht, taucht unerwarteter Besuch auf: Peter Walsh, ein Jugendfreund, den sie beinahe geheiratet hätte, ist nach langjährigem Aufenthalt in Indien wieder zurück. (S. 42 ff.)


»Guter Gott, die Haustürklingel!«, rief Clarissa und hielt ihre Nadel an. Auffahrend lauschte sie.

»Mrs Dalloway wird mich empfangen«, sagte der ältliche Herr in der Diele. »O ja, mich wird sie empfangen«, wiederholte er und schob Lucy sehr wohlwollend beiseite und rannte die Treppe ungewöhnlich schnell hinauf. »ja, ja, ja«, murmelte er, während er hinauflief. »Mich wird sie empfangen. Nach fünf Jahren in Indien wird Clarissa mich empfangen.«

»Wer kann – was kann –«, fragte Mrs Dalloway (sie fand es unglaublich, daß sie an dem Tage, an dem sie eine Gesellschaft geben würde, um elf Uhr vormittags gestört wurde), als sie einen Schritt auf der Treppe hörte. Sie hörte eine Hand an der Tür. Sie war dabei, ihr Kleid zu verstecken, wie eine Jungfrau, die ihre Keuschheit schützt, ihre kleinen Geheimnisse wahrt. Jetzt drehte sich der Messingknauf. Jetzt öffnete sich die Tür, und herein kam – einen einzigen Augenblick konnte sie sich nicht erinnern, wie er hieß! so überrascht war sie, ihn zu sehen, so froh, so verlegen, so grenzenlos überrascht, daß Peter Walsh unerwartet am Vormittag zu ihr kam! (Sie hatte seinen Brief nicht gelesen.)

»Und wie geht es dir?« sagte Peter Walsh, deutlich zitternd; ihre beiden Hände ergreifend; ihre beiden Hände küssend. Sie ist älter geworden, dachte er, als er sich setzte. Ich werde ihr nichts darüber sagen, dachte er, denn sie ist älter geworden. Sie sieht mich an, dachte er, von einer plötzlichen Verlegenheit gepackt, obgleich er ihre Hände geküßt hatte. Er steckte seine Hand in die Tasche, zog ein großes Taschenmesser heraus und klappte die Klinge halb auf.

Vollkommen der selbe, dachte Clarissa; der selbe sonderbare Blick; der selbe karierte Anzug; ein bißchen schief geworden ist sein Gesicht, ein bißchen dünner, trockener, vielleicht, aber er sieht fabelhaft aus, ganz der selbe.

»Wie herrlich, dich wiederzusehen!« rief sie. Er hatte das Messer aufgeklappt. Das sieht ihm so ähnlich, dachte sie.

Er sei erst gestern abend in die Stadt gekommen, sagte er; müßte sofort aufs Land; und wie ginge es mit allem, wie ginge es allen – Richard, Elizabeth?

»Und was hat das zu bedeuten?«, sagte er und machte einen Ausfall mit seinem Messer gegen ihr grünes Kleid.

Er ist sehr gut angezogen, dachte Clarissa; aber mich kritisiert er immer.

Hier flickt sie ihr Kleid; flickt ihr Kleid wie eh und je, dachte er; hier hat sie die ganze Zeit gesessen, während ich in Indien war; ihr Kleid geflickt; herumgepusselt; ist auf Gesellschaften gegangen; ins Unterhaus und wieder zurückgerannt und all das, dachte er, immer gereizter, mehr und mehr erregt, denn für manche Frauen ist nichts in der Welt schlimmer als die Ehe, dachte er; und die Politik; und einen Konservativen zum Mann zu haben, wie den wunderbaren Richard. So ist es, so ist es, dachte er und ließ sein Messer zuschnappen.

»Richard geht es sehr gut. Richard ist in einer Sitzung«, sagte Clarissa.

Und sie öffnete ihre Schere und sagte, würde es ihn stören, wenn sie eben fertig machte, was an ihrem Kleid zu tun sei, denn sie hätten heute abend eine Gesellschaft?

»Zu der ich dich nicht einladen werde«, sagte sie. »Mein lieber Peter!«, sagte sie.

