Leseproben aus: Irvin D. Yalom, Die rote Couch







Carol, Patientin bei Ernest, ist Rechtsanwältin und die Ehefrau eines seiner Patienten, was sie Ernest aber verschweigt. Sie hat ihrerseits Marshal, einen Psychotherapeuten und ehemaligen Supervisor von Ernest, als Klienten. Sie holt sich bei Ernest, der nicht weiß, um wen es sich bei ihrem Klienten handelt, Tipps zum Umgang mit Marshal. Dabei haben Ernest und Carol (die sich ihm unter dem Namen Carolyn vorgestellt hat und ihm viele Sitzungen lang ein heftiges Schauspiel geliefert hat), einiges miteinander aufzuarbeiten. (S. 492 ff.)

In Ernests Wartezimmer traf Carol die Entscheidung, ihre ganze Therapiestunde dem Bemühen zu widmen, sich Rat darüber zu holen, wie sie Marshal helfen könnte. Sie machte sich eine Checkliste der Bereiche, in denen sie Hilfe für ihren Klienten brauchte, und überlegte, wie sie diese Dinge Ernest am besten darstellte. Sie mußte vorsichtig sein: Aus Marshals Bemerkungen ging eindeutig hervor, daß er und Ernest einander kannten, und sie wurde Marshals Identität sehr sorgfältig schützen müssen. Das entmutigte Carol keineswegs: au contraire, sie bewegte sich anmutig und unbefangen in den Korridoren der Intrige.
Aber Ernest hatte eine ganz andere Tagesordnung. Sobald sie in sein Sprechzimmer trat, eröffnete er die Stunde. "Wissen Sie, Carolyn, ich habe das Gefühl, daß die letzte Sitzung zu abrupt geendet hat. Wir waren gerade etwas sehr Wichtigem auf der Spur."
"Wie meinen Sie das?"
"Mir schien, daß wir gerade dabei waren, einen intensiveren Blick auf unsere Beziehung zu werfen. und Sie haben mit großer Erregung darauf reagiert. Am Ende der Stunde haben Sie praktisch die Flucht ergriffen. Können Sie über die Gefühle sprechen, die nach unserer Sitzung auf dem Nachhauseweg bei Ihnen hochgekommen sind?"
Ernest wartete wie die meisten Therapeuten fast immer darauf, daß der Patient die Stunde begann. Und wenn er je von dieser Regel abwich und seinerseits das erste Thema einführte, dann verfolgte er damit unausweichlich das Ziel, einer Frage nachzugehen, die in der vergangenen Sitzung offengeblieben war. Von Marshal hatte er vor langer Zeit gelernt, daß Therapiesitzungen um so nachhaltiger wirkten, je mehr sie ineinander übergingen. "Erregung? Nein." Carol schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht. Ich kann mich auch gar nicht mehr so genau an die letzte Sitzung erinnern. Außerdem ist heute heute, und ich möchte lieber über etwas anderes mit Ihnen sprechen. Ich brauche einen Rat wegen eines Klienten von mir."
"Einen Augenblick bitte, Carolyn, hören Sie mich zunächst einmal kurz an. Es gibt da einige Dinge, die mir so wichtig erscheinen, daß ich sie aussprechen mochte."
Wessen Therapie ist das hier eigentlich? murmelte Carol bei sich. Aber dann nickte sie freundlich und wartete darauf, daß Ernest fortfuhr.
"Sie erinnern sich, Carolyn, daß ich Ihnen bei unserer ersten Sitzung gesagt habe, in der Therapie gebe es nichts Wichtigeres als ein ehrliches Miteinander? Ich habe Ihnen für meinen Teil mein Wort gegeben, daß ich ehrlich zu Ihnen sein würde. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich diesem Versprechen nicht gerecht geworden bin. Es ist Zeit, die Luft zu reinigen, und ich werde mit meinen Gefühlen zum Thema Erotik beginnen ... davon hat es in unserer Beziehung sehr viel gegeben, und das beunruhigt mich."
"Wie meinen Sie das?" Carol war plötzlich besorgt: Ernests Tonfall ließ keinen Zweifel daran, daß dies keine gewöhnliche Stunde werden sollte.
"Nun, sehen Sie sich an, was passiert ist. Von der ersten Sitzung an haben wir einen großen Teil unserer Zeit darauf verwandt, über Ihre sexuelle Zuneigung zu mir zu sprechen. Ich bin zum Mittelpunkt Ihrer sexuellen Phantasien geworden. Wieder und wieder haben Sie mich gebeten, Ralphs Stelle als Ihr Liebhaber-Therapeut einzunehmen. Und dann sind da noch die Umarmungen am Ende der Stunde, die Versuche mich zu küssen, die ‘Couchzeit’, in der Sie dicht neben mir sitzen wollten."
