Leseprobe aus: Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte






Breuer spricht mit Freud über Nietzsche, der bei Breuer unter dem Pseudonym "Müller" Patient ist (S. 123 ff.)

Die rot hervorgehobenen Stellen stammen aus Nietzsches Werken



Breuer bemerkte, daß sein junger Freund tatsächlich sehr angeregt wirkte. Freuds Augen blitzten vor Neugier, als er fragte: "Wie ernst ist die Gefahr eines Freitodes? Konnten sie den Patienten bereden, Beistand zu suchen?"
Jetzt war es an Breuer, verlegen zu werden. Die Erinnerung daran, wie er bei ihrer letzten Unterredung sein Talent zur Gesprächsführung gepriesen hatte, ließ ihn schamrot werden. "Er ist ein rechter Kauz, sigmund. Noch nie bin ich auf einen solchen Widerstand gestoßen; er gleicht einer Mauer. Einer intelligenten Mauer. Er bot immer wieder Veranlassung, nachzufragen. Er sprach davon, daß er sich an nur fünfzig Tagen im Jahr wohl befinde, sprach von Mitternächten der Seele, davon, daß er verraten worden sei, von seiner Vereinsamung, davon, ein Autor ohne Leser zu sein, von Schlaflosigkeit und bösen Nachtgedanken ..."
"Aber Josef, dann boten sich Ihnen doch genau die Gelegenheiten, auf welche Sie, wie Sie sagten, nur warteten!"
"Ja, allerdings. Doch Mal um Mal stand ich, kaum daß ich eine solche Gelegenheit beim Schopfe ergreifen wollte, mit leeren Händen da. So gab er zwar zu, oft krank zu sein, beharrte jedoch darauf, daß nur sein Leib erkranke, nicht er, nicht sein Wesen. Und betreffs der Mitternächte der Seele sagte er, er sei stolz darauf, den Mut zu ihnen zu haben! ‚Stolz auf den Mut zu Mitternächten der Seele' ist das zu fassen? Verrückte Reden! Verrat? Ich vermute, er meint das, was zwischen ihm und Fräulein Salome vorgefallen ist, doch behauptet er, alle Anfechtungen überwunden zu haben, und wünscht nicht, darüber zu sprechen. Und was den Selbstmord angeht, so streitet er ab, sich mit derlei Absichten zu tragen, verteidigt jedoch andernteils das Recht des Patienten auf seinen eigenen Tod. Zwar mag ihn der Tod locken - in seinen Worten genießen die Toten das Vorrecht, nicht mehr sterben zu müssen! -, doch hat er noch zu vieles zum Abschluß zu bringen, zu viele Bücher zu schreiben, ja, er spricht davon, daß sein Geist schwanger gehe mit Büchern, und die Kopfschmerzen seien zerebrale Geburtswehen."
Freud schüttelte mitfühlend den Kopf. "Zerebrale Geburtswehen - was für ein Bild! Eine Minerva, die der Stirn des Zeus entspringt! Seltsame Gedanken - zerebrale Geburtswehen, das Recht auf den eigenen Tod, der Mut zu Mitternächten der Seele. Ein Mann von Geist, Josef. Fragt sich nur, ob verwirrter Geist oder geistvolle Verwirrung?"
Breuer schüttelte seinerseits ratlos den Kopf. Freud lehnte sich zurück, blies eine dicke blaue Rauchwolke aus und sah zu, wie sie aufstieg und zerfloß, ehe er wieder sprach. "Der Fall wird von Tag zu Tag kurioser. Was ist dann noch von Fräulein Salomes Darstellung lebensmüder Verzweiflung zu halten? Lügt er ihr etwas vor? Oder Ihnen? Oder sich selbst".
"Sich selbst, Sigmund? Wie vermag man sich selbst etwas vorzulügen? Wer wäre denn der Lügner, wer der Belogene?"
"Ein Teil von ihm spielt mit dem Gedanken an Selbstmord, doch der bewußte Teil ahnt nichts davon."
Breuer wandte den Kopf und musterte seinen jungen Freund eindringlich. Er hatte eine spöttische Miene erwartet, doch Freud blieb vollkommen ernst.