Aber es war köstlich, sie das sagen zu hören – mein lieber Peter! Wirklich, es war alles so köstlich – das Silber, die Sessel; alles so köstlich!

Warum wolle sie ihn nicht zu ihrer Gesellschaft einladen? fragte er.

Tatsächlich, dachte Clarissa, er ist bezaubernd! absolut bezaubernd! Jetzt erinnere ich mich, wie unmöglich es war, mich zu entschließen – und warum ha be ich mich dann entschlossen –, ihn nicht zu heiraten, fragte sie sich, in diesem grauenhaften Sommer?

»Aber es ist so unbegreiflich, daß du ausgerechnet heute vormittag kommen mußtest!«, rief sie und legte ihre Hände, eine auf die andere, auf ihr Kleid.

»Erinnerst du dich«, sagte sie, »wie die Rouleaus in Bourton knallten?«

»Das taten sie«, sagte er; und er erinnerte sich, wie er, sehr beklommen, allein mit ihrem Vater gefrühstückt hatte; der verstorben war; und er hatte Clarissa nicht geschrieben. Aber er hatte sich nie gut mit dem alten Parry vertragen, diesem quengelnden, schlaffknieigen alten Mann, Clarissas Vater, Justin Parry.

»Ich wünschte oft, ich hätte mich besser mit deinem Vater vertragen«, sagte er.

»Aber er hat nie einen gemocht, der – unsere Freunde«, sagte Clarissa; und hätte sich die Zunge abbeißen können, daß sie Peter auf diese Weise daran erinnert hatte, daß er sie hatte heiraten wollen.

Natürlich wollte ich, dachte Peter; es hat auch mir fast das Herz gebrochen, dachte er; und wurde überwältigt von seinem Schmerz, der heraufkam wie ein Mond, auf den man von einer Terrasse blickt, schaurig schön im Licht des versunkenen Tages. Ich war unglücklicher, als ich je wieder gewesen bin, dachte er. Und als säße er in Wahrheit dort auf der Terrasse, rückte er Clarissa ein wenig näher; streckte seine Hand aus; hob sie; ließ sie fallen. Dort über ihnen hing er, dieser Mond. Auch sie schien mit ihm auf der Terrasse zu sitzen, im Mondschein. »Herbert hat es jetzt«, sagte sie. »Ich bin jetzt nie mehr dort«, sagte sie.

Und, ganz wie es sich auf einer Terrasse im Mondschein ereignet, wenn einer sich zu schämen beginnt, daß er sich schon langweilt, und doch, da der andere still dasitzt und ruhig, traurig den Mond anblickt, nichts sagen möchte, seinen Fuß bewegt, sich räuspert, ein Eisenornament an einem Tischbein bemerkt, ein Blatt antippt, aber nichts sagt – so ging es Peter Walsh jetzt. Denn warum so in die Vergangenheit zurückkehren? dachte er. Warum ihn wieder daran erinnern? Warum ihn leiden machen, wenn sie ihn so höllisch gequält hatte? Warum?

»Erinnerst du dich an den See?«, sagte sie, mit gepreßter Stimme, unter dem Druck einer Erregung, die ihr ans Herz griff, ihre Kehlmuskeln versteifte und ihre Lippen in einem Krampf zusammenzog, als sie »See« sagte. Denn sie war ein Kind, das, zwischen den Eltern, den Enten Brot zuwarf, und gleichzeitig eine erwachsene Frau, die ihre Eltern, die am See standen, besuchte, ihr Leben in ihren Armen hielt, das, wie sie sich ihnen näherte, in ihren Armen größer und größer wurde, bis es ein ganzes Leben geworden war, ein vollständiges Leben, das sie vor sich hinstellte und sagte, »Das habe ich daraus gemacht! Das!« Und was hatte sie daraus gemacht? Was, in Wahrheit? und saß da und nähte, an diesem Vormittag mit Peter.

Sie sah Peter Walsh an; ihr Blick, durch diese ganze Zeit und diese Erregung hindurch, erreichte ihn unschlüssig; ließ sich tränenreich auf ihm nieder; und stieg auf und flatterte davon, wie ein Vogel einen Zweig berührt und aufsteigt und davonflattert. Ganz ruhig wischte sie sich die Augen.