"Ja, ja, das weiß ich doch alles. Aber Sie haben das Wort: beunruhigend benutzt."
"Ja, ganz eindeutig beunruhigend – und in mehr als einer Hinsicht. Zunächst einmal deshalb, weil es sexuell erregend war."
"Sie sind beunruhigt, weil ich erregt war?"
"Nein, weil ich es war. Sie waren sehr provokativ, Carolyn, und da es hier und besonders heute vor allem um Ehrlichkeit geht, will ich Ihnen ehrlich sagen, daß Ihr Verhalten beunruhigend erregend auf mich gewirkt hat. Ich habe Ihnen schon zuvor gesagt, daß ich Sie für eine sehr attraktive Frau halte. Mir als Mann fällt es sehr schwer, mich nicht von Ihren verführerischen Reizen berühren zu lassen. Sie sind auch in meine Phantasien eingedrungen. Ich denke schon Stunden vor Ihrem Termin über unsere Begegnung nach, an den Tagen, an denen Sie herkommen, überlege ich mir sogar, was ich anziehen soll. Ich muß diese Dinge eingestehen.
Also, die Therapie kann so offensichtlich nicht weitergehen. Sehen Sie, statt Ihnen zu helfen, diese ... diese – wie soll ich mich ausdrücken? – diese starken, aber unrealistischen mich betreffenden Gefühle zu analysieren, habe ich, glaube ich, zu diesen Gefühlen noch beigetragen, habe ich Sie ermutigt. Ich habe es genossen, Sie zu umarmen, Ihr Haar zu berühren, Sie neben mir auf dem Sofa zu spüren. Und ich glaube, Sie wissen, daß ich es genossen habe. Sie schütteln den Kopf, Carolyn, aber ich glaube, ich habe die Flammen Ihrer Gefühle für mich noch angefacht. Ich habe die ganze Zeit über ‘Nein, nein, nein’ gesagt, während ich mit einer leiseren, aber doch hörbaren Stimme gleichfalls gesagt habe: ‘Ja, ja. ja.’ Und das war für Ihre Therapie nicht sinnvoll."
"Ich habe das ‘ja, ja, ja’ nicht gehört, Ernest."
"Vielleicht nicht bewußt. Aber wenn ich diese Gefühle wahrnehme, bin ich mir sicher, daß Sie sie auf irgendeiner Ebene ebenfalls gespürt haben und davon ermutigt worden sind. Zwei Menschen, die in einer intimen Beziehung aufeinander geworfen sind - oder in einer Beziehung, die versucht, intim zu sein -, übermitteln einander immer alles, wenn nicht ausdrücklich, dann auf einer nonverbalen oder unbewußten Ebene."
"Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen das abkaufe, Ernest."
"Ich bin sicher, daß ich in dieser Hinsicht recht habe. Wir kommen später noch einmal darauf zurück. Aber ich möchte, daß Sie sich zunächst einmal die Quintessenz dessen anhören, was ich gesagt habe: Ihre erotischen Gefühle für mich sind nicht gut für die Therapie, und ich mit meiner eigenen Eitelkeit und meinen eigenen sexuellen Gefühlen für Sie muß die Verantwortung dafür übernehmen, daß ich diese Gefühle ermutigt habe."
"Nein, nein", sagte Carol unter heftigem Kopfschütteln. "Nichts von alledem ist Ihre Schuld."
"Nein, Carolyn, lassen Sie mich aussprechen ... Es gibt noch mehr, was ich Ihnen sagen möchte ... Bevor ich Sie auch nur kennengelernt habe, habe ich bewußt den Entschluß getroffen, mit meinem nächsten neuen Patienten absolut ehrlich zu sein, mich total selbst zu enthüllen. Ich hatte das Gefühl und habe dieses Gefühl immer noch, daß der wesentliche Mangel beim Großteil der traditionellen Therapien darin liegt, daß die Beziehung zwischen Patient und Therapeut nicht echt ist. Meine Gefühle diesbezüglich sind so stark, daß ich mich von einem Supervisor trennen mußte, den ich zutiefst bewundert habe. Aus genau diesem Grund habe ich in jüngster Zeit die Entscheidung getroffen, meine formelle psychoanalytische Ausbildung nicht fortzusetzen."
"Ich bin mir nicht sicher, welche Konsequenzen das für unsere Therapie haben soll."
