Leseproben aus: Irvin D. Yalom, Die Liebe und ihr Henker





[1] Aus der Geschichte "Zwei Lächeln" (S. 242 f.)

[2] Aus der Geschichte "Therapeutische Monogamie" (S. 319)

[3] Die Geschichte "Ich hätte nie geglaubt, daß mir das passieren könnte" (S. 203 ff.)





[1]

Aus der Geschichte "Zwei Lächeln" (S. 242 f.)

Vor Jahren führte ich ein Experiment durch, bei dem eine Patientin und ich gemeinsame Therapiestunden jeweils aus unserer Sicht beschrieben. Später, als wir unsere Aufzeichnungen verglichen, fiel es uns mitunter schwer zu glauben, daß wir von derselben Stunde sprachen. Sogar unsere Ansichten über das, was uns weitergebracht hatte, gingen auseinander. Meine eleganten Interpretationen? Sie hatte sie überhaupt nicht mitbekommen. Statt dessen erinnerte sie sich dankbar an meine beiläufigen, persönlichen, ermutigenden Kommentare.
In solchen Augenblicken sehnt man sich nach einem Unparteiischen, der einem die richtige Sicht auf die Realität vorgibt, oder nach einer Momentaufnahme, die die Stunde gestochen scharf festhält. Wie beunruhigend zu erkennen, daß Realität Illusion ist oder bestenfalls eine auf dem Konsens der Beteiligten basierende demokratisierte Wahrnehmung.


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[2]

Aus der Geschichte "Therapeutische Monogamie" (S. 319)

Aber mit den Jahren habe ich gelernt, daß die Aufgabe des Therapeuten nicht darin bestehen kann. den Patienten zu gemeinsamen archäologischen Ausgrabungen zu motivieren. Wenn es jemals Patienten gab, denen auf diese Weise geholfen wurde, dann nicht, weil man jenen falschen Weg gesucht und gefunden hat (ein Leben scheitert nicht deshalb, weil es hier und da Fehlentwicklungen gegeben hat; es scheitert, weil die Grundrichtung falsch ist). Nein, ein Therapeut hilft seinem Patienten nicht, indem er in dessen Vergangenheit herumstöbert, sonder indem er am Hier und Jetzt dieses Menschen Anteil nimmt, sein Vertrauen gewinnt und ihm echtes Interesse entgegenbringt; und indem er darauf vertraut, daß der Patient durch die gemeinsame Arbeit schließlich erlöst und geheilt wird. Das Drama der Regression und der Rekapitulation des Inzests (und eigentlich jede in der Therapie verfolgte kathartische oder intellektuelle Zielsetzung) hat nur deshalb eine heilsame Wirkung, weil sie Therapeuten und Patienten eine interessante gemeinsame Beschäftigung ermöglicht, während die eigentliche therapeutische Kraft - die Beziehung - erst heranreift.


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[3]

Die Geschichte "Ich hätte nie geglaubt, daß mir das passieren könnte" (S. 203 ff.)

