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Mittwoch, 30. März 2016 |
Josef (18) – Fortsetzungsgeschichte, 18. Teil ( zur Einleitung) ( zum 17. Teil) Eines Abends lud mich Josef zu sich ins Château zum Essen ein. Er war ein exzellenter Koch, der die gehobene Cuisine seines Gastlands ebenso beherrschte wie eine bäuerliche Resteküche. Das Kräftige, Deftige bevorzugten wir damals beide, und er servierte, wenn ich mich recht erinnere, Hammel- oder Lammbraten in einer fetten köstlichen scharfen Soße. Von Hammelschweinerei redete Josef. Nach der Käseplatte, dem Armagnac und einer schweren Zigarre lag mit einem Mal, ich weiß den Zusammenhang nicht mehr, eine Bibel auf dem Tisch. Irgendwie muss es um künstlerische Prozesse gegangen sein, Josefs Werkstücke, meine Bücher, Schaffen, Schöpfung – einer von uns beiden hatte dann die Frage, ob man die Welt als ein Kunstwerk ansehen könne, zu den Resten des Hammels auf den Tisch gelegt, und ich glaube, ich hatte gefragt: "und wer ist der Künstler?" – "Ja wer wohl, hä?" fragte Josef zurück, als hätte ich meine Sinne nicht beisammen. Fortsetzung folgt |
42 GOETHE, J.W.: Faust I. Teil, Marthens Garten 43 Zweites Buch Moses (EXODUS) 3, 13. Wenn nicht anders vermerkt, sind die Bibelstellen nach der Übersetzung Martin Luthers zitiert, in der revidierten Fassung von 1984. 44 Zweites Buch Moses (EXODUS) 3, 14; diese Stelle wird auf unterschiedliche Weise ins Deutsche übersetzt, ich habe folgende neun Versionen gefunden: 1. Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: "Ich werde sein", der hat mich zu euch gesandt. (Luther, in der Version 1984) 2. Da sprach Gott zu Mose: "Ich bin, der ich bin." Dann sprach er: So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der "Ich bin" hat mich zu euch gesandt. (Elberfelder Bibel) 3. Gott antwortete: "Ich bin euer Gott, der für euch da ist. Darum sag den Israeliten: 'Ich bin für euch da' hat mich zu euch gesandt." (Hoffnung für alle) 4. Gott sprach zu Mose: "Ich bin, der ich bin!" Und er sprach: So sollst du zu den Kindern Israels sagen: "Ich bin", der hat mich zu euch gesandt. (Schlachter 2000) 5. Gott antwortete: Ich bin da", und er fügte hinzu: "Sag zum Volk Israel: ‚Der Ich-bin-da hat mich zu euch geschickt.‘" (Gute Nachricht) 6. Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der "Ich-bin-da". Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der Ich-bin-da" hat mich zu euch gesandt. (Einheitsübersetzung) 7. Gott entgegnete: "Ich bin, der ich immer bin. Sag ihnen einfach: ‚»Ich bin« hat mich zu euch gesandt.‘" (Neues Leben) 8. Da sagte Gott zu Mose: "Ich bin der, der ist und immer sein wird. Sag den Israeliten: Der 'Ich-bin' hat mich zu euch geschickt." (Neue evangelistische Übersetzung) 9. Gott antwortete: "Ich bin der Ich-bin-da", und er fügte hinzu: "Sage zu den Israeliten: ‚Der Ich-bin-da‘ hat mich zu euch geschickt." (Die Gute Nachricht in heutigem Deutsch) Für Leser, die sich intensiver mit dieser Thematik befassen wollen: Hebräisch: ויאמר אלהים אל־משה אהיה אשר אהיה ויאמר כה תאמר לבני ישראל אהיה שלחני אליכם׃ Griechisch (Septuaginta): καὶ εἶπεν ὁ θεὸς πρὸς Μωυσῆν ᾿Εγώ εἰμι ὁ ὤν· καὶ εἶπεν Οὕτως ἐρεῖς τοῖς υἱοῖς Ισραηλ ῾Ο ὢν ἀπέσταλκέν με πρὸς ὑμᾶς. Lateinisch (Vulgata): Dixit Deus ad Moysen : Ego sum qui sum. Ait : Sic dices filiis Israël : Qui est, misit me ad vos. Quelle 1 – 8, sowie hebräischer, griechischer und lateinischer Text: http://www.bibleserver.com Quelle 9: Die Gute Nachricht in heutigem Deutsch, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1982 45 FROMM, Erich: Die Herausforderung Gottes und des Menschen, Konstanz-Zürich 1970, S. 98 46 LAUSTER, Peter: Die Liebe – Psychologie eines Phänomens, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 100 47 RILKE, R. M.: Aus: Im All-Einen, in: Sämtliche Werke in sechs Bänden, Dritter Band, Frankfurt am Main 1959, S. 257. Gesamtes dreistrophiges Zitat: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.48 PROUDHON, Pierre-Joseph, 1809-1865, französischer Ökonom und Soziologe; Wikipedia nennt ihn einen "der ersten Vertreter des solidarischen Anarchismus". Die genaue Quelle des Zitats ist mir nicht bekannt, für Hinweise bin ich dankbar. 49 PROUST, Marcel: Im Schatten junger Mädchenblüte (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Zweiter Teil), Frankfurt am Main 1981, S. 397 50 SLOTERDIJK, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M., 2009, S. 42 |
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Dienstag, 29. März 2016 |
Es gibt Schriftsteller und Schriftstellerinnen von hohem Rang, die ihr ganzes Leben lang keine einzige Zeile veröffentlichen. Peter Schneiders Mutter gehört zu ihnen. Was in Die Lieben meiner Mutter 41 an Auszügen aus ihren Briefen steht, ist der klare, kraftvolle, mitunter poetische Ausdruck ihrer starken Gefühle. Sie formuliert weit besser, genauer und schöner als mancher bestsellende Schreiberling unserer Tage. Das Leben gab Frau Schneider keine Gelegenheit, das Schreiben zu ihrer Profession zu machen. Ihr Sohn hat ihr mit diesem Buch ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt. |