"Sigmund, Sie reden immer öfter von diesem kleinen Homunkulus im Unbewußten, welcher ein von dem seines Wirtes gesondertes Eigenleben führte. Bedenken Sie, was ich Ihnen geraten habe: Debattieren Sie diese Theorie mit niemandem außer mir. Ach was, Theorie! Es fehlen ja die Belege; nennen wir es lieber ein Gedankenspiel. Lassen Sie keinesfalls Brücke von diesem Gedankenspiel erfahren, er würde sich vom Verdachte freigesprochen fühlen, nicht den Mut besessen zu haben, einen jüdischen Bewerber zu unterstützen."
Freud reagierte ungewohnt entschieden. "Gut, das bleibt unter uns, bis gesicherte Erkenntnisse vorliegen. Dann aber wird mich nichts von einer Veröffentlichung zurückhalten."
Zum erstenmal wurde Breuer inne, daß seinem jungen Freunde kaum noch etwas von einem Grünschnabel anhaftete. Statt dessen zeigten sich immer deutlicher eine bewunderungswürdige Kühnheit und Bereitschaft, für die eigenen Überzeugungen einzustehen - Eigenschaften, die Breuer nur zu gern selbst gehabt hätte.
"Sigmund, Sie sprechen von gesicherten Erkenntnissen, als ob es sich um einen Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung handelte. Doch Ihr kleiner Homunkulus hat keine manifeste Realität. Er ist ein Konstrukt, eine platonische Idee. Was vermöchte denn als empirischer Beleg zu dienen? Können Sie mir ein einziges Beispiel nennen? Und kommen Sie mir nicht mit Träumen, die erkenne ich nicht als Beweise an. Sie sind ihrerseits nichts als gegenstandslose Gebilde."
"Sie selbst haben doch den Beweis geliefert, Josef. Sie erklären, Bertha Pappenheims Affektleben sei von Ereignissen beherrscht worden, welche akkurat zwölf Monate zuvor stattgefunden hätten - Ereignisse, von denen sie keine bewußte Kenntnis haben konnte. Und die dennoch detailliert beschrieben waren im Merkheft der Mutter aus der fraglichen Zeit. Meiner Ansicht nach kommt dem die nämliche Beweiskraft zu wie Laborergebnissen."
"Aber das setzte voraus, daß Bertha eine zuverlässige Zeugin wäre, daß ihr in der Tat die betreffenden Ereignisse nicht erinnerlich waren."
‘Aber, aber, aber. Typisch!’ dachte Breuer. Da war er wieder, der ‘Dämon Aber’. Er hätte sich ohrfeigen mögen. Sein Leben lang schwankte er zwischen stets wechselnden Aber-Positionen - wie jetzt wieder mit Freud und zuvor mit Nietzsche -, wo er doch in beiden Fällen im tiefsten Herzen vermutete, daß sie recht hatten. Freud kritzelte wieder ein paar Zeilen in sein Notizheft. "Josef, ob es sich wohl einrichten ließe, daß ich Frau Pappenheims Journal studieren dürfte?"
"Ich habe es ihr zurückgegeben, aber ich denke, ich könnte es ihr noch einmal abschmeicheln."
Freud zog seine Uhr aus der Tasche. "Ich muß bald wieder ins Spital, zur Visite Nothnagels. Aber sagen Sie mir doch vorher noch rasch, was Sie mit Ihrem widerstrebenden Patienten zu tun gedenken."
"Also wenn es allein nach mir ginge, das folgende. Zunächst gälte es, ein solides Vertrauensfundament zu schaffen. Dann hätte ich ihn gern einige Wochen zum Studium seiner Hemikranie wie zur Erprobung und Dosierung einiger Medikamente in der Klinik. Ferner käme ich während dieser Zeit gern regelmäßig mit ihm zusammen, um mit ihm ausführlich über seine Verzweiflung zu sprechen." Breuer seufzte. "Aber meinem bisherigen Eindruck nach besteht wenig Aussicht darauf, daß er auch nur in einem einzigen Punkte Konzilianz zeigte. Irgendwelche Vorschläge, Sigmund?"
Freud, der immer noch in Livelings Monographie blätterte, hielt nun Breuer eine aufgeschlagene Seite entgegen. "Hier, hören Sie sich das an. Unter ‘Ätiologie‘ heißt es hier: ‘Migräneanfälle können auch durch Dyspepsie, Überreizung der Augen oder allgemeine nervliche Anspannung hervorgerufen werden. Bettruhe kann angezeigt sein. Jungen Migräneleidenden sollten unter Umständen die Belastungen der Schulerziehung erspart werden zugunsten einer Unterrichtung in vertrauter häuslicher Umgebung. Bei älteren Patienten empfehlen einige Ärzte die Wahl eines weniger fordernden Berufs.’"