Ich begrüßte Elva im Wartezimmer und führte sie in meine Praxis. Irgendetwas mußte passiert sein, mühsam, mut- und schwunglos schleppte sie sich dahin. War mir in den letzten Wochen immer wieder ihr federnder Gang aufgefallen, so glich sie heute einmal mehr, jener verzweifelten, schwerfälligen Frau, die ich vor acht Monaten kennengelernt hatte. Ich erinnere mich noch an ihre ersten Worte: "Ich glaube, ich brauche Hilfe. Mein Leben erscheint mir sinnlos. Mein Mann ist jetzt seit einem Jahr tot, aber es ist alles noch genauso schlimm. Vielleicht brauche ich einfach länger als andere."
In der Therapie jedoch hatte sich das Gegenteil erwiesen. Wir waren nämlich erstaunlich schnell vorangekommen – vielleicht sogar zu schnell. Was konnte einen derartigen Rückschlag bewirkt haben?
Elva setzte sich, seufzte und sagte: "Ich hätte nie geglaubt, dass mir das passieren könnte."
Man hatte sie beraubt. Nach ihrer Beschreibung schien es sich um einen ganz normalen Handtaschendiebstahl zu handeln. Der Dieb mußte sie in einem Strandrestaurant in Monterey erspäht und gesehen haben, wie sie die Rechnung für sich und drei Freundinnen – alles ältere Witwen – in bar bezahlte. Er mußte ihr dann auf den Parkplatz gefolgt sein, und während seine Schritte im Lärm der Brandung untergingen, stürzte er auf sie zu, entriß ihr im Lauf die Handtasche und sprang in sein in der Nähe geparktes Auto.
Elva rannte trotz ihrer geschwollenen Beine zurück ins Restaurant, um Hilfe zu holen, doch natürlich war es schon zu spät. Wenige Stunden später fand die Polizei die leere Handtasche in einem Gebüsch am Straßenrand.
Dreihundert Dollar waren eine Menge Geld für sie, und einige Tage lang dachte Elva ständig an die große Summe, die sie verloren hatte. Allmählich verflüchtigte sich der Gedanke, doch zurück blieb ein bitterer Nachgeschmack, der sich in dem Satz: "Ich hätte nie geglaubt, daß mir das passieren könnte" äußerte. Zusammen mit ihrer Handtusche und ihren dreihundert Dollar war Elva eine Illusion geraubt worden – die Illusion, etwas ganz Besonderes zu sein. Sie hatte immer in einer privilegierten Welt gelebt und war nie mit den Unannehmlichkeiten und Widrigkeiten, mit denen sich der Mann auf der Straße herumschlug, in Berührung gekommen – mit dieser unüberschaubaren Masse aus der Sensationspresse und den Nachrichten, wo ständig jemand ausgeraubt und zum Krüppel geschlagen wurde.
Der Raubüberfall änderte alles. Vorbei war es mit der Behaglichkeit und Harmonie ihres bisherigen Lebens, vorbei mit dem Gefühl der Sicherheit. In ihrem Haus, mit den vielen Kissen, den flauschigen Decken, den dicken Teppichen und den Pflanzen hatte sie sich immer wohl gefühlt. Jetzt sah sie nur noch Schlösser, Türen, Alarmanlagen und Telefone. Sie war immer um sechs frühmorgens mit ihrem Hund spazierengegangen, jetzt erschien ihr die frühe Stille bedrohlich. Oft hielt sie mit ihrem Hund an und lauschte, ob Gefahr drohte.
Soweit war das nichts weiter Ungewöhnliches. Elva hatte durch den Vorfall einen Schock erlitten und zeigte nun die üblichen Nachwirkungen. Nach einem Unfall oder einem Überfall neigen die meisten Menschen zu einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis. übermäßiger Schreckhaftigkeit und übersteigerter Wachsamkeit. Doch mit der Zeit schwindet die Erinnerung an das Ereignis, und die Opfer finden allmählich wieder zu ihrer alten Sicherheit zurück.