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Samstag, 26. März 2016 |
Seit zwei Tagen zurück im Schwarzwald. Abends Studio LCB im Deutschlandfunk. Die Sendung dreht sich um den Roman Unterleuten von Juli Zeh. Als die Autorin gegen Ende der Sendung auch über ihre Arbeitsweise spricht, sagt sie sinngemäß: sie habe zu Anfang eines Projekts wenig bis keinen Plan, sie schreibe mehr oder weniger drauflos, ausgehend von einer Situation, die ihr Interesse und Engagement weckt. Das beeindruckt mich vor allem deshalb, weil ich bisher dachte, gerade ein solches "planloses" Vorgehen sei der Hauptgrund für mein bisheriges Scheitern gewesen. Schließlich habe auch ich ein solches Drauflosschreiben gern gepflegt, bis ich dann regelmäßig festgestellt habe: ich weiß nicht weiter. J.Z. dagegen vertraut offenbar auf die eigene Dynamik ihres Erzählens, darauf, dass es sich von selber zu einem schlüssigen Ende trägt, und aus dem stürmischen Anfang ein rundes Ganzes wird. |
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Dienstag, 22. März 2016 |
Die Nachrichten des Tages (Brüssel): wird der Terror in Europa etwas Normales, Alltägliches? Dann hätten wir hier die Zustände wie sie in den Ländern herrschen, aus denen die Flüchtlinge zu uns kommen. Würde das zu mehr Solidarität mit ihnen oder zu noch größerem Hass führen? Der Himmel jedenfalls hat an diesem Abend ein Zeichen gesetzt: Er hat sich rot eingefärbt. Nicht rot wie Blut, es ist eher die Farbe der Rosen. Nicht das Blutvergießen symbolisiert der Himmel, er fordert mit dem Symbol der Liebe das Ende des Irrsinns. |
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Montag, 21. März 2016 |
Zur Erinnerung: der Frühling ist da! Er hat dieses Mal schon gestern, am 20. März angefangen, daran ist das Schaltjahr schuld. |
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Frühling, wo man hinschaut. Und mit einem Mal stelle ich fest, dass ich auf der Bank an der Grabkapelle sitze und mit verdrossenem Gesicht in die untergehende Sonne stiere. Am Abend gibt's Brennnesselspinat. |
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Meine gegenwärtige Lektüre41 beschreibt unter anderem die letzten Wochen und Monate des Zweiten Weltkriegs in Deutschland, als sich tausende von Menschen auf die Flucht machen. Meistens Frauen mit Kindern, die Männer sind entweder tot, an der Front oder vermisst. Ein Kampf ums Überleben setzt ein, und die Umstände sind so, dass das Leben jeden Tag zu Ende sein kann. Was dieser permanente Ausnahmezustand mit den Menschen macht, welche Auswirkungen er auf sämtliche Bereiche des Lebens hat: Liebe, Beziehungen, Moral, ist für uns in unserem sicheren Leben kaum noch vorstellbar. Machen wir uns das klar, wenn wir über die Flüchtlinge unserer Tage reden? |
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Himmelstagebuch 21.3.2016, 18 Uhr 52 | |||||||
Sonntag, 20. März 2016 |
Erste Sätze (11) Liane Dirks, Die liebe Angst (1986) Einmal kam eine Frau an unserem Fenster vorbeigeflogen. |
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Freitag, 18. März 2016 |
Da versuche ich seit ein paar Tagen meinen Input zu bremsen: kein Radio, keine Zeitschrift, kein Buch (!) vor 18 Uhr, und auch am Abend Zurückhaltung. Es tut mir gut. Gegen 20 Uhr 45 mache ich das Radio an, Deutschlandfunk, und gerate in eine Sendung über das Schreiben. Verflixt. Nach dem Ende schaue ich ins Internet: Verpasst habe ich Liane Dirks und Dieter Wellershoff ... Wenigstens ist das Manuskript der Sendung verfügbar. Wenigstens das.40 |
40 Deutschlandfunk, 18.3.2016, 20 Uhr 10: Federball, der durch den blassblauen Himmel fliegt – Schriftsteller und ihre Lebensentwürfe | |||||
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Donnerstag, 17. März 2016 |
IN VOLLER FAHRT |
39 Die Gedichte von Hilde Domin stammen aus dem Band des S.-Fischer-Verlags: Hilde Domin, Sämtliche Gedichte, ISBN 978-3-10-015341-8 |
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Montag, 14. März 2016 |
Gespräch mit meinem Einsiedlerfreund. Wir sprechen über das Asthmathema, den ständigen Input. Wenn du künstlerisch tätig sein willst, musst du deinen Input vollständig abstellen, sagt er. Versuche stattdessen, ganz aus der Wahrnehmung zu leben. Es hört sich so einfach an. Ich weiß, dass er recht hat. Es wäre sehr verwunderlich, wenn man von einem Menschen, der seit dreißig Jahren in der Einsiedelei lebt, nichts lernen könnte. |
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Sonntag, 13. März 2016 |