"Nun, es bedeutet, daß meine Behandlungsweise in Ihrem Fall ein Experiment war. Vielleicht sollte ich zu meiner eigenen Verteidigung hinzufügen, daß es in gewisser Weise ein zu starker Ausdruck ist, da ich im Laufe der vergangenen Jahre ohnehin versucht habe, mit all meinen Patienten weniger formell und dafür etwas menschlicher zu sein. Aber bei Ihnen stehe ich vor einem bizarren Paradoxon: Ich habe mit totaler Ehrlichkeit experimentiert und Ihnen doch nie von diesem Experiment berichtet. Und wenn ich jetzt Bilanz ziehe und mir ansehe, wo wir stehen, glaube ich nicht, daß diese Methode hilfreich gewesen ist. Es ist mir nicht gelungen, die Art von ehrlicher, authentischer Beziehung aufzubauen, die Sie, wie ich weiß, dringend benötigen, wenn Sie in der Therapie wachsen wollen."
"Ich glaube nicht, daß irgend etwas von alledem Ihre Schuld ist - oder auf einen Mangel Ihrer Methode zurückzuführen ist."
"Ich bin mir nicht sicher, was schiefgegangen ist. Aber irgend etwas ist schiefgegangen. Ich spüre da eine gewaltige Kluft zwischen uns. Ich spüre großen Argwohn auf Ihrer Seite, die plötzlich von irgendeinem Ausdruck großer Zuneigung und Liebe abgelöst werden. Das verwirrt mich, weil ich den größten Teil der Zeit nicht das Gefühl habe, daß Sie eine warme oder auch nur eine positive Einstellung zu mir haben. Aber da sage ich Ihnen bestimmt nichts Neues." Carol saß mit gesenktem Kopf da und schwieg.
"Also, meine Besorgnis wächst: Ich habe in Ihrem Fall nicht richtig gehandelt. In diesem Fall war Ehrlichkeit vielleicht nicht die beste Politik. Es wäre besser gewesen, Ihnen ein traditionellerer Therapeut zu sein, jemand, der eine formel-lere Therapeut-Patient-Beziehung aufgebaut hätte, jemand, der klare Grenzen zwischen einer therapeutischen und einer personellen Beziehung gewahrt hätte. Sooo, Carolyn, ich schätze, das war's, was ich sagen wollte. Irgendeine Antwort?"
Carol setzte zweimal zu einer Bemerkung an, fand aber nicht die richtigen Wurte. Schließlich sagte sie: "Ich bin verwirrt. Ich kann nicht sprechen - weiß nicht, was ich sagen soll."
"Nun, ich kann mir vorstellen, was Sie denken. Im Lichte all dessen, was ich gesagt habe, schätze ich, daß Sie mit einem anderen Therapeuten besser dran wären - daß es an der Zeit ist, dieses Experiment zu einem Ende zu bringen. Und ich denke, daß Sie da durchaus recht haben mögen. Ich werde Sie in dieser Angelegenheit unterstützen und Ihnen mit Freuden Vorschläge bezüglich anderer Therapeuten machen. Vielleicht denken Sie, daß ich Ihnen zu Unrecht ein experimentelles Verfahren in Rechnung gestellt habe. Wenn dem so ist, lassen Sie uns darüber reden: vielleicht wäre es nur korrekt, wenn ich Ihnen mein Honorar zurückerstatten würde."
Das Ende des Experiments - das klingt nicht schlecht, dachte Carol. Und es wäre die perfekte Art und Weise, um dieser ganzen schlüpfrigen Farce ein Ende zu machen. Ja, es ist Zeit zu gehen. Zeit, mit den Lügen aufzuhören. Überlaß Ernest Jess und Justin. Vielleicht hast du recht, Ernest, vielleicht ist es wirklich Zeit, unsere Therapie zu beenden. Genau das hätte sie sagen sollen: statt dessen hörte sie sich etwas ganz anderes sagen.
"Nein. Sie liegen falsch in allen Punkten. Nein, Ernest, der Fehler liegt nicht in Ihrer Therapiemethode. Mir gefällt die Vorstellung nicht, daß Sie meinetwegen etwas daran ändern könnten ... das verstört mich ... das verstört mich sehr. Ein einziger Patient ist doch gewiß nicht genug, um zu einem solchen Schluß zu kommen. Wer weiß? Vielleicht ist es zu früh, um etwas zu sagen. Vielleicht ist es die perfekte Methode für mich. Geben Sie mir Zeit. Mir gefällt Ihre Ehrlichkeit. Ihre Ehrlichkeit hat mir keinen Schaden zugefügt. Vielleicht hat sie mir sogar sehr gut getan. Was die Rückerstattung Ihrer Honorare betrifft, das kommt überhaupt nicht in Frage - und im übrigen möchte ich Ihnen als Anwältin dringend raten, von solchen Bemerkungen in Zukunft Abstand zu nehmen. So was macht Sie verletzlich für Prozesse.