»Ja«, sagte Peter. »Ja, ja, ja«, sagte er, als ob sie etwas an die Oberfläche zöge, das ihm richtig weh tat, als es heraufkam. Halt! Halt!, wollte er schreien. Denn er war nicht alt; sein Leben war nicht vorbei; ganz und gar nicht. Er war eben über fünfzig. Soll ich es ihr erzählen, dachte er, oder nicht? Er wäre das alles gern losgeworden. Aber sie ist zu kühl, dachte er; nähend, mit ihrer Schere; Daisy würde neben Clarissa ganz alltäglich wirken. Und sie würde mich für einen Versager halten, was ich ihrer Meinung nach auch bin, dachte er; der Meinung der Dalloways nach. O ja, er zweifelte nicht daran; er war ein Versager, im Verhältnis zu all dem – dem Intarsientisch, dem silberbeschlagenen Federmesser, dem Delphin und den Leuchtern, den Sesselbezügen und den alten wertvollen englischen kolorierten Drucken – er war ein Versager! Ich verabscheue diese ganze Blasiertheit, dachte er; Richards Schuld, nicht Clarissas; außer daß sie ihn geheiratet hatte. (Da kam Lucy ins Zimmer, beladen mit Silber, mehr Silber, aber reizend, schlank, anmutig sah sie aus, dachte er, als sie sich beugte, um es abzustellen.) Und so ist es die ganze Zeit gegangen! dachte er; Woche um Woche; Clarissas Leben; während ich – dachte er; und plötzlich schien alles von ihm auszustrahlen; Reisen; Ausritte; Streitereien; Abenteuer; Bridgepartien; Liebesaffairen; Arbeit; Arbeit, Arbeit! und er holte ganz ungeniert sein Taschenmesser hervor – sein altes Messer mit dem Horngriff, von dem Clarissa hätte schwören können, er hätte es diese ganzen dreißig Jahre besessen – und ballte seine Faust darum.


nach oben



[2]

Während Peter Walsh durch London bummelt (siehe am Ende dieses Ausschnitts) ist auch Septimus Warren Smith mit seiner Frau Rezia (Lukrezia) im Park. Seine Kriegserinnerungen, vor allem der Tod seines Kameraden Evans, haben ihn in den Wahnsinn getrieben. (S. 68 ff.)


Sie runzelte die Stirn; sie stampfte mit dem Fuß auf. Sie mußte zu Septimus zurückgehen, da es an der Zeit war, daß sie zu Sir William Bradshaw gingen. Sie mußte zurückgehen und es ihm sagen, zu ihm zurückgehen, der da auf seinem grünen Stuhl unter dem Baum saß, mit sich selbst oder mit dem toten Mann Evans sprach, den sie nur ein einziges Mal für einen Augenblick im Laden gesehen hatte. Er hatte ausgesehen wie ein netter, ruhiger Mann; ein guter Freund von Septimus, und er war im Krieg gefallen. Aber so etwas geschieht jedem. Jeder hat Freunde, die im Krieg fielen. Jeder gibt etwas auf, wenn er heiratet. Sie hatte ihr Zuhause aufgegeben. Sie war gekommen, um hier zu leben, in dieser gräßlichen Stadt. Aber Septimus erlaubte sich, an schreckliche Dinge zu denken, was auch sie könnte, wenn sie es versuchte. Er war sonderlicher und sonderlicher geworden. Er sagte, hinter den Wänden des Schlafzimmers sprächen Leute. Mrs Filmer fand das merkwürdig. Er sah auch Dinge – er hatte den Kopf einer alten Frau mitten im Farnkraut gesehen. Dennoch konnte er glücklich sein, wenn er wollte. Sie fuhren auf dem Oberdeck eines Busses nach Hampton Court, und sie waren vollkommen glücklich. All die kleinen roten und gelben Blumen im Grase waren schon herausgekommen, wie schwimmende Lichter, sagte er und redete und schwatzte und lachte, erfand Geschichten. Plötzlich sagte er, »Jetzt bringen wir uns um«, als sie am Fluß standen, und er blickte auf ihn mit einem Blick, den sie schon in seinen Augen gesehen hatte, wenn ein Zug vorbeifuhr, oder ein Omnibus – einem Blick, als fasziniere ihn etwas; und sie fühlte, daß er sich von ihr entfernte, und sie ergriff ihn am Arm. Aber auf dem Heimweg war er vollkommen ruhig – vollkommen vernünftig. Er wollte mit ihr erörtern, warum sie sich umbringen sollten; und erklären, wie schlimm die Menschen seien; wie er sehen könne, daß sie sich Lügen ausdächten, wenn sie auf der Straße vorbeikämen. Er kenne alle ihre Gedanken, sagte er; er kenne alles. Er kenne den Sinn der Welt, sagte er.