Im "Faust" eine interessante Stelle entdeckt (aufmerksam gemacht durch einen Artikel im Goetheanum): Im ersten Akt von Faust II bezeichnet Goethe Furcht und Hoffnung als zwei der größten Menschenfeinde. Im Fall der Furcht ist leicht einzusehen, warum sie als Menschenfeind zu gelten hat. Sie lähmt und schwächt. Aber die Hoffnung? Unmittelbar bevor die Klugheit ihr Wort von den Menschenfeinden spricht, äußert sich die Hoffnung folgendermaßen: Seid gegrüßt, ihr lieben Schwestern! Diese Zeilen, meine ich, machen schon deutlich, warum die Hoffnung nicht weniger als die Furcht zum Feind des Menschen werden kann: es muss das Beste irgendwo zu finden sein ... Da fällt mir doch glatt Janosch ein, der geniale Kinderbuchautor. In einem seiner Bücher (habe vergessen, in welchem) gibt es die Figur des Reiseesels Mallorca, dessen wesentliche Eigenschaft darin besteht, immer dort zu sein, wo das Glück NICHT ist. Aber irgendwo muss es ... |
38 GOETHE, J.W.: Faust II, 1. Akt, "Weitläufiger Saal" (s.a. Projekt Gutenberg) |
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Heute ist Landtagswahl in drei Bundesländern (auch in meinem, was für mich hieß: Briefwahl). Die paradoxe Situation ist, dass die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin mehr Unterstützung bei anderen Parteien, etwa den Grünen, findet als in der eigenen CDU. Auch das ist ein Zeichen für die gewaltigen Veränderungen, denen wir alle derzeit unterworfen sind, und die ich schon einmal hier erwähnt habe. Jedenfalls wird der Wahlabend spannend. Darf man mit einer hohen Beteiligung rechnen? |
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Samstag, 12. März 2016 |
Aus Gründen, die hier keine Rolle spielen sollen, habe ich mich ein weiteres Mal mit dem viel zu unbekannten Schriftsteller Albert Vigoleis Thelen beschäftigt. Dabei habe ich erfahren, dass er 1953 bei einer Lesung aus seinem Buch Die Insel des zweiten Gesichts in der Gruppe 47 von Hans Werner Richter mit den Worten abgefertigt wurde: Dieses Emigrantendeutsch brauchen wir nicht.37 Sehr schade. Wikipedia zitiert Stimmen, die anderer Meinung sind: Siegfried Lenz "Wenn ein Buch wirklich verdient, ein Ereignis genannt zu werden, dann dies." Paul Celan nannte das Buch "ein wahres Kunstwerk". Sein Lese-Exemplar (heute im Literaturarchiv Marbach) enthält ca. 4000 Anstreichungen. Als die Wochenzeitung Die Zeit ihre Umfrage nach dem "Jahrhundertbuch" veranstaltete, wählte der niederländische Schriftsteller Maarten ’t Hart Thelens Werk aus und begann seinen Beitrag: "Seit langem glaube ich: Das größte Buch dieses Jahrhunderts ist die Insel des zweiten Gesichts von Albert Vigoleis Thelen. Eine überraschende Wahl? Vielleicht, aber es war doch eines der Lieblingsbücher Thomas Manns. Er nannte es eines der drei größten Bücher dieses Jahrhunderts." Meine eigene Begegnung mit Thelen war eine Literatursendung des Deutschlandfunks im Jahr 2003, anlässlich des 100. Geburtstags des Autors. Ich hatte nie von ihm gehört. Um das wichtigste Buch der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert würde es sich handeln, hieß es, und ich dachte, das gibt's doch nicht: Thomas Mann, Bertolt Brecht, Günter Grass – was ist denn mit denen? Und ich kannte noch nicht mal den Namen! Natürlich habe ich mir das Buch auf der Stelle besorgt und an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht. Ich kann nur hier und heute wiederholen: Lesen! Die erste Ausgabe der "Insel" erschien 1953, und im Spiegel erschien ein langer Artikel über das Buch, ohne Namensnennung des Verfassers, wie damals üblich. Der Stil des Artikels aber war Vigoleis durchaus ebenbürtig. |
37 Wikipedia-Artikel über "Die Insel ..." | |||||
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Freitag, 11. März 2016 |
Josef (17) – Fortsetzungsgeschichte, 17. Teil ( zur Einleitung) ( zum 16. Teil) Als nach Josefs Scheidung sein Betrieb aufgelöst wurde, das Eigentum geteilt und das Geld für den Unterhalt der Kinder angelegt war, blieben ihm noch ein paar Rücklagen und die Ruinen in Aubrac. Er hatte zu der Zeit die Wohnung im Château bereits ausgebaut, zum Glück stellten in den Augen eines deutschen Familiengerichts ein paar alte Mauern im französischen Midi ohne fließendes Wasser und Toiletten keinen großen Wert dar. So konnte er aus den Trümmern seiner Ehe (und des Irrsinns mit Anne) nahtlos in die Trümmer Aubracs flüchten. Seine Leiden verwandelte er mit gewaltiger Energie in Schaffenskraft, und ich glaube, in diesem Abschnitt seines Lebens machte er die ersten großen Schritte auf ein wirkliches Künstlertum zu, obwohl er sich noch lange in einem unbestimmten Reich zwischen Handwerk und Kunst bewegte. Den nach schalem Kommerz riechenden Begriff Kunsthandwerk hatte er sowieso immer heftig abgelehnt, ich bin doch nicht der Herrgottsschnitzer von Aubrac! Fortsetzung folgt |
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Donnerstag, 10. März 2016 |
Erste Sätze (10) Paul Auster, Die Brooklyn-Revue/The Brooklyn Follies (2005) Ich suchte nach einem ruhigen Ort zum Sterben. |
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Mittwoch, 9. März 2016 |
Josef (16) – Fortsetzungsgeschichte, 16. Teil ( zur Einleitung) ( zum 15. Teil) Prima Idee, aber erst mal passierte gar nichts. Auf dem Postamt in Olargues stapelten sich die Sendungen, Jean-Pierre und Josef weigerten sich, sie abzuholen, und das ging ein Weile so. Schließlich platzte Jean-Pierre der Kragen, so nicht!, er ging hin und verklagte die französische Post. Fortsetzung folgt |
