Aus der Schreibwerkstatt (November 2006)

Ausschnitt 2 aus einem Text mit dem Arbeitstitel "Das Grundeinkommen"







(...)

Als wir beide am Samstagabend vor dem Fernseher saßen, war ich gebührend aufgeregt. Arne war dagegen die Ruhe selbst. Er strahlte eine felsenfeste Sicherheit aus, er wusste genau, dass ihm die Mächte des Himmels seine Bitte erfüllen würden, und sah dem Ereignis mit der allergrößten Gelassenheit entgegen. Der ausgefüllte Lottoschein, das heißt der Quittungsdurchschlag, lag vor uns auf dem Tisch. "Du hast den Schein doch abgegeben?" fragte ich. Arne schaute mich nur kurz an, sagte nichts. Ich entschuldigte mich stumm, nahm den Zettel zum x-ten Mal in die Hand und blickte auf die acht ausgefüllten Felder. "Warum hast du alle acht ausgefüllt? Wenn dir deine Freunde wirklich helfen, dann hätte doch die Mindestanzahl auch genügt, zwei, das wäre billiger gewesen."

"Ja, aber ich hätte dabei kein gutes Gefühl gehabt, ich wäre mir irgendwie knauserig vorgekommen. Und vielleicht hätte ich sogar noch irgendwo ein Problem verursacht."

"Was für ein Problem?"

"Schau her: wenn die mir jetzt also einen Gewinn schenken wollen," – er hatte meine saloppe Redeweise übernommen, und sprach jetzt auch von ‚ihnen’, nachdem er sich bisher nicht auf eine Präzisierung eingelassen hatte, mit was oder wem er eigentlich Kontakt aufgenommen hatte – "dann ist es doch besser, ich lasse ihnen etwas Auswahl mit den Zahlen. Es spielen ja noch Millionen andere an diesem Wochenende Lotto, und vielleicht haben ja andere dieselben Zahlen wie ich getippt."

"Na und, dann gewinnt eben noch jemand außer dir. Was spielt das für eine Rolle?"

"Aber ein großer Lottogewinn ist doch auf jeden Fall ein Eingriff in das Schicksal. Egal, ob derjenige wie ich persönlich darum gebeten hat oder nicht. Das muss doch irgendwie in die individuelle Biographie passen."

So hatte ich mir das noch nicht überlegt. Ich war immer einfach von einem Zufall ausgegangen, und wen ein Lottogewinn traf, der hatte eben Glück gehabt, und alle anderen Pech. Aber ich verstand, was Arne meinte. Wenn es wirklich möglich war, mit Kräften in Verbindung zu treten, die in der Lage waren, diesen – dann nur noch so genannten – Zufall zu steuern, dann lag es nahe, in sämtlichen Lottogewinnen, jeden Samstag und jeden Mittwoch, das Walten eines übergeordneten Geschickes zu sehen. Und damit musste natürlich sorgfältig umgegangen werden.

Inzwischen hatte die Lottomusik eingesetzt, die Ansagerin begrüßte die Zuschauer, und die gläserne Trommel mit den neunundvierzig kleinen weißen Bällen fing an, sich zu drehen. Ich spürte, wie ich feuchte Hände bekam und blickte Arne von der Seite an. Er hatte sich wieder zurückgelehnt, saß unbeweglich neben mir auf dem Sofa und schaute mit halb geschlossenen Lidern auf den Bildschirm. Fast kam er mir teilnahmslos vor. Oder versuchte Arne jetzt noch meditativ Einfluss auf den Ablauf der Ziehung zu nehmen?

Die Trommel hielt an, kehrte ihre Drehrichtung um, einige der Kugeln wurde von der langen gabelartigen Auffangvorrichtung erfasst, die sie der Öffnung zuführte, dann fiel die erste Kugel in das röhrenförmige Auffanggefäß. Es war die Neun.

"Hast du die Neun irgendwo?" Ich überflog den Schein hastig und suchte nach der Neun auf den Zahlenfeldern.

"Natürlich hab ich die Neun. Mehrmals."