Dann, als sie zurückkehrten, konnte er kaum noch gehen. Er lag auf dem Sofa und ließ sie seine Hand halten, um zu verhindern, daß er hinabfalle, hinab, schrie er, in die Flammen! und sah Gesichter, die ihn auslachten, ihn von den Wänden mit schrecklichen widerwärtigen Namen nannten, und Hände, die hinter dem Wandschirm her auf ihn zeigten. Doch sie waren ganz allein. Aber er begann laut zu reden, antwortete Leuten, stritt, lachte, schrie, wurde sehr erregt und ließ sie alles mögliche niederschreiben. Völliger Unsinn war es, vom Tode, von Miss Isabel Pole. Sie konnte es nicht länger ertragen. Sie wollte zurück.

Sie war jetzt nahe bei ihm, konnte sehen, wie er in den Himmel starrte, murmelnd, die Hände faltend. Trotzdem sagte Dr. Holmes, ihm fehle nichts. Was also war geschehen – warum also war er nicht bei sich, warum, wenn sie neben ihm saß, fuhr er zusammen, blickte sie finster an, rückte von ihr ab und zeigte auf ihre Hand, nahm ihre Hand, blickte sie entsetzt an?

War es, weil sie ihren Trauring abgenommen hatte? »Meine Hand ist so dünn geworden«, sagte sie; »ich habe ihn in meine Börse getan«, erzählte sie ihm.

Er ließ ihre Hand fallen. Ihre Ehe war zu Ende, dachte er, in Todesangst, in Erleichterung. Das Tau war gekappt; er stieg auf; er war frei, wie es beschlossen war, daß er, Septimus, der Herr der Menschen, frei sein solle; allein (da sein Weib ihren Trauring weggeworfen hatte; da sie ihn verlassen hatte), er, Septimus, war allein, berufen vor der Masse der Menschen, die Wahrheit zu hören, den Sinn zu erfahren, der nun endlich, nach all den Mühen der Kultur – Griechen, Römer, Shakespeare, Darwin und jetzt ihm selbst – vollständig mitgeteilt werden sollte ... »Wem?«, fragte er laut, »Dem Premierminister«, erwiderten die Stimmen, die über seinem Kopf rauschten. Das allerhöchste Geheimnis mußte der Regierung mitgeteilt werden; erstens, daß Bäume lebendig sind; sodann, es gibt kein Verbrechen; sodann, Liebe, allumfassende Liebe, murmelte er, keuchend, zitternd, qualvoll diese tiefen Wahrheiten entbergend, die auszusprechen einer ungeheuren Anstrengung bedurfte, so tief waren sie, so schwerwiegend, aber die Welt war durch sie auf ewig gänzlich verändert.

Kein Verbrechen; Liebe; wiederholte er, während er nach seiner Karte und einem Bleistift kramte, als ein Skyeterrier an seiner Hose schnüffelte und eine tödliche Angst ihn ergriff. Der Hund verwandelte sich in einen Menschen! Er konnte nicht zusehen! Es war grauenhaft, schrecklich anzusehen, wie ein Hund zu einem Menschen wurde! Da trottete der Hund davon.