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Himmelstagebuch 9.3.2016, 17 Uhr 56 | |||||||
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Kaum geht mein Winterschlaf in Südfrankreich seinem Ende entgegen, schon fange ich an, mir Gedanken über literarische Arbeiten zu machen. Das heißt, in die letzten zwei Wochen soll alles passieren, was die vergangenen dreieinhalb Monate nicht geschehen ist. Zum einen habe ich angefangen, mein Uraltprojekt, den einst mithilfe von BoD veröffentlichen Roman "Marie" zu überarbeiten (vielleicht eine Art Verzweiflungstat, weil mir nichts Besseres eingefallen ist?) und zum anderen habe ich die Erzählung "Das Grundeinkommen", ebenfalls eine Antiquität, wieder ausgegraben und erste Schritte in Richtung Veröffentlichung vorbereitet (noch nicht getan, heißt das). – Siehe auch den kleinen Ausschnitt. Die hauptsächlichen Schwächen dieses Textes sind allerdings: 1. Die ganz schwierige Länge von ca. 50 Seiten (entweder zu lang oder zu kurz) 2. Das Alter des Autors (Verlage möchten gerne einen Autor mit Zukunft, wenn sie sich schon auf einen Neuen einlassen) |
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Dienstag, 8. März 2016 |
Josef (15) – Fortsetzungsgeschichte, 15. Teil ( zur Einleitung) ( zum 14. Teil) Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden. Es kostete Josef seine ganze Überzeugungskraft, Jean-Pierres (und seine eigenen) Leistungen so herauszustellen, dass sie bei seinem Gesprächspartner als solche ankamen. "Mais bien sur, Monsieur, das Leben in den Bergdörfern, wie es früher war, ist vorbei, wie recht Sie haben. Stammen Sie von hier? Ich kenne so was nur zu gut." Und unversehens wurde Niederbayern mit seinen fetten Weizenböden zum notleidenden Landstrich, wo man nichts dringender bräuchte als ein tatkräftiges Engagement zur Rettung des ländlichen Lebensraums. "Menschen wie Jean-Pierre, die die sterbenden Dörfer wieder lebendig machen, sind doch ein Segen fürs Land, überall in Europa, es wird Zeit, dass wir die Rolle des Landes für Europa – und für la France natürlich, Monsieur le Maire – wieder entdecken. Ihnen muss ich es ja nicht sagen, dass jeder Hof, der aufgeben muss, ein nicht wieder gutzumachender Verlust an Kultur ist, n’est-ce pas?" Fortsetzung folgt |
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Übrigens, die Tramontane neulich: zwei Tage hat sie nur geweht, gottseidank. | |||||||
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Sonntag, 6. März 2016 |
Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt ist gestern gestorben. In einer Sendung des Deutschlandfunks anlässlich seines Todes hört man den Musiker die folgenden Sätze sagen: Zufrieden kann man nie sein. Wenn man zufrieden ist, hat man sein Ziel nicht hoch genug gesteckt. |
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Samstag, 5. März 2016 |
Jahreszeitengemisch |
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Freitag, 4. März 2016 |
Ich kenne einen Menschen, der hier in den Bergen lebt, allein, Stunden zu Fuß entfernt von der nächsten Ansiedlung. Er lebt als Einsiedler dort seit dreißig Jahren, hat sich ein Haus gebaut aus dem Material, das die Natur seiner Umgebung ihm schenkt und was er auf dem Rücken dorthin tragen konnte. In den achtziger Jahren waren sie eine ganze Gruppe gewesen, auch mit Kindern. Dann haben die anderen nach und nach aufgegeben, er ist übriggeblieben. Ein Deutscher in den wilden, einsamen Bergen zwischen Cevennen und Montagne Noire. Er lebt teils vom Erlös der Arbeit, die er gelegentlich in der Zivilisation ausübt, teils vom Ertrag seines Gartens, den er zu einem fantastischen Kunstwerk ausgestaltet hat. Schaut man sich in diesem Garten um, kann man nur staunen und seinen Schöpfer bewundern. Staunen muss man auch über gelegentliche Besucher, die ihn – im Angesicht dieses Wunderwerks – fragen: was machst du eigentlich den ganzen Tag ... Er ist ein bescheidener Mensch, freundlich und angenehm. Jetzt, da er langsam alt wird, beschleicht ihn immer öfter die Furcht vor der Zukunft. Sein Leben in den Bergen ist ausgesprochen hart, und er wird es nicht bis ins wirklich hohe Alter weiterführen können. Was dann? |
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Donnerstag, 3. März 2016 |
Erste Sätze (9) Albert Vigoleis Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts (1953) Es hieße diese Aufzeichnungen mit Erdichtetem beginnen, wollte ich mich anheischig machen, nach zwanzig Jahren noch an den Tag zu bringen, wer mich auf der nächtlichen Meerfahrt mit ärgerer Tücke gequält hat: der gemeine Menschenfloh in dem von einem Matrosen entliehenen Schlafsack oder der garstige Traumalb, der mich in die Nicolaas Beets Straat nach Amsterdam entführte, wo sich das Grab über einer jungen Frau geschlossen hatte, deren Todesursache ich, Doppelgänger ihres treulosen Geliebten, geworden war. |