Tatsächlich, die Neun war viermal auf dem Schein angekreuzt. Ich griff zu dem Stift, den ich mir zurechtgelegt hatte, und machte um jede der Neunen einen Kringel.

Die Trommel drehte sich inzwischen wieder, blieb stehen, kehrte wieder um und entließ ein zweites Mal einen der kleinen weißen Bälle. Die Zehn.

Auf zwei der acht Felder war die Zehn angekreuzt. Ich umringelte sie. Auf beiden Feldern war auch die Neun angekreuzt. Bleib ruhig, sagte ich mir, zwei oder drei Richtige, das ist nichts Besonderes.

"Fängt gut an", sagte ich. Arne bewegte sich nicht.

Die Trommel setzte sich zum dritten Mal in Bewegung. Die Sechsundvierzig fiel in die kleine Röhre. Mein Blick flog über den Schein. Zweimal sechsundvierzig, davon einmal in einem der Felder, in denen auch die Neun und die Zehn angekreuzt waren.

"Drei Richtige. Deinen Einsatz hast du wenigstens wieder." Arne sah mich kurz mit hochgezogenen Augenbrauen an, sein Blick schien mir etwas spöttisch.

Vierte Runde. Als die Kugeln bei der Rückwärtsdrehung von der Gabelbahn aufgenommen wurde, versuchte ich die Zahlen auf der vordersten Kugel, welche in den Glaszylinder fallen würde, zu erkennen, aber es gelang mir nicht. Gebannt verfolgte ich, wie sie sich drehte. Dann öffnete sich die Klappe, und die Kugel fiel. Es war die Achtzehn. Ich wusste, dass die Achtzehn in dem Feld angekreuzt war, in dem sich schon drei meiner Kringel befanden, ich hatte mir die restlichen drei Zahlen in diesem Feld gemerkt, da es jetzt als einziges für einen Gewinn in Frage kam.

"Vier!" Ich stieß Arne den Ellbogen in die Seite. Er schaute mich strafend an.

"Weißt du denn die Zahlen auf dem ganzen Zettel auswendig?" fragte ich ihn, da er bisher noch keinen einzigen Blick auf den Schein geworfen hatte.

"Nein, aber das brauch ich auch nicht, solange du hier so ein Theater aufführst."
Ich wollte etwas erwidern, unterließ es aber.

"Außerdem weiß ich sowieso, dass ich gewinne." Jetzt lächelte er mich an, ganz freundlich, kein Spott mehr.

Die Trommel drehte sich zum fünften Mal. Ich versuchte ruhig zu bleiben, atmete bewusst langsam ein und aus und schloss die Augen. In dem Feld hatte Arne noch die Fünfundzwanzig und die Sechsunddreißig angekreuzt. Als ich das Klacken der Kugel hörte, während sie in ihre endgültige Position fiel, riss ich meine Augen wieder auf. Fünfundzwanzig!

"Arne", flüsterte ich. Ich hörte, wie er tief ein- und ausatmete. Er schaute mich an, strahlte dabei eine große Zufriedenheit aus, nickte kaum merklich, brummte ein leises ‚Hmm‘ und schloss für ein paar Sekunden die Augen.

Als sich die Kugel zum sechsten Mal zu drehen begann, fühlte ich, wie mir der Schweiß den Rücken hinab rann. Jetzt musste nur noch die Sechsunddreißig fallen. Ich schloss ebenfalls die Augen. Durch die Musik hindurch war deutlich das Anhalten der Trommel zu hören, das klackende Geräusch der ständig gegeneinander prallenden kleinen Bälle verstummte für einen Moment, bevor es wieder einsetzte. Die Trommel war auf ihrem Rücklauf, jetzt mussten die Kugeln die lange gebogene Gabel entlang rollen, jetzt musste die Klappe aufgehen, jetzt, jetzt ... Klack! Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie die Sechsunddreißig in das Gefäß plumpste.

Ich riss die Augen auf.

Die Zahl auf der Kugel in dem Röhrchen war die Vier.

"Nein!" entfuhr es mir. Ich hielt die Luft an.