Der Himmel war gottgleich gnädig, unendlich gütig. Er verschonte ihn, verzieh seine Schwäche. Aber was war die wissenschaftliche Erklärung (denn vor allem andern mußte man wissenschaftlich sein)? Warum konnte er durch Körper hindurchsehen, in die Zukunft sehen, in der Hunde zu Menschen werden würden? Es war vermutlich die Hitzewelle, die auf ein Hirn einwirkte, das durch Äonen der Evolution empfindlich geworden war. Wissenschaftlich gesprochen, war das Fleisch aus der Welt weggeschmolzen. Sein Körper war ausgelaugt, bis nur noch die Nervenfasern übrig waren. Er war ausgebreitet wie ein Schleier auf einem Felsen.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, erschöpft, aber erhoben. Er lag ruhend da, wartend, bis er wieder, unter Anstrengung, unter Todesqual, die Menschheit aufklärte. Er lag sehr hoch, auf dem Rücken der Welt. Die Erde erschauerte unter ihm. Rote Blumen wuchsen durch sein Fleisch; ihre starren Blätter raschelten an seinem Kopf. Musik begann gegen die Felsen hier oben zu schallen. Es ist eine Autohupe unten auf der Straße, murmelte er; aber hier oben donnerte sie von Fels zu Fels, geteilt, zu Klangwellen vereint, die aufstiegen in glatten Säulen (daß Musik sichtbar sein könne, war eine Entdeckung), und wurde zu einer Hymne, einer Hymne, jetzt umschlungen vom Flöten eines Hirtenknaben (Das ist ein alter Mann, der vor dem Wirtshaus auf seiner Penny-Flöte spielt, murmelte er), das, als der Knabe stehenblieb, blubbernd aus seiner Flöte kam, und dann, als er höher stieg, zu einer erlesenen Klage wurde, während unten der Verkehr vorüberzog. Die Elegie dieses Knaben wird mitten im Verkehr gespielt, dachte Septimus. Jetzt zieht er sich zurück, hinauf in die Schneefelder, und Rosen hängen über ihm - die prallen roten Rosen, die an meiner Schlafzimmerwand wachsen, erinnerte er sich. Die Musik setzte aus. Er hat seinen Penny, erklärte er es, und ist zum nächsten Wirtshaus gegangen.

Aber er selbst blieb hoch auf seinem Fels, wie ein ertrunkener Seemann auf einem Felsen. Ich lehnte mich über den Bootsrand und fiel, dachte er. Ich ging im Meer unter. Ich bin tot gewesen und bin doch jetzt am Leben, aber laß mich noch ausruhen, bettelte er (er sprach wieder zu sich selbst – es war gräßlich, gräßlich!); und wie, vor dem Erwachen, die Stimmen der Vögel und das Geräusch der Räder in merkwürdiger Harmonie klingen und klappern, lauter und lauter werden und der Schläfer fühlt, wie er sich an die Küsten des Lebens zieht, so fühlte er sich dem Leben entgegenziehen, die Sonne wärmer werden, die Rufe lauter tönen, etwas Ungeheures bevorstehen.

Er brauchte nur seine Augen zu öffnen; aber ein Gewicht lag auf ihnen; eine Angst. Er drängte; er drückte; er blickte; er sah Regent‘s Park vor sich. Lange Bahnen von Sonnenlicht umschmeichelten seine Füße. Die Bäume winkten, schwenkten. Wir heißen willkommen, schien die Welt zu sagen; wir empfangen; wir erschaffen. Schönheit, schien die Welt zu sagen. Und wie um es zu beweisen (wissenschaftlich), brach, wo immer er hinblickte, auf die Häuser, auf die Geländer, auf die Antilopen, die sich über die Zäune reckten, augenblicklich Schönheit hervor. Ein Blatt zu beobachten, das im Rauschen des Windes erzitterte, war eine erlesene Freude. Oben am Himmel Schwalben, niederstürzend, abdrehend, sich hinein- und herauswerfend, rundherum und rundherum, aber immer in vollkommener Beherrschung, wie von Gummibändern gehalten; und die Fliegen, steigend und fallend; und die Sonne, bald dieses Blatt sprenkelnd, bald jenes, aus Übermut, sie mit weichem Gold aus lauter Lust blendend; und hin und wieder ein Klang (es könnte eine Autohupe sein), göttlich an den Grasstengeln klingelnd – das alles, geruhsam und vernünftig, wie es war, aus gewöhnlichen Dingen gemacht, wie es war, war jetzt die Wahrheit; Schönheit, die jetzt die Wahrheit war. Schönheit war überall.