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Mittwoch, 2. März 2016 |
Schweinefleisch darf nicht vom Speiseplan in öffentlichen Einrichtungen verschwinden, lese ich. (Die CDU in Schleswig-Holstein meint, mit Schwachsinn auf sich aufmerksam machen zu müssen.) Den schönsten Kommentar dazu fand ich: Die Würste des Menschen sind unantastbar. Vielleicht könnte man sich ja mal Gedanken darüber machen, unter welchen Bedingungen Schweinefleisch in Deutschland/Europa "produziert" wird, das wäre relevanter. Aber in Wahlkampfzeiten wahrscheinlich nicht so lustig. |
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Mein Finanzamt hat mich "unter Androhung eines Zwangsgeldes" mit der "nochmaligen" Aufforderung erfreut, ich solle die Einkommensteuer- und Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2014 endlich abgeben. Ich antworte (sinngemäß): die habt ihr doch längst, wollt ihr bitte erst mal in eurem eigenen Haus suchen, bevor ihr Drohbriefe verschickt. Es folgt das Eingeständnis, dass die Erklärungen doch schon eingegangen seien, und man bitte mich, Annehmlichkeiten zu entschuldigen. Die Zwangsgeldfestsetzung hätte sich somit auch erledigt. Wie schön. Dass man sich seitens des Finanzamts wegen der Annehmlichkeiten, die man mir vielleicht bereitet haben könnte, entschuldigt, ist bemerkenswert. Finanzämter bereiten üblicherweise ausschließlich Unannehmlichkeiten, das ist bekannt und selbstverständlich. Ist man ausnahmsweise gezwungen, von diesem Brauch abzuweichen, liegt offenbar ein Grund vor, sich zu entschuldigen. (Kommentar meines Steuerberaters: Da sehen Sie mal – ne Zwangsgeldfestsetzung ist jetzt schon eine Annehmlichkeit – was machen die dann, wenn es unangenehm wird ...) |
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Montag, 29. Februar 2016 |
Einen 29. Februar kann man nicht einfach so vorübergehen lassen, er kommt ja erst in vier Jahren wieder. Ein alte Dame stirbt, 85-jährig, und hinterlässt so Allerlei. Sie hat – unter vielem andern – seit beinahe fünfzig Jahren zusammen mit ihrem vor sieben Jahren verstorbenen Mann einen Beherbungsbetrieb geführt, Konzerte und Kunstereignisse organisiert, Landwirtschaft betrieben und sehr viele Bekannte und Freunde gehabt, über die ganze Welt verstreut. Seit ca. fünfzehn Jahren hat sie deren Adressen, Telefonnummern und andere Kontaktdaten in einer Computerdatei gesammelt. Die Arbeit mit dem Computer war ihr nie leichtgefallen, ihre Generation kam dafür schon etwas spät. Die Adressdatei enthält über tausend Datensätze und soll natürlich für die Nachfolger zur Verfügung stehen. Ich habe mich bereit erklärt, die Datei durchzuschauen und in eine Form zu bringen, die sie für andere nutzbar macht. Ich habe die Arbeit unterschätzt, muss ich gestehen. Nach einer Woche intensiver Arbeit bin ich beim Buchstaben P. Immerhin. Seit einem Tag bläst hier die Tramontane, eine bösartige Verwandte des berüchtigten Mistral. Eiskalt und scharf veranlasst sie mich, das Haus so gut wie nicht mehr zu verlassen. Ich brauche doppelt so viel Brennholz wie sonst. Stromausfälle (und Unterbrechungen der Internetverbindung) sind die Regel. Man sagt, die Tramontane (wie der Mistral) weht drei, sechs oder neun Tage. Ich werde berichten. |
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Samstag, 27. Februar 2016 |
Josef (14) – Fortsetzungsgeschichte, 14. Teil ( zur Einleitung) ( zum 13. Teil) Der Haken bestand darin, dass man auf Seiten der zuständigen Verwaltungen der Ansicht war, die Bergdörfer in den hauts cantons seien es nicht wert, Geld in sie hineinzustecken. Wenigstens war es das, was man offiziell hörte. Aubrac und Hunderte anderer kleiner Siedlungen auf den Höhen der Cevennen, des Zentralmassivs und anderer Gebirgszüge des Südens verfielen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs, und die Nichtsnutze, die sich in den letzten Jahren vereinzelt dort festgesetzt hatten, musste man nicht für voll nehmen. Fortsetzung folgt |
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Für die Geflohenen ein GedichtANSTANDSREGEL FÜR ALLERWÄRTS |
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Mittwoch, 24. Februar 2016 |
Josef (13) – Fortsetzungsgeschichte, 13. Teil ( zur Einleitung) ( zum 12. Teil) Es muss in diesen Wochen und Monaten der eigenen Wiederfindung gewesen sein, dass sich Josefs Verhältnis zu Frauen veränderte. Wenn ihn alle beide, Anne und Bettina, verließen, so hieß das … ja, was hieß es denn? Fortsetzung folgt |
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Sonntag, 21. Februar 2016 |
Wanderung zu den Höhen – mit Asthma und Gelenkschmerzen. |
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Freitag, 19. Februar 2016 |
Erste Sätze (8) Siegfried Lenz, Die Klangprobe (1990) Über Nacht hatten sie wieder mal sein Meisterwerk versaut, die – wie ich glaube – gelungenste Figur, die er jemals gemacht hat, den "Wächter". |