Aber für Elva war mehr geschehen als ein einfacher Überfall. Für sie war eine Welt zusammengebrochen. Sie hatte oft gesagt: "Solange ein Mensch Augen, Ohren und einen Mund hat, kann ich auch mit ihm befreundet sein." Damit war es nun vorbei. Sie hatte ihren Glauben an das Gute im Menschen und an ihre persönliche Unverwundbarkeit verloren. Sie fühlte sich entblößt. gewöhnlich. schutzlos. Der Überfall – und darin lag seine eigentliche Wirkung – hatte eine Illusion zerstört und auf brutale Weise den Tod ihres Mannes heraufbeschworen.
Natürlich wußte sie, daß Albert tot war. Tot und seit über eineinhalb Jahren begraben. Sie hatte den gesamten ritualisierten Weg einer zukünftigen Witwe durchlaufen: Krebsdiagnose; die schreckliche, das Ende hinauszögernde Chemotherapie; ihr letzter gemeinsamer Besuch in Carmel; ihre letzte Fahrt über den EI Camino Real; das Krankenhausbett bei ihnen zu Hause; die Beerdigung; der Papierkrieg; die immer seltener werdenden Einladungen zum Dinner; die Clubs für Hinterbliebene; die langen, einsamen Nächte. Kurz, die komplette nekrotische Katastrophe. Doch trotz allem lebte sie weiter so, als hätte Albert nie aufgehört zu existieren, sie lebte, als würde er sie weiterhin beschützen und ihre Besonderheit garantieren, als ob Albert noch da sei, draußen in der Werkstatt neben der Garage.
Wohlgemerkt, ich spreche nicht von Wahnvorstellungen. Verstandesmäßig begriff Elva durchaus, daß Albert nicht mehr da war, und dennoch lebte sie ihr Leben mit der gewohnten Routine weiter, wenn auch hinter einem Schleier von Illusionen, die den Schmerz betäubten und den grellen Schein der Wahrheit dämpften. Vor über vierzig Jahren hatte sie mit dem Leben einen Vertrag abgeschlossen, dessen Modalitäten zwar mit den Jahren verblaßt waren, dessen Grundgedanke aber unverändert deutlich vor ihr stand: Albert wurde immer für Elva da sein. Diese unbewußte Prämisse war das Fundament, auf dem ihre ganze schöne Welt gründete – eine Welt, in der Sicherheit und ein gütiger Paternalismus herrschten. Albert war ein Allroundman. Er hatte als Dachdecker, Automechaniker, Faktotum und Tischler gearbeitet; er war ein handwerkliches Genie. Wenn er in einer Zeitung oder einem Magazin ein Möbelstück oder irgendein Gerät sah, das ihm gefiel. ging er in die Werkstatt und baute es nach. Ich als hoffnungsloser Fall in technischen Dingen hörte fasziniert zu. Einundvierzig Jahre mit einem solchen Allroundman zusammenzuleben, muß ein enorm beruhigendes Gefühl sein. Ich konnte leicht nachempfinden, warum Elva sich an die Vorstellung klammerte, Albert sei immer noch draußen in seiner Werkstatt, sei immer noch da, um sie zu beschützen. Wie könnte sie das alles aufgeben? Durch einundvierzigjährige Erfahrung in dieser Erinnerung bestärkt, hatte sie sich in einen Kokon eingesponnen, der sie gegen die Realität abschirmte – das heißt, bis ihr die Handtasche gestohlen wurde.
Bei unserem ersten Treffen vor acht Monaten konnte ich an Elva wenig Liebenswertes entdecken. Sie war eine untersetzte, unattraktive Frau, teils Gnom, teils Kobold, teils Kröte und bei all dem stets übel gelaunt. Ich stand wie gelähmt vor der Mimik und Formbarkeit ihres Gesichts: Sie zwinkerte mit den Augen oder verdrehte sie einzeln oder im Duett. Ihre Stirn glich einem Waschbrett und war ständig in Bewegung. Ihre immer sichtbare Zunge veränderte drastisch ihre Größe, wenn sie vor- und zurückschnellte oder wenn sie um ihre feuchten, gummiartigen, zuckenden Lippen kreiste. Ich erinnere mich, daß ich damals beinahe laut gelacht hätte bei dem Gedanken, ich würde sie einer Gruppe von Patienten vorstellen, die nach langjähriger Einnahme von Beruhigungsmitteln ein dystones Syndrom (eine durch Medikamente verursachte Abnormalität der Gesichtsmuskulatur) entwickelt hatten. Die Patienten hätten sich mit Sicherheit sofort zutiefst verletzt gefühlt, weil sie geglaubt hätten, Elva mache sich über sie lustig.