Die Wahrheit?" fuhr Carol fort. "Sie wollen die Wahrheit? Die Wahrheit ist, Sie haben mir geholfen. Mehr als Sie wissen. Und nein, je länger ich darüber nachdenke, ich möchte meine Therapie bei Ihnen nicht beenden. Und ich möchte auch zu keinem anderen Therapeuten gehen. Vielleicht haben wir die harte Phase hinter uns. Vielleicht habe ich Sie unbewußt auf die Probe gestellt. Ja, ich denke, das habe ich getan. Ich habe Sie ernsthaft auf die Probe gestellt."
"Und wie habe ich abgeschnitten?"
"Ich denke, Sie haben bestanden. Nein, mehr als das ... Sie sind Klassenbester." "Worum ging es bei dem Test?"
"Nun ... ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß ... lassen Sie mich darüber nachdenken. Nun, ein paar Dinge weiß ich sehr wohl darüber, aber könnten wir uns das für ein andermal aufheben, Ernest? Es gibt da etwas, das muß ich heute einfach mit Ihnen besprechen."
"Okay, aber wir sind klar miteinander - Sie und ich?" "Und werden immer klarer."
"Dann nehmen wir uns jetzt Ihre Tagesordnung vor. Sie sagten, es ginge um einen Klienten." Carol beschrieb ihre Situation mit Marshal, erzählte zwar, daß er Therapeut war, verschleierte ansonsten aber in jeder anderen Hinsicht seine Identität aufs sorgfältigste und erinnerte Ernest an ihre berufliche Schweigepflicht, damit er keine weiteren Fragen stellte.
Ernest war nicht kooperativ. Es gefiel ihm nicht, Carolyns Therapiestunde zu einer Beratung zu machen, und er erhob eine ganze Reihe von Einwänden. Sie leistete Widerstand gegen ihre eigene Arbeit: sie zog nicht den besten Nutzen aus ihrer Zeit und aus ihrem Geld: und ihr Klient solle zu einem Therapeuten gehen statt zu einem Anwalt.
Carol wußte jeden dieser Punkte geschickt zu parieren. Geld war kein Thema - sie verschwendete kein Geld. Sie berechnete dem Klienten mehr, als Ernest ihr berechnete. Was die Möglichkeit betraf, daß ihr Klient einen Therapeuten aufsuchte - nun, er wollte einfach nicht, und sie konnte ihm dies aufgrund ihrer Schweigepflicht nicht näher erläutern. Außerdem ging sie ihren eigenen Problemen keineswegs aus dem Weg - sie wäre bereit, Ernest zu einem anderen Termin zu treffen, um die Stunde wieder nachzuholen. Und da das Problem des Klienten ihr eigenes widerspiegele, arbeite sie indirekt auch an ihren Themen, indem sie sich mit seinen beschäftigte. Ihr schlagkräftigstes Argument war folgendes: Indem sie auf rein altruistische Weise für ihren Klienten handelte, trug sie Ernests Ermahnung Rechnung, den Kreislauf des Egoismus und der Paranoia zu durchbrechen, den ihre Mutter und ihre Großmutter an sie weitergegeben hatten.
"Sie haben mich überzeugt. Carolyn. Sie sind eine gefährliche Frau. Wenn ich jemals meine Sache vor Gericht vertreten muß, möchte ich Sie als Anwältin. Erzählen Sie mir von Ihnen und Ihrem Klienten."
Ernest war ein erfahrener Berater und hörte sorgfältig zu, während Carol ihm erzählte, womit sie es bei Marshal zu tun hatte: Zorn, Arroganz, Einsamkeit, Fixierung auf Geld und Status und schwindendes Interesse an allem anderen in seinem Leben einschließlich seiner Ehe.