»Es ist Zeit«, sagte Rezia.

Das Wort »Zeit« sprengte seine Hülse; goß seinen Reichtum über ihn; und von seinen Lippen fielen wie Muscheln, wie Späne von einem Hobel, ohne sein Zutun, hart, weiß, unvergänglich, Wörter und flogen, um ihre Plätze einzunehmen in einer Ode an die Zeit; einer unsterblichen Ode an die Zeit. Er sang. Evans antwortete hinter dem Baum. Die Toten waren in Thessalien, sang Evans, zwischen den Orchideen. Dort warteten sie, bis der Krieg vorüber war, und jetzt die Toten, jetzt Evans selbst –

»Um Gottes willen, kommt nicht!«, schrie Septimus. Denn er konnte den Toten nicht in die Augen sehen.

Aber die Zweige teilten sich. Ein Herr in Grau kam tatsächlich auf sie zu. Es war Evans! Aber kein Schlamm war an ihm; keine Wunden; er war nicht verändert. Ich muß es der ganzen Welt erzählen, rief Septimus und hob seine Hand (als der Tote in dem grauen Anzug näher kam), hob seine Hand wie eine riesenhafte Gestalt, die seit Urzeiten in der Wüste einsam, die Hände an die Stirn gepreßt, Furchen der Verzweiflung auf den Wangen, das Los der Menschheit beklagt hat und jetzt Licht sieht am Rande der Wüste, das sich ausbreitet und auf die eisenschwarze Gestalt fällt (und Septimus erhob sich halb von seinem Stuhl), und Legionen fußfälliger Männer hinter sich, empfängt er, der trauernde Riese, auf seinem Antlitz für einen Augenblick die ganze –

»Aber ich bin so unglücklich, Septimus«, sagte Rezia, bemüht, ihn sich wieder setzen zu lassen.

Die Millionen klagten; seit Urzeiten hatten sie getrauert. Er würde sich umdrehen, er würde zu ihnen in einigen Augenblicken, nur noch einige Augenblicke, reden, von dieser Erlösung, von dieser Freude, von dieser erstaunlichen Erleuchtung –

»Wie spät, Septimus«, wiederholte Rezia. »Wie spät ist es?« Er redete, er fuhr auf, dieser Mann muß ihn bemerken. Er sah zu ihnen hin.

»Ich werde dir sagen, wie spät es ist«, erwiderte Septimus, sehr langsam, sehr schläfrig, und lächelte den Toten in dem grauen Anzug geheimnisvoll an. Während er lächelnd dasaß, schlug die Viertelstunde – Viertel vor zwölf.

So ist es, wenn man jung ist, dachte Peter Walsh, als er an ihnen vorbeikam. Eine schreckliche Szene haben – das arme Mädchen sah ganz verzweifelt aus –, mitten am Vormittag. Aber worum ging es? fragte er sich; was hatte der junge Mann im Mantel zu ihr gesagt, das sie so aussehen machte; in welche Klemme hatten sie sich gebracht, daß sie beide an einem schönen Sommervormittag so verzweifelt aussahen? Das Lustige an der Rückkehr nach England, nach fünf Jahren, war die Art, wie die Dinge, wenigstens an den ersten Tagen, sich ausnahmen, als hätte man sie nie zuvor gesehen; Verliebte, die sich unter einem Baum zankten; das bürgerliche Familienleben in den Parks. Nie war ihm London so bezaubernd erschienen – die Weichheit der Perspektiven; die Gediegenheit; die Grünheit; die Zivilisiertheit, nach Indien, dachte er, als er über den Rasen schlenderte.


nach oben



[3]

Auf der Abendgesellschaft erreicht Clarissa die Nachricht von Warren Smiths Selbstmord. (S. 186 ff.)