Arne, der ebenfalls bis zu diesem Augenblick die Augen geschlossen hatte, sah irritiert auf. Er blickte auf den Bildschirm, sah die Vier, griff dann zu dem Schein, als ob er nicht glauben wollte, was er gesehen hatte und schaute ratlos von einem Zahlenfeld zum andern und wieder zum Fernseher. Dann schaute er zu mir.

"Also, ich, na ja ..." Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann gewann ich meine Balance wieder. "Mann, Arne, hey! Fünf Richtige! Das ist doch Klasse! Das ist ein Haufen Geld!" Er sah mich immer noch verwirrt an, schien nicht recht zu verstehen, was da vor sich ging.

"Mensch, freu dich doch!" Ich boxte ihn in gegen den Oberarm.

"Da stimmt was nicht", murrte er in sich hinein.

Inzwischen war die Trommel zum letzten Mal angelaufen, um die Zusatzzahl auszulosen. Wir schauten beide nur noch mit halbem Interesse auf den Bildschirm. Arne, weil er immer noch wie entgeistert war und nicht verstand, was da geschehen war, und ich, weil ich jetzt anfing, mich über ihn zu ärgern. Wie konnte man nur so verbohrt sein. Fünf Richtige, das waren doch auf jeden Fall ein paar tausend Euro! Wieso freute sich dieser undankbare Kerl nicht darüber! Fast war mir sein Verhalten peinlich gegenüber den unsichtbaren Geistern, die ihm dieses Geschenk gemacht hatten.

Die Zusatzzahl fiel. Es war die Sechsunddreißig.

Ich schnappte noch einmal nach Luft, damit hatte ich nicht mehr gerechnet.

"Ah!" stöhnte Arne auf. "Wenigstens Fünf mit Zusatzzahl. Aber irgendwas stimmt trotzdem nicht." Fünf Richtige mit Zusatzzahl. Das war womöglich richtig viel Kohle. Das konnten hunderttausend Euro oder mehr sein. Ich hatte mich schlau gemacht, hatte den halben Nachmittag Lottostatistiken studiert. Und dieser Klotz saß neben mir, konfus, und fand, dass etwas nicht stimmte. Ich wurde richtig wütend. "Du spinnst! Da regnet es einen Riesenhaufen Geld vom Himmel auf dich herunter und dir fällt nichts anderes ein, als dich zu beklagen! Du kannst wohl den Hals nicht voll genug kriegen!"

"Nein, nein, du verstehst das nicht. Doch, ich freu mich. Und ich bin auch dankbar, wirklich. Aber ich verstehe es trotzdem nicht."

Er wollte mir nicht mehr dazu erklären und verabschiedete sich nach kurzer Zeit. Er wolle jetzt allein sein, sagte er. Äußerlich hatte er seine Fassung wieder zurückgewonnen. "Es wird schon seine Richtigkeit haben. Die wissen schon, was sie tun", sagte er an der Tür.

Am nächsten Tag, Sonntag, traf ich Arne noch einmal, wir hatten uns zum Frühstück in unserem Stammcafé verabredet. Er hatte sich wieder vollständig gefangen, strahlte wieder jene ruhige Sicherheit aus, die ich an ihm gewohnt war und die ich so schätzte.

"Es ist immer in Ordnung, wie ‚die‘ es wenden. Ich bin sehr dankbar, es ist ein großartiges Geschenk. Ich war nur so sicher, dass meine Bitte vollständig verstanden worden war und erfüllt würde. Der Kontakt war irgendwie so ... so perfekt, verstehst du?"

Ich verstand nicht ganz, aber ich vertraute darauf, dass Arne wusste, wovon er sprach. "Ich hab gestern noch im Internet gesucht, wie viel deine Fünf mit Zusatzzahl bringen könnte", sagte ich zu ihm. Willst du es wissen?"

"Lass hören."

"Es schwankt sehr. Ich hab die letzten drei Jahre durchgeschaut, zwischen zwölf- und zweihunderttausend Euro waren es, meistens so um die sechzig- bis achtzigtausend. Ein vernünftiges Grundeinkommen für den Rest deines Lebens gibt das eher nicht."

"Schon klar." Wieso schien Arne so mäßig interessiert, dachte ich, ließ aber nicht locker und zog einen Zettel hervor, auf dem ich mir zuhause Notizen gemacht hatte.

"Ich hab mal angefangen zu rechnen, mit den Zahlen, die du mir genannt hast. Also, wenn du 492 Monate lang etwas von dem Geld haben willst, vorher deine 15.000 Euro Schulden bezahlst und vom Rest zehn Prozent spendest, dann bleiben dir, wenn wir mal den höchstmöglichen Gewinn von ungefähr zweihunderttausend nehmen, jeden Monat 338 Euro. Wenn du das mit den zehn Prozent sein lässt, wird’s etwas mehr."

"Kommt nicht in Frage. Das ist eine feste Abmachung, ein Vertrag, verstehst du. Das war wichtig bei meinen Verhandlungen."

Verhandlungen. Das fand ich bemerkenswert.

"Aber", fuhr er fort, "mit diesen Zweihunderttausend brauche ich nicht zu rechnen. Du sagst doch selber, dass das wahrscheinlich der höchstmögliche Gewinn ist. Genauso gut kann ich den geringsten Betrag, zwölftausend, nehmen, dann bleiben mir sogar noch Schulden."

Wir wendeten die Angelegenheit noch ein bisschen hin und her, aber ich spürte, dass Arne nicht in geselliger Stimmung war, und wir trennten uns bald. "Vielleicht fahre ich einige Zeit weg", sagte er beim Abschied. Ich ahnte nicht, dass ich meinen Freund nie wieder sehen würde. Er schien mir zu schwanken zwischen respektvoller Dankbarkeit dafür, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit seine Schulden los war und einer grüblerischen Unruhe über die Beweggründe der geistigen Welt, ihm ein ausreichendes Grundeinkommen zu verweigern. Er war immer noch vollkommen von der Richtigkeit seiner Idee überzeugt, es gab seiner Ansicht nach kein vernünftiges Argument dagegen.

Am Montagabend besorgte ich mir im Internet die Gewinnquoten. Gewinnklasse drei, Fünf Richtige mit Zusatzzahl brachten 18.121 Euro und 50 Cent. Ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis, aber Arne war mit einem Schlag seine Schulden los und es blieb ihm noch genug Geld, um einen Urlaub zu finanzieren. Ich wusste, dass er seit langem brennend gerne eine richtig große Wanderung in den Hochalpen gemacht hätte, mehrere Wochen lang, aber keine Ahnung hatte, wovon er die Reisekosten bezahlen sollte. Die hohen Berge waren für ihn immer eine Art Seelenheimat gewesen, dort war er den spirituellen Sphären näher. Ich hoffte sehr für Arne, dass er trotz des geringen Gewinns zufrieden sein würde. Ich ließ ihn einige Tage in Ruhe.

Als ich am Freitagabend bei ihm anrief, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Arnes Stimme sagte, dass er in die Alpen gefahren war und zwei Monate wandern wollte. Für mich hatte er einen kleinen persönlichen Gruß hinterlassen, er hätte mich nicht erreicht, und er würde sich Anfang Oktober wieder melden. Das war nicht ungewöhnlich, er hatte öfter persönliche Nachrichten für mich oder andere Freunde auf seinen Anrufbeantworter gesprochen, wenn er sich eine Auszeit vom Alltag genommen hatte. Ich machte mir keine Sorgen, war im Gegenteil froh darüber, dass er genau das unternommen hatte, was er sich die ganze Zeit wegen Geldmangels versagt hatte: ein Reise in die Berge.

Am frühen Abend des 26. September erreichte mich die Nachricht von Arnes Tod. Die Gendarmerie in Leogang im Salzburgischen rief bei mir an, man habe bei einem verunglückten Bergsteiger eine Notiz gefunden mit dieser Telefonnummer und meinem Namen, um mich bei einem Unfall zu verständigen.

(...)



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