Breuer warf ihm einen fragenden Blick zu: "Und?"
"Ich glaube, hier liegt die Lösung! Nervliche Anspannung!
Warum nicht die Anspannung zum Kardinalpunkt Ihrer Behandlung machen? Sie könnten vertreten, Herr Müller müsse, um seine Migräne zu überwinden, übermäßige Belastungen reduzieren, namentlich die geistige Anspannung. Sie könnten ihm auseinandersetzen, wie die Anspannung eine Form unter-drückten Affektes sei und daß diese - ähnlich wie im Falle Berthas - gelindert werden könne, indem ein Ablauf geschaffen werde. Sie könnten die Methode des ‘chimney-sweeping’ anwenden. Sie könnten ihm sogar diese Abhandlung von Liveling zeigen und das ganze Gewicht der fachlichen. medizinischen Autorität in die Waagschale werfen."
Freud sah, daß Breuer lächelte, und fragte bekümmert: "Sie finden meinen Vorschlag unsinnig?"
"Ganz und gar nicht, Sigmund. Im Gegenteil: Ich finde ihn glänzend, und ich werde ihm genauestens folgen. Schmunzeln mußte ich über Ihre letzten Worte: ‘das ganze Gewicht der fachlichen, medizinischen Autorität in die Waagschale werfen’. Sie müßten den Patienten kennen, um die Komik zu erfassen; ich jedenfalls muß bei der Vorstellung, daß er sich von einer medizinischen - oder überhaupt irgendeiner - Autorität beeindrucken ließe, lachen."
Und hierauf schlug Breuer Nietzsches Fröhliche Wissenschaft auf und las einige Passagen vor, die er angestrichen hatte. "Herr Müller stellt jegliche Autorität, alle Konventionen, in Frage", schickte er voraus. "Er stellt Tugenden auf den Kopf und nennt sie Laster. Hier etwa die Treue: ‘Er hält aus Trotz an einer Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist - er nennt es aber Treue.’
Oder die Höflichkeit: ’Er ist so höflich! Ja, er hat immer einen Kuchen für den Zerberus bei sich und ist so furchtsam, daß er jedermann für den Zerberus hält, auch dich und mich - das ist seine Höflichkeit.’ Oder hier haben Sie ein treffliches Gleichnis sowohl für die Sehschwäche als auch für die Verzweiflung: ‘Alle Dinge tief finden - das ist eine unbequeme Eigenschaft: sie macht, daß man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat.‘"
Freud hatte mit großer Aufmerksamkeit zugehört. "‘Mehr findet, als man gewünscht hat’ ", murmelte er. "Ich wüßte zu gern, was er gefunden hat. Darf ich das Buch mal sehen?"
Doch Breuer war vorbereitet: "Sigmund, er hat mir das Versprechen abgenommen, daß ich es niemandem zeige, weil es persönliche Anmerkungen enthält. Im Moment steht das Vertrauen zwischen uns noch auf solch tönernen Füßen, daß ich wohl beraten bin, seine Bitte zu ehren. Späterhin vielleicht."
Nach einer Pause fuhr er fort: "Eines war sehr merkwürdig an der Unterredung mit Herrn Müller ..." - er ließ den Finger auf einer der letzten angestrichenen Stellen ruhen - "... wann immer ich Mitempfinden zeigte, zog er sich zurück. Ah! Da ist es: ‘Über den Steg’! Ja, das ist die Stelle, die ich suchte."
Während Breuer vorlas, schloß Freud die Augen, um sich besser sammeln zu können.
"‘Wir sind uns einmal im Leben so nahe gewesen, daß nichts unsere Freundschaft und Brüderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich: ‘Willst du zu mir über den Steg?’ - Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reißende Ströme und was nur trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zueinander wollten, wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr - nur noch Schluchzen und Verwunderung.’"