Ihre Stimme senkend, Mrs Dalloway in den Schutz gemeinsamer Weiblichkeit, eines gemeinsamen Stolzes auf die blendenden Fähigkeiten von Ehegatten und ihre traurige Neigung, sich zu überarbeiten, ziehend, murmelte Lady Bradshaw (törichte Gans – man konnte sie nicht einmal nicht ausstehen), wie »gerade als wir aufbrechen wollten, mein Mann am Telephon verlangt wurde, ein sehr trauriger Fall. Ein junger Mann (das ist es, was Sir William Mr Dalloway erzählt) hatte sich umgebracht. Er war Soldat gewesen.« Oh! dachte Clarissa, mitten in meiner Gesellschaft ist der Tod anwesend, dachte sie.

Sie setzte ihren Weg fort, in das kleine Zimmer, in das der Premierminister mit Lady Bruton gegangen war. Vielleicht war da jemand. Aber da war niemand. Die Sessel bewahrten noch den Eindruck des Premierministers und Lady Brutons, sie ehrerbietig ihm zugewandt, er feist in sich ruhend, autoritär. Sie hatten über Indien gesprochen. Niemand war da. Der Glanz der Gesellschaft ging in Stücke, so seltsam war es, allein in ihrer Erlesenheit zu kommen.

Wieso hatten die Bradshaws das Recht, auf ihrer Gesellschaft vom Tod zu sprechen? Ein junger Mann hatte sich umgebracht. Und sie redeten auf ihrer Gesellschaft davon die Bradshaws sprachen vom Tod. Er hatte sich umgebracht – aber wie? Sie erlebte es immer am eigenen Leibe, wenn man ihr zum ersten Mal, unvorbereitet, von einem Unglücksfall erzählte; ihr Kleid stand in Flammen, ihr Leib brannte. Er hatte sich aus dem Fenster gestürzt. Aufgelodert war der Boden; durch ihn bohrten sich, blindlings, zermalmend, die rostigen Gitterspitzen. Da lag er mit einem Bum, Bum, Bum in seinem Hirn, und dann ein Ersticken in Finsternis. So sah sie es. Aber warum hatte er es getan? Und die Bradshaws redeten davon auf ihrer Gesellschaft!

Sie hatte einmal einen Shilling in den Serpentine geworfen, nie mehr. Aber er hatte es weggeworfen. Sie lebten weiter (sie müßte wieder zurück; noch immer waren die Zimmer voller Leute; noch immer kamen welche). Sie (den ganzen Tag hatte sie an Bourton, an Peter, an Sally gedacht), sie würden alt werden. Es gab etwas, worauf es ankam; etwas, von Geschwätz überwuchert, verunstaltet, verdunkelt, in ihrem eigenen Leben, das jeden Tag in Falschheit, Lügen, Geschwätz versank. Das hatte er bewahrt. Der Tod war Trotz. Der Tod war ein Versuch sich mitzuteilen, wenn Menschen die Unmöglichkeit empfanden, zum Innersten vorzudringen, das sich ihnen, mystisch, entzog; Nähe trennte; Entzücken verging; man war allein. Im Tod lag Umarmung.

Aber dieser junge Mann, der sich umgebracht hatte – hatte er im Sprung seinen Schatz festgehalten? »If it were now to die, ‘twere now to be most happy«, hatte sie sich einmal, ganz in Weiß die Treppe hinuntersteigend, gesagt.

Oder nun die Dichter und Denker. Angenommen, er hätte diese Leidenschaft gehabt und wäre zu Sir William Bradshaw gegangen, einem großen Arzt, für sie aber auf verborgene Weise verrucht, geschlechtslos, lustlos, außerordentlich höflich zu Frauen, aber einer unbeschreibbaren Untat fähig deine Seele zu vergewaltigen, das war es –, wenn dieser junge Mann zu ihm gegangen wäre und Sir William hätte ihn beeindruckt, so, mit seiner Macht, könnte er sich da nicht gesagt haben (wirklich fühlte sie das jetzt), Das Leben ist unerträglich geworden; sie machten das Leben unerträglich, Männer wie er?