Doch was mir wirklich mißfiel an Elva. war ihr Zorn. Sie triefte vor Wut und ließ in unseren ersten Stunden über all ihre Bekannten – mit Ausnahme von Albert, natürlich – eine böse Bemerkung fallen. Sie haßte die Freunde, die sie nicht mehr einluden. Sie haßte die, die es ihr gegenüber an Aufmerksamkeit fehlen ließen. Ob man sie einbezog oder ausschloß, für sie waren alle gleich: Sie fand immer einen Grund für ihren Haß. Sie haßte die Ärzte, die ihr gesagt hatten, daß es mit Albert zu Ende gehe. Doch die, die ihr falsche Hoffnungen gemacht hatten, haßte sie noch mehr.
Diese Stunden waren hart für mich. Ich hatte mich in meiner lugend zu oft im stillen über die böse Zunge meiner Mutter geärgert. Ich erinnere mich, wie ich mir in meiner kindlichen Phantasie immer jemanden vorzustellen versuchte, den sie nicht haßte: Eine liebenswerte Tante? Einen Großvater, der ihr Geschichten erzählte? Eine ältere Spielgefährtin, die sie in Schutz nahm? Aber mir fiel niemand ein. Ausgenommen natürlich mein Vater, doch der war eigentlich ein Teil von ihr, ihr Sprachrohr, ihr Animus, ihre Schöpfung, und als solcher konnte er sich (gemäß Asimovs erstem Gesetz für Roboter) nicht gegen seinen Schöpfer wenden – trotz meiner Gebete, er möge ihr einmal – nur einmal, Dad. bitte! – so richtig eine knallen.
Mir blieb nichts anderes übrig als durchzuhalten, sie ausreden zu lassen, die Stunde irgendwie hinter mich zu bringen und meine ganze Phantasie zu mobilisieren, um ihr irgend etwas Hilfreiches zu sagen – zum Beispiel, wie schwer es doch für sie sein müsse, diesen ganzen Ärger mit sich herumzuschleppen, oder ähnlich leere Floskeln. Manchmal sprach ich sie, beinahe boshaft, auf die übrigen Familienmitglieder an. Es müsse doch irgend jemanden geben, der Respekt verdiene. Aber sie ließ an niemandem ein gutes Haar. Ihr Sohn? Sie sagte: "Sein Aufzug geht nicht bis zum letzten Stock." Er sei "immer abwesend": selbst wenn er da sei, sei er "abwesend". Und ihre Schwiegertochter? In Elvas Worten "eine NAP" eine nichtjüdische amerikanische Prinzessin. Wenn ihr Sohn nach Hause fahre, rufe er häufig seine Frau übers Autotelefon an und teile ihr mit, daß er gleich zu Abend essen wolle. Kein Problem für sie. Neun Minuten und keine mehr, sagte Elva, brauche die NAP, um das Abendessen zuzubereiten – um ein dürftiges TV-Dinner in der Mikrowelle zu "bestrahlen".
Jeder hatte einen Spitznamen. Ihre Enkelin hieß "Schlafzimmerschönheit" (sie flüsterte mit einem enormen Augenzwinkern und nickte dabei mit dem Kopf) und hatte zwei Badezimmer – wohlgemerkt, zwei. Ihre Haushälterin, die sie angestellt hatte, um nicht so allein zu sein, hieß "Irrenradio" und war so blöd, daß sie aus Angst, beim Rauchen ertappt zu werden, den Rauch bei laufender Spülung in die Toilettenschüssel blies. Ihre Bridgepartnerin war ein eingebildetes Weib, "Dämchen Maienweiß", wie sie sie nannte, und dabei war die noch relativ klar im Kopf im Vergleich zu all den Alzheimerschen Zombies und ausgebrannten Alkoholikern, die, wollte man Elva glauben, die bridgespielende Bevölkerung San Franciscos ausmachten. Aber trotz ihrer Bitterkeit und trotz meiner Abneigung gegen das Ebenbild meiner Mutter brachten wir diese Sitzungen irgendwie hinter uns. Ich hielt meine Gereiztheit im Zaum, kam ihr ein wenig näher, löste meine Gegenübertragungsprobleme, indem ich das Bild meiner Mutter verscheuchte, und begann langsam, sehr langsam, mit ihr warm zu werden. Ich glaube, die Wende trat an dem Tag ein, als sie sich mit einem "Mensch! Bin ich geschafft" in meinen Sessel fallen ließ. Als Antwort auf meine fragend hochgezogenen Augenbrauen erklärte sie, daß sie gerade achtzehn Löcher Golf mit ihrem zweiundzwanzigjährigen Neffen gespielt habe. (Elva war sechzig, ein Meter achtundvierzig "groß" und wog mindestens fünfundsiebzig Kilo.)
"Und, wie ist es gegangen?" erkundigte ich mich vergnügt, um auch meinen Teil zur Unterhaltung beizusteuern.
Elva beugte sich vor, hielt sich die Hand vor den Mund, als ob außer mir noch jemand mithören könnte, zeigte mir eine endlose Reihe enormer Zähne und sagte: "Ich hab' ihn fertiggemacht!"
Ich fand es so irrsinnig komisch, wie sie das sagte, daß ich lachen mußte, bis mir die Tränen in die Augen schossen. Elva freute sich über mein Lachen. Später erzählte sie mir, daß das der erste spontane Akt des Herrn Professor Doktor (das war also mein Spitzname! ) gewesen sei, und fiel in mein Lachen ein. Danach kamen wir wunderbar miteinander aus. Ich begann Elva zu schätzen – ihren Humor, ihre Intelligenz, ihre Komik. Sie hatte ein ausgefülltes, bewegtes Leben hinter sich. In mancher Hinsicht waren wir uns ähnlich. Wie ich hatte sie mit der Lösung vom Elternhaus den großen sozialen Sprung gemacht. Meine Eltern, damals beide Mitte Zwanzig, kamen ohne einen Cent als russische Immigranten nach Amerika. Ihre Eltern waren arme irische Einwanderer gewesen, und Elva hatte es von den Mietskasernen des irischen Viertels im Süden Bostons bis zu den Bridgeturnieren von Nob Hill in San Francisco geschafft.
Am Anfang der Therapie war jede Stunde mit Elva eine Schinderei. Ich mußte mich immer überwinden, wenn ich ins Wartezimmer ging, um sie hereinzuholen. Doch nach einigen Monaten war alles anders. Ich freute mich auf unsere Treffen. Keine Stunde verging ohne herzliches Lachen. Meine Sekretärin sagte immer, sie könne an der Art. wie ich lächelte, sehen, daß Elva an dem Tag bei mir gewesen sei.
Wir trafen uns mehrere Monate lang wöchentlich und machten gute Fortschritte, wie meistens, wenn Therapeut und Patient gerne zusammenarbeiten. Wir sprachen über ihr Leben als Witwe, ihre veränderte soziale Rolle, ihre Angst vor dem Alleinsein und über ihre Sehnsucht nach körperlicher Berührung. Aber vor allem sprachen wir über die Aggressivität, mit der sie ihre Familie und ihre Freunde vertrieben hatte. Mit der Zeit ließ ihr Groll nach; sie wurde sanfter und freundlicher. Ihre Geschichten über das Irrenradio, die Schlafzimmerschönheit, Dämchen Maienweiß und die Alzheimersche Bridge-Brigade verloren an Bitterkeit. Es kam zu ersten Wiederannäherungen; sowie ihre Wut nachließ, traten Familie und Freunde wieder in Erscheinung. Sie hatte sich so gut entwickelt, daß ich, kurz bevor der Überfall passierte, eine Beendigung der Therapie in Erwägung zog. Doch nach dem Raubüberfall hatte sie das Gefühl, wieder ganz von vorn anfangen zu müssen. Vor allem führte ihr dieser Vorfall klar vor Augen, daß sie ein ganz gewöhnlicher Mensch war, und ihr "Ich hätte nie geglaubt, daß mir das passieren konnte" zeigte, daß sie den Glauben, etwas Besonderes zu sein, verloren hatte. Natürlich blieben ihre besonderen Fähigkeiten und Begabungen, die Einzigartigkeit ihres Lebens und ihrer Person davon unberührt. Das ist die rationale Seite der Einzigartigkeit (die bei einigen stärker ausgeprägt ist als bei anderen). Dieses Gefühl gehört zu den wirkungsvollsten Mechanismen, den Tod zu leugnen, und der Teil unseres Bewußtseins, dessen Aufgabe es ist, die Angst vor dem Tod zu mildern, erzeugt den irrationalen Glauben, daß wir unverwundbar sind – daß unangenehme Dinge wie Altern und Tod das Los der anderen sind, nicht aber unseres, daß wir jenseits aller Gesetzmäßigkeiten existieren, jenseits des menschlichen und biologischen Schicksals.
Obwohl Elva auf den Raub ihrer Handtasche scheinbar irrational reagierte (indem sie zum Beispiel verkündete, daß es für sie auf dieser Welt keinen Platz mehr gebe, weil sie Angst habe, aus dem Haus zu gehen), war es klar, daß sie in Wirklichkeit darunter litt, daß sie ihres irrationalen Glaubens beraubt worden war. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, eine Ausnahme, ein für immer unverwundbares Glückskind – all diese Selbsttäuschungen, die so gut funktioniert hatten, hatten ihre Überzeugungskraft verloren. Sie durchschaute ihre eigenen Illusionen, und was die Illusionen bisher verdeckt hatten, war nun schonungslos dem Blick preisgegeben.
Jetzt konnte man an den Schmerz herankommen. Das ist der Augenblick, dachte ich, um die Wunde weit zu öffnen, damit sie anschließend wieder schnell und gut verheilen konnte.
"Ich verstehe genau, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Sie hätten nie geglaubt, daß Ihnen das passieren könnte", sagte ich. "Auch für mich ist es schwer zu akzeptieren, daß dieses ganze Elend – Altern, Verlust, Tod – niemandem, also auch mir nicht, erspart bleibt."
Elva nickte, ihre gerunzelte Stirn zeigte, daß sie von dieser Äußerung persönlicher Gefühle überrascht war.
"Sie müssen das Gefühl haben, daß Ihnen das nie passiert wäre, wenn Albert noch am Leben wäre." Ich ignorierte ihre schnoddrige Antwort, daß sie, wenn Albert noch leben würde, diese drei alten Hennen nicht zum Essen eingeladen hätte. "Der Überfall hat Ihnen also klargemacht, daß er wirklich nicht mehr da ist."
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber ich hielt es für richtig, ja für meine Pflicht, fortzufahren. "Ich weiß, daß Sie das vorher auch schon wußten. Aber ein Teil von Ihnen wußte es nicht. Jetzt wissen Sie wirklich, daß er tot ist. Er ist nicht im Garten. Er ist nicht in der Werkstatt. Er ist nirgendwo. Nur noch in Ihren Erinnerungen."
Jetzt weinte Elva richtig. Minutenlang hob und senkte sich ihr untersetzter Körper mit jedem Schluchzen. Das hatte sie in meiner Gegenwart noch nie getan. Ich saß da und fragte mich: "Und was mache ich jetzt?"Zum Glück hatte ich einen Einfall, der sich im nachhinein als genial erwies. Meine Augen fielen auf ihre abgenutzte Handtasche – genau die, die man ihr damals geraubt hatte –, und ich sagte: "Pech haben ist eine Sache, aber fordern Sie das Schicksal nicht geradezu heraus, wenn Sie ständig so ein Riesending mit sich herumschleppen?" Elva, forsch wie immer, konnte sich nicht verkneifen, mich auf meine vollgestopften Hosentaschen hinzuweisen. Sie bezeichnete ihre Handtasche als "mittelgroß".