Breuer ließ das Buch sinken. "Was halten Sie davon, Sigmund?" "Ich bin mir nicht ganz einig." Freud erhob sich und ging vor den Bücherregalen auf und ab, während er sprach: "Eine wunderliche kleine Geschichte. Wollen wir sie enträtseln: Einer ist im Begriff, über den Steg zu kommen - das heißt, dem Freunde sich zu nähern -, als der andere ihn zu dem auffordert, was ohnedies sein Vorhaben war. Prompt ist dem ersten der Schritt nicht mehr möglich, da es ihm nun erschiene, als gebe er dem anderen nach - die Macht kommt der Nähe ins Gehege."
"Ja! Ja, Sie haben vollkommen recht, Sigmund. Ausgezeichnet! Ich verstehe. Das heißt, Herr Müller muß jeden Ausdruck des Wohlwollens oder der Hinwendung als Griff nach der Macht empfinden. Wie seltsam; es vereitelt nachgerade jeden Versuch einer Annäherung. An anderer Stelle sagt er auch, wir empfinden Haß gegen die, welche unsere Heimlichkeiten sehen und uns bei zärtlichen Gefühlen ertappen. Was wir in diesen Momenten benötigen, sei nicht Mitempfinden, sondern die Gelegenheit, die Beherrschung über unsere Gefühle wiederzuerlangen."
"Josef", hob Freud an, setzte sich und streifte Zigarrenasche in den Aschenbecher, "letzte Woche hatte ich das Glück, Billroth bei der Anwendung seiner brillanten neuen Eingriffstechnik zur Resektion eines karzinösen Magens zusehen zu dürfen. Wenn ich Sie höre, will es mir fast scheinen, als hätten Sie eine ähnlich schwierige und heikle psychologische Operation durchzuführen. Sie wissen von dem Fräulein um seine Selbstmordimpulse, dürfen ihn jedoch nicht ahnen lassen, daß Sie es wissen. Sie müssen ihn dazu bringen, seine Verzweiflung offenzulegen, doch sollte es Ihnen gelingen, wird er Sie dessentwegen hassen, daß Sie ihn beschämen. Sie müssen sein Vertrauen gewinnen, doch sobald Sie ihm Mitgefühl entgegenbringen, wird er Sie des Versuchs verdächtigen, Macht über ihn gewinnen zu wollen."
"Eine psychologische Operation - ein interessanter Vergleich", sinnierte Breuer. "Vielleicht entwickeln wir eine ganz eigene medizinische Fachrichtung. Warten Sie. ich wollte Ihnen noch etwas vorlesen, das mir wichtig erscheint."
Er blätterte minutenlang in Menschliches, Allzumenschliches. "Ich finde die Stelle leider nicht, aber sie besagt in etwa, daß der, welcher nach der Wahrheit forsche, sich einer Seelenprüfung unterziehen müsse - psychologische Zergliederung nennt er sie. Er geht sogar noch weiter: Er sagt, daß die Irrtümer selbst der Größten unter den Philosophen auf ihre Unkenntnis der eigenen Motive zurückzuführen seien. Er behauptet, um die Wahrheit zu finden, müsse man zuerst sich selbst ganz kennen. Und dazu müsse man seinen gewohnten Sehwinkel verlassen, sein Jahrhundert und sein Heimatland - um sich dann aus der Ferne zu studieren!"
"Die eigene Psyche zergliedern! Kein leichtes Unterfangen", sagte Freud und stand auf, um sich zu verabschieden. "Doch eines, bei dem gewißlich die Begleitung eines objektiven, erfahrenen Führers hilfreich wäre!"
"Der nämliche Gedanke kam auch mir!" rief Breuer. Er begleitete Freud den Flur hinab. "Und das Allerschwerste wird sein, ihn für diesen Gedanken zu erwärmen!"
"Das halte ich nicht einmal für so schwierig", meinte Freud. "Schließlich können Sie sich auf seine eigenen Argumente zur psychologischen Zergliederung berufen; und überdies auf die medizinische Theorie - natürlich möglichst unter der Hand. Es wird Ihnen sicherlich gelingen, Ihren widerstrebenden Professor vom Nutzen einer Selbstbetrachtung unter Ihrer weisen Führung zu überzeugen, da zweifle ich nicht. Auf Wiedersehen, Josef."
"Danke, Sigmund", sagte Breuer und umfaßte seinem Freund kurz die Schulter. "Es war ein lehrreiches Gespräch, eines, bei welchem der Lehrer viel von seinem Schüler gelernt hat."