Und dann (sie hatte es gerade erst am Morgen gefühlt) gab es das Entsetzen; die überwältigende Unfähigkeit, dieses Leben, das die Eltern einem in die Hände gelegt hatten, zu Ende zu leben, heiter mit ihm umzugehen; in den Tiefen ihres Herzens saß eine schreckliche Angst. Sogar jetzt, und recht oft, wenn Richard nicht die Times lesend bei ihr gewesen war, so daß sie sich wie ein Vogel hinkauern und allmählich ins Leben zurückkehren, dieses maßlose Entzücken aufflammen lassen konnte, Holz an Holz reibend, ein Ding am andern, hätte sie vergehen müssen. Sie war davongekommen. Aber dieser junge Mann hatte sich umgebracht.

Irgendwie war das ihr Unheil – ihre Schmach. Es war ihre Strafe, daß sie hier einen Mann, dort eine Frau versinken und verschwinden sehen mußte in dieser tiefen Finsternis, und sie genötigt, hier in ihrem Abendkleid zu stehen. Sie hatte Pläne geschmiedet; sie hatte lange Finger gemacht. Sie war nie vollkommen bewundernswert. Sie hatte Erfolg haben wollen, Lady Bexborough und was sonst noch. Und einmal war sie auf der Terrasse von Bourton herumgewandert.

Seltsam, unglaubhaft; sie war nie so glücklich gewesen. Nichts konnte langsam genug gehen; nichts zu lange dauern. Nichts kam der Lust gleich, dachte sie, die Sessel zurechtrückend, ein Buch ins Regal stoßend, die Triumphe der Jugend hinter sich gebracht zu haben, sich im Prozeß des Lebens verloren zu haben, es wiederzufinden, mit einem Schock des Entzückens, wenn die Sonne aufging, wenn der Tag zur Neige ging. So viele Male war sie in Bourton, während alle sich unterhielten, gegangen, um zum Himmel zu sehen; oder ihn zwischen den Schultern der Leute beim Dinner gesehen hatte; ihn in London gesehen hatte, wenn sie nicht schlafen konnte. Sie ging ans Fenster.

Er enthielt, so töricht der Gedanke war, etwas von ihr selbst, dieser ländliche Himmel, dieser Himmel über Westminster. Sie teilte die Vorhänge; sie schaute. Oh, aber welche Überraschung! – im Zimmer gegenüber sah die alte Dame ihr direkt in die Augen! Sie ging zu Bett. Und der Himmel. Es würde ein feierlicher Himmel sein, hatte sie gedacht, es würde ein dunstiger Himmel sein, der seine Wange in voller Schönheit abwandte. Aber da war er – aschgrau, von fliehenden, ausgefransten ungeheuren Wolken rasch überzogen. Er war ihr neu. Wind mußte aufgekommen sein. Sie ging zu Bett, im Zimmer gegenüber. Es war aufregend, sie zu beobachten, wie sie sich bewegte, diese alte Dame, durchs Zimmer ging, ans Fenster trat. Konnte sie sie sehen? Es war aufregend, während die Leute im Salon immer noch lachten und lärmten, diese alte Frau zu beobachten, wie sie, ganz still, allein zu Bett ging. Sie zog jetzt den Vorhang vor. Die Uhr begann zu schlagen. Der junge Mann hatte sich umgebracht; aber sie bedauerte ihn nicht, wo die Uhr die Stunde schlug, eins, zwei, drei, sie bedauerte ihn nicht; wo all das weiterging. Da! die alte Dame hatte ihr Licht ausgemacht! das ganze Haus war jetzt dunkel, wo alles weiterging, wiederholte sie, und ihr kamen die Worte in den Sinn, »Fear no more the heat of the sun«. Sie mußte zurück zu den andern. Aber was für eine außerordentliche Nacht! Sie fühlte sich ihm irgendwie sehr ähnlich – diesem jungen Mann, der sich umgebracht hatte. Sie fühlte sich froh, daß er es getan hatte; es weggeworfen, während sie weiterlebten. Die Uhr schlug. Die bleiernen Ringe lösten sich in der Luft auf. Aber sie mußte zurück. Sie mußte mit den andern zusammensein. Sie mußte Sally und Peter finden. Und aus dem kleinen Zimmer kam sie herein.


nach oben



         
         
         
         
     
Ausdrucken