"Was mir auffällt", sagte Ernest. "ist, daß er jedwede Perspektive verloren hat. Diese Ereignisse und diese Gefühle haben ihn so gefangengenommen, daß er sich mit ihnen identifiziert. Wir müssen eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen, ein paar Schritte von sich selbst zurückzutreten. Wir müssen ihm helfen, sich aus einer distanzierten Warte zu betrachten, ja sogar aus einer kosmischen Perspektive. Genau das habe ich übrigens bei Ihnen versucht, Carolyn, wann immer ich Sie gebeten habe, irgend etwas vor dem Hintergrund der langen Reihe Ihrer Lebensereignisse zu betrachten. Ihr Klient ist zu seinen Lebensereignissen und Gefühlen geworden - er hat das Gefühl der Kontinuität seines Ichs verloren, das Gefühl der fortdauernden Existenz seines Wesens, und er ist nicht mehr in der Lage, die einzelnen Ereignisse als nur marginale Bruchteile seiner Existenz wahrzunehmen. Und was die Dinge noch verschlimmert, ist die Tatsache, daß Ihr Klient davon ausgeht, sein gegenwärtiger Jammer werde sich zum Dauerzustand entwickeln. Das ist natürlich das typische Kennzeichen der Depression - eine Kombination aus Traurigkeit plus Pessimismus."
"Wie können wir das durchbrechen?"
"Nun, da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, ist zum Beispiel ganz klar, daß Leistung und Tüchtigkeit für seine Identität von zentraler Bedeutung sind. Er muß sich jetzt absolut hilflos fühlen, und er sieht diese Hilflosigkeit mit Entsetzen. Möglicherweise hat er die Tatsache aus den Augen verloren, daß er Alternativen hat und daß diese Alternativen ihm die Macht zur Veränderung geben. Man muß ihm helfen zu begreifen, daß seine Zwangslage nicht das Ergebnis eines vorherbestimmten Schicksals ist, sondern das Ergebnis seiner eigenen Entscheidungen - zum Beispiel seiner Entscheidung, dem Geld zu huldigen. Sobald er akzeptiert, daß er der Schöpfer seiner Situation ist, kann man ihm auch begreiflich machen, daß es in seiner Macht steht, sich zu befreien: Seine Entscheidungen haben ihn in die Sache hineingebracht; seine Entscheidungen können ihn da auch wieder rausholen.
Wahrscheinlich kann er auch das Wesen seines gegenwärtigen Kummers nicht richtig einschätzen - daß er nämlich im Jetzt existiert, daß er einen Anfang hatte und ein Ende haben wird. Sie könnten sich sogar Gelegenheiten in der Vergangenheit mit ihm zusammen ansehen, bei denen er ebenfalls soviel Zorn und Kummer empfunden hat; dann können Sie ihm helfen, sich daran zu erinnern, daß dieser Schmerz langsam verblaßt ist - genau wie sein gegenwärtiger Schmerz irgendwann nur noch eine trübe Erinnerung sein wird."
"Gut, gut. Ernest. Wunderbar." Carol machte sich eifrig Notizen. "Was noch?"
"Hm, Sie sagen, er sei Therapeut. Damit haben Sie noch einen weiteren Ansatzpunkt. Wenn ich Therapeuten behandle, stelle ich oft fest, daß sie ihre eigenen beruflichen Fähigkeiten zu ihren Nutzen einsetzen können. Es ist immer gut, sie dazu zu zwingen, sich von außen zu sehen."
"Wie machen Sie das?"
"Eine ganz einfache Möglichkeit könnte darin bestehen, ihn zu bitten, sich einen Patienten vorzustellen, der mit denselben Sorgen in seine Praxis käme. Wie würde er an diesen Patienten herangehen? Fragen Sie ihn: ‘Wie sähen Ihre Gefühle bezüglich dieses Patienten aus? Wie könnten Sie ihm vielleicht helfen?’"
Ernest wartete, während Carol eine Seite umblätterte und fortfuhr, sich Notizen zu machen.
"Seien Sie darauf gefaßt, daß er diese Fragen mit Verärgerung aufnehmen wird; wenn Therapeuten tiefen Schmerz erfahren, sind sie für gewöhnlich wie alle anderen Menschen auch: Sie wollen, daß man sich um sie kümmert, und nicht, daß man sie zu ihren eigenen Therapeuten macht, Aber lassen Sie nicht locker ... es ist eine effektive Methode, es ist gute Technik. In unseren Geschäft nennt man so etwas ‘aus Liebe hart sein’.
‘Aus Liebe hart sein’, ist nicht meine starke Seite", fuhr Ernest fort. "Mein ehemaliger Supervisor pflegte mir zu sagen, daß ich mich im allgemeinen für die unmittelbare Genugtuung entscheiden würde, ein Verhalten, das mir die Liebe meiner Patienten einträgt, statt die wichtigere Genugtuung im Auge zu behalten, zu sehen, wie ihr Zustand sich bessert. Ich denke – nein, ich weiß –, daß er recht hatte. Für diese Erkenntnis bin ich ihm einiges schuldig."





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