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Mittwoch, 17. Februar 2016 |
Josef (12) – Fortsetzungsgeschichte, 12. Teil ( zur Einleitung) ( zum 11. Teil) Einen Wimpernschlag vor dem Verlöschen, als er schon dabei war, sich der Macht des Wassers zu überlassen, regte sich in seinem Herzen ein Keim. Im Auge des Sturms, inmitten dieses aberwitzigen Wütens gab es etwas, das still und fest in seinem Innersten Wache hielt. Scheu und zag, aber von Sekunde zu Sekunde mutiger, begann ihn aus der Mitte der Kälte etwas zu durchströmen, ergriff Besitz von ihm, du kannst dich auf mich verlassen, nichts ist verloren. Stelle dich dem Regen entgegen, lass die eisernen Strahlen dich durchdringen, gleite in dem Wasser, das dich fortschwemmen will, aber bleibe doch, erwarte so, aufrecht, die plötzlich und endlos einströmende Sonne.32 – Mitten im Winter erfuhr er, dass es in ihm einen unbesiegbaren Sommer gab.33 Fortsetzung folgt |
32 KAFKA, Franz: Tagebucheintrag vom 27.5.1914; zitiert nach: LAUDERT, Andreas: Erfüllte Schrift, Stuttgart 2009, S. 128; (siehe auch: LAUDERT, A.: "Die Symbolik der Sonne im Werk Franz Kafkas". In: Jahrbuch der Sektion für Schöne Wissenschaften, Dornach 2006) 33Mitten im Winter habe ich erfahren, dass es einen unbesiegbaren Sommer in mir gibt, lautet das Zitat, das Albert CAMUS zugeschrieben wird. Leider konnte ich die Stelle nicht ausfindig machen, für Hinweise bin ich dankbar. 34RILKE, R. M.: Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth, in: Werke in drei Bd., Bd. I, S. 420 35ders.: Sonette an Orpheus I, XIX, in: Werke in drei Bd., Bd. I, S. 499 36ders.: Archaïscher Torso Apollos, in: Werke in drei Bd., Bd. I, S. 313 |
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Sonntag, 14. Februar 2016 |
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Adieu liebe Jean, danke für alles |
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Freitag, 12. Februar 2016 |
Wie ich höre, fordern die Gewerkschaften eine Erhöhung des Mindestlohns. Recht so. Wer möchte schon schon für 1280,- € im Monat arbeiten (soviel bleibt bei 8,50 €/Stunde und einer 40-Stunden-Woche nach Abzug des Durchschnittssteuersatzes im Monat übrig). Oder? Schauen wir doch etwas genauer hin: Welche Branchen sind denn in erster Linie vom Mindestlohn betroffen? Mir fällt da die Landwirtschaft ein, aber auch nachgelagerte Branchen wie etwa die fleischverabeitende Industrie. Von letzterer ist bekannt, dass sie mafiöse Strukturen aufweist – gesetzliche Bestimmungen fordern dort seit jeher die Kreativität der Beteiligten heraus. Und auch 2016 gibt es Menschen, die froh sind, für fünf oder sechs Euro je Stunde in Deutschland arbeiten zu dürfen. Auf die Gefahr hin, den Leser dieses Blogs zu langweilen, muss ich ein weiteres Mal auf die Lebensmittelpreise in Deutschland hinweisen. Im aktuellen Edeka-Prospekt finden wir zum Beispiel Kasseler für 3,50 € oder Schinkenbraten/Schinkengulasch für 3,79 € das Kilo. Eine Anhebung des Mindestlohns würde diese paradiesischen Zustände ernsthaft gefährden. Welche Qualität dieses Fleisch aus der agrarindustriellen Massenproduktion hat, ist noch ein ganz anderes Thema. Eines, um das sich der deutsche Verbraucher einen Dreck schert. Den Dreck frisst er lieber, Hauptsache billig. Ergänzende Information: Als ich noch Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs (Sparte: Gemüsebau) war, habe ich mir einmal den Spaß erlaubt, meinen eigenen Stundenlohn auszurechnen. Bei Berücksichtigung sämtlicher Nebenarbeiten, die so ein Betrieb mit sich bringt, bin ich auf etwa 4 bis 5 Mark pro Stunde gekommen. Das war Ende der Neunzigerjahre, kurz vor der Umstellung auf den Euro. |
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Josef (11) – Fortsetzungsgeschichte, 11. Teil ( zur Einleitung) ( zum 10. Teil) Der Herbst war größer als alle Herbste, die Josef bis dahin erlebt hatte, ein November voller Glut, und seine Sehnsüchte und Hoffnungen waren der Anlass, Jean-Pierre zu fragen, wie er zu einem Verkauf einer oder mehrerer Ruinen stünde. Er war sich darüber im Klaren, dass Jean-Pierre normalerweise ein solches Ansinnen brüsk von sich weisen würde, aber er wusste auch vom Druck der Banken, der spürbarer geworden war. Mitten in der prallen Sommersaison war einer von den Bankern dagewesen, hatte Aubrac voller Menschen vorgefunden und sich einen Reim auf die Einnahmen gemacht, die man bei entsprechender Bewirtschaftung hier erzielen könnte. Jean-Pierre sah in den Augen des Bankers das Touristenresort aufblühen – Aubrac das urige Bergdorf, village cévenole, ses villas en style rustique, tout confort, son environnement sauvage, sa nature vierge –, als er mit dem Schuldeneintreiber einen Rundgang durchs Dorf machte, und ihm wurde unwohl. So schlug Josefs Stunde, und er konnte Jean-Pierre dank seiner Rücklagen aus der guten Zeit ein Angebot machen. Anne war seine große wilde Liebe, und ein paar Häuser in Aubrac wären das Sahnehäubchen obendrauf. Jean-Pierre zögerte noch, das Dorf war sein persönlicher Abenteuerspielplatz, und alles sträubte sich in ihm, ihn zu teilen. Fortsetzung folgt |
