Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie |
Ernst Reinhardt Verlag | ||||
Nach etwa dreißig Jahren habe ich einen Klassiker der analytischen Psychologie wieder zur Hand genommen. Es ist erstaunlich, wie aktuell und tagesfrisch dieser Text, vor einen halben Jahrhundert geschrieben und für Generationen von Psychiatern zum Leitfaden geworden, immer noch daherkommt. Hat sich denn sowenig in unserer Gesellschaft geändert? Allerdings kenne ich mich in der professionellen Psychiatrie zuwenig aus, um dort erzielte Fortschritte beurteilen zu können, ich sehe nur, dass die beschriebenen Grundformen missglückter Lebensbewältigungsversuche heute wie damals dieselben sind. Die Einteilung der Persönlichkeitstypen in den schizoiden, depressiven, zwanghaften und hysterischen Typ erscheint vollkommen schlüssig und in ihrer Art vollkommen. Der Gebrauch dieser Begriffe als Fachtermini unterscheidet sich zwar etwas vom alltäglichen Sprachgebrauch lässt jedoch das Gemeinte sehr plastisch erscheinen. Dabei werden diese vier menschlichen Grundängste als zwei einander gegenüberstehende bzw. ergänzende Paare vorgestellt: Das erste Paar: die Angst vor der Selbsthingabe, die als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt wird (der schizoide Typ) und ihr Gegenteil, die Angst vor der Selbstwerdung, erlebt als Ungeborgenheit und Isolierung (der depressive Typ). Das zweite Paar: die Angst vor der Wandlung, die als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt wird (zwanghafter Typ), sowie ihr Gegensatz, die Angst vor der Notwendigkeit, erlebt als Endgültigkeit und Unfreiheit (hysterischer Typ). "Alle möglichen Ängste", schreibt Riemann, "sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen, die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen: Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und Zugehörigkeit; und andererseits als Streben nach Dauer und Sicherheit, mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung." Er betont, dass eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein scheint, "wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen." Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeute nichts Statisches, sondern sei voller ungemeiner innerer Dynamik, "weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist". Das Buch ist mit einem tiefen Verständnis für die Ängste der Menschen und großer Seelenwärme geschrieben. Seine Lektüre stellt meiner Meinung nach einen außerordentlich großen Gewinn dar. | |||||
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