"Noch etwas größer", entgegnete ich, "und Sie brauchen einen Gepäckwagen dafür."
"Außerdem", sagte Elva, ohne auf meine Provokation einzugehen, "brauche ich alles, was da drin ist."
"Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Lassen Sie mal sehen!"
Elva schien an dem Spiel Gefallen zu finden, denn sie beförderte ohne Zögern ihre Handtasche auf meinen Tisch, öffnete sie, so weit es ging, und begann sie zu leeren. Das erste, was die Hundebesitzerin herausholte, waren drei Beutel für Essensreste.
"Sie brauchen wohl zwei zusätzliche für den Notfall?" fragte ich. Elva gluckste und räumte weiter ihre Tasche aus. Gemeinsam inspizierten wir den gesamten Inhalt und sprachen über jedes einzelne Teil. Elva gab zu, daß drei Päckchen Taschentücher und zwölf Kugelschreiber (und drei Bleistiftstummel) in der Tat übertrieben seien, hielt aber an der Notwendigkeit von zwei Flaschen Eau de Cologne und drei Haarbürsten fest und wies mit einer gebieterischen Handbewegung meine Kritik an einer großen Taschenlampe, sperrigen Notizblöcken und einem riesigen Bündel Fotos zurück.
Wir stritten uns über alles. Die Rolle mit fünfzig Zehncentstücken. Drei Bonbontüten (kalorienarm, versteht sich). Sie kicherte, als ich fragte: "Glauben Sie, Elva, daß Sie um so schlanker werden, je mehr Sie davon essen?" Ein Plastikbeutel mit Orangenschalen. ("Man weiß ja nie, Elva, wann man die noch mal brauchen kann.") Ein Bündel Stricknadeln (Sechs Nadeln auf der Suche nach einem Pullover, dachte ich). Ein Paket Stärkemehl. Einen halben Roman von Stephen King (Elva riß die Seiten heraus, wenn sie sie gelesen hatte: "Es lohnt sich nicht, so was aufzuheben", erklärte sie). Einen kleinen Hefter ("Elva, das ist doch Wahnsinn!"). Drei Sonnenbrillen. Und aus den hintersten Ecken kramte sie noch alle möglichen Münzen, Papierfetzen, Nagelscheren, eine Nagelfeile und ein Bündel gezupfter Baumwolle hervor.
Als die große Tasche schließlich alles hergegeben hatte, starrten Elva und ich verwundert auf den in mehreren Reihen über meinen Tisch ausgebreiteten Inhalt. Irgendwie waren wir traurig, daß die Tasche nun leer war, es nichts mehr auszuräumen gab. Elva wandte sich um und schenkte mir ein zärtliches Lächeln, das ich erwiderte. Es war ein außerordentlich intimer Augenblick. Auf eine Weise, wie es nie zuvor ein Patient getan hatte, hatte sie mir alles gezeigt. Und ich hatte alles akzeptiert und sogar noch mehr verlangt. Ich folgte ihr in jeden Winkel und jede Ecke, erstaunt und gleichzeitig erschrocken, daß die Handtasche einer alten Frau Isolation wie auch Nähe verkörperte: die absolute Isolation, die integraler Bestandteil der Existenz ist, und die Nähe, die die Angst vor der existentiellen Isolation zerstreuen kann, wenn sie auch an der Tatsache selbst nichts zu verändern vermag.
Diese Stunde hatte grundlegende Veränderungen bewirkt.
Dieser Moment außergewöhnlicher Nähe – man könnte es auch als Liebe bezeichnen – brachte die Erlösung. In dieser einen Stunde war Elva aus ihrer Einsamkeit aufgetaucht und hatte den Glauben an das Leben wiedergefunden. Sie wurde wieder lebendig und spürte, daß sie noch zu großer Nähe fähig war.
Ich glaube, es war die beste Therapiestunde, die ich je erlebt habe.


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