30CELAN, Paul: "Mohn und Gedächtnis" (zuerst veröffentlicht 1952), in: Gesammelte Werke Erster Band, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986, S. 51. Das vollständige Gedicht lautet: Wer sein Herz aus der Brust reißt zur Nacht, der langt nach der Rose. / Sein ist ihr Blatt und ihr Dorn, / ihm legt sie das Licht auf den Teller, / ihm füllt sie die Gläser mit Hauch, / ihm rauschen die Schatten der Liebe. // Wer sein Herz aus der Brust reißt zur Nacht und schleudert es hoch: / der trifft nicht fehl, / der steinigt den Stein, / dem läutet das Blut aus der Uhr, / dem schlägt seine Stunde die Zeit aus der Hand: / er darf spielen mit schöneren Bällen / und reden von dir und von mir. 31GIBRAN, Khalil: Der Prophet, München 32005, S. 14 (Original: For even as love crowns you so shall he crucify you; nach: K.G., The Prophet, London,1991, S. 12;) |
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Dienstag, 9. Februar 2016 |
Die Lektüre eines frühen Blogs begonnen: Uwe Johnson, Jahrestage – Aus dem Leben der Gesine Cresspahl29, vierbändig, berühmt (aber von mir bisher nicht zur Kenntnis genommen), 1900 Seiten stark, und nach dem Eindruck der ersten achzig zu urteilen, ein geniales Werk. Man weiß, dass Uwe Johnson ein geniales Werk hinterlassen hat, aber es macht einen Unterschied, ob man dieses Urteil aus der Literarturkritik (bzw. der Literaturgeschichte, die Erstveröffentlichung liegt 45 Jahre zurück) oder aus der eigenen Lektüre erfährt. Zitat (Seite 46): Mrs. Ferwalter ist aus einem ruthenischen Dorf, dem Osten der Slowakei, "wo die Juden saßen wie in einem Nest". Sie betont, dass es ein "gutes" Dorf war. Die Christen duldeten die Andersgläubigen, und das fünfzehnjährige Mädchen wurde im christlichen Ende nicht einmal abends von den halbwüchsigen Jungen belästigt. Nach ihren Eltern können wir sie nicht fragen. "Ich war nicht hübsch. Man nannte mich apart." "Das Haar ging mir bis ans Kreuz." 1944 wurde sie, wahrscheinlich von den Ungarn (danach können wir sie nicht fragen) ausgeliefert an die Deutschen. Die Deutschen brachten sie in das Konzentrationslager Mauthausen. "Eine von den Aufseherinnen, die war so gut, sie hatte fünf Kinder und musste das alles ja." Sie meint eine SS-Wächterin. Danach können wir sie nicht fragen. Auf einem Foto von 1946 hat sie das Gesicht einer Fünfunddreißigjährigen, mit glatter Haut. |
29 JOHNSON, Uwe: Jahrestage – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, 4 Bände, Frankfurt a.M., 1970, 1971, 1973, 1983. | |||||
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Montag, 8. Februar 2016 |
Die unsterbliche Geschichte stellt verrückte Dinge an, wenn sie auf die Liebe Sterblicher trifft. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass die körperliche Liebe in der offiziellen Version der Geschichte nicht vorkommt, obwohl sie sie letztendlich bestimmt. Stattdessen lässt diese sich höchstens dazu herab, die geistige Liebe zu betrachten, die zwar erhabener ist, aber auch blasser und daher weniger entscheidend. Lippenstifte tauchen in den Büchern nicht auf. Professoren beachten sie nicht, wenn sie ökonomische, ideologische und soziale Faktoren miteinander kombinieren, um exakte interdisziplinäre Rahmen abzustecken. Hier gibt es keine Kästchen, um ein Erschaudern, eine Vorahnung, den stummen Ruf zweier Blicke, die sich begegnen, die Gänsehaut oder eine unerklärliche Begegnung einzuordnen, die scheinbar zufällig zustande kommt, obwohl sie in einer oder vielen schlaflosen Nächten minutiös geplant wurde. In Geschichtsbüchern ist kein Platz für Augen, die ins Dunkel starren, auf einen Himmel, der von den vier Ecken der Schlafzimmerdecke begrenzt ist, auch nicht für die Begierde, die immer heißer wird und die Grenzen einer angenehmen Phantasie, eines harmlosen Streichs, einer vergnüglichen Unschicklichkeit sprengt, bis sie den Mund austrocknet und den Hals verbrennt, den Magen zusammenzieht und schließlich die Flammen ihrer Herrschaft ausdehnt, um die Glut bis in die letzten Zellen des ahnungslosen sterblichen Körpers zu tragen. Die Liebe des Geistes ist erhabener, aber diese Spannung kann sie nicht aushalten. Niemand hält sie aus. Diese Zeilen stammen aus dem Roman Inés und die Freude von Almudena Grandes28 Dieses Buch ist ein weiterer Beleg dafür, dass Lieben und Schreiben auf eine Weise zusammengehören, die uns (mir?) vielleicht bisher nicht ausreichend bewusst geworden ist. Der Roman hat einen historischen Hintergrund: die Invasion des Val d'Aran im Oktober 1944 durch republikanische Truppen, ein gescheiterter Versuch, in der letzten Phase des 2. Weltkriegs einen militärischen Sieg über die Franco-Diktatur herbeizuführen. Die Rolle der Liebe bei diesem Vorhaben zu beschreiben, ist nicht Sache der Historiker, sondern der Dichter. |
28 GRANDES, Almudena: Inés und die Freude, München, 2014, S. 22. (Original: Inés y la alegría, 2010) |
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Derzeit etwas eingeschränkte Blog-Aktivität wegen: | |||||||
Donnerstag, 4. Februar 2016 |
In diesen Tagen ist viel von Grenzen die Rede. Vor allem von solchen, die angeblich zu weit offen stehen. Es lohnt sich, das Phänomen der Grenze näher zu betrachten. Bereits beim Versuch der Umsetzung des Näher-Betrachtens kann man erstaunliche Beobachtungen machen: Sobald man gewisser Grenzen habhaft zu werden versucht, beginnt ein Prozess ihrer Auflösung. Das scheint auf alle Grenzen zuzutreffen, die nicht – wie etwa Staatsgrenzen – von Menschen geschaffen sind. Alles, was in der Natur grenzenhaft erscheint, erweist sich als Täuschung, das Leben scheint Grenzen nicht zu kennen, und wenn, dann nur solche von flüchtiger Qualität. Die Grenze entpuppt sich als Illusion. An ihrer Stelle trifft man auf Übergänge, allmählich, behutsam, mal breit, mal schmal, doch stets als Wandel oder Veränderung wahrnehmbar und von einer eigenen, mehr verbindenden als trennenden Art. Das Teilende, Unterscheidende, ist oft nur aus der Entfernung sichtbar. Je weiter wir uns von der vermeintlichen Grenze entfernen, desto klarer scheint sie uns, desto deutlicher erscheint ihre Trennungsfunktion. Aus der Nähe erkenn wir: sie ist ein Scheinwesen, ähnlich dem Scheinriesen Tur Tur in Michaels Endes Jim Knopf, der erst mit zunehmendem Abstand des Betrachters seine riesenhafte Gestalt gewinnt. Solchen scheinbaren Grenzen begegnen wir gleichermaßen in der Natur wie in der Kultur. Grenzen in der Natur aufzuspüren, scheint einfach zu sein. Hohe Bergkämme, breite Ströme – nichts liegt näher als sie in ihrer Funktion als Grenzen und damit als Trennungslinien wahrzunehmen. Nähern wir uns ihnen aber, tritt der Tur-Tur-Effekt ein: Berge weichen zurück, öffnen zwischen ihnen liegende Täler, Pässe führen von einer Seite auf die andere, das Schroffe und Trennende der Berge verliert im Zug der Annäherung seinen abweisenden Charakter. Ebenso verhält es sich mit den Flüssen und Strömen: Wo das Gewässer nicht selbst in Gestalt einer Furt den Übergang ermöglicht, verschafft sich der Mensch mit Hilfe von Booten, Fähren und Brücken Zugang zum anderen Ufer, so dass bald die eine Seite nicht mehr von der anderen unterscheidbar ist. Für beide scheinbar so trennende geologische Formationen, Berge wie Flüsse, gibt es schöne Beispiele ihrer verbindenen Funktion: In den Alpentälern nördlich und südlich des Hauptkamms etwa spricht die einheimische Bevölkerung praktisch denselben ursprünglichen Dialekt: das Tirolerische. Auch wenn im Norden das Hochdeutsche beziehungsweise im Süden das Italienische inzwischen die alteingesessene Sprache verdrängt haben, ist die enge Verwandtschaft immer noch gut erkennbar. Was Stromgrenzen betrifft, haben wir zu beiden Seiten des Rheins zwischen Baden und dem Elsass ein ebenso schönes Beispiel: Gäbe es im Elsässischen inzwischen nicht so viel französisches Vokabular, man würde nur wenig Unterschied zwischen beiden Seiten des Rheins hören. Zwar sind die Tage des elsässischen Dialekt heute ebenso gezählt wie die der Südtiroler Sprache, aber dies ist ein anderes Thema. Die engen Verwandtschaften auf beiden Seiten dieser so imposant wirkenden natürlichen Grenzen zeigen, dass sich die Menschen zu keiner Zeit von ihnen haben abschrecken lassen. Diese Grenzen waren Scheingrenzen von Anfang an. Eine weitere Grenze (beziehungsweise ihre Nicht-Existenz) möchte ich beschreiben: Die Grenze zwischen Jung und Alt. Wieder ist es so, dass die Grenze mit zunehmendem Abstand leichter zu erkennen ist: einen Achtzigjährigen als alt zu bgreifen fällt ebenso leicht wie einen Zwanzigjährigen als jung. Auch bei Siebzig- und Dreißigjährigen gibt es kein Definitionsproblem. Sechzig und Vierzig? Da geht die Trennung gerade noch so. Aber wo stehen dann die Fünzigjährigen? Nehmen wir selber einen jungen oder alten Standpunkt ein, das heißt: beurteilen wir als Zwanzig- beziehungsweie Achtzigjährige einen Menschen von fünfzig Jahren, dann stecken wir den Fünfzigjährigen schnell in die jeweils entgegengesetzte Schublade. Der Grenze zwischen Jung und Alt kommen wir auf diese Weise aber nicht näher. Wer selber fünfzig Jahre alt ist, ist mit der Suche nach dieser Grenze allein gelassen. In meinem Roman "Marie – Engel der Grenze", habe ich diese Grenze thematisiert: Jung, das war der Zustand auf der einen Seite, alt der auf der anderen. Soweit war alles klar und leicht zu verstehen. Aber sobald ich versuchte mich der Grenze zu nähern, sie auf irgendeine sinnliche Weise zu spüren suchte, nicht nur in Form einer undeutlichen Ahnung, fing sie an, sich meinem Zugriff zu entziehen, löste sich auf. Wo war sie denn, die Grenze: vor mir oder hinter mir? Oder stand ich mitten auf ihr, so dass ich sie überhaupt nicht bemerken konnte? Zu widersprüchlich waren die Signale, die mir mein tägliches Leben meldete. |
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Mittwoch, 3. Februar 2016 |
Wenn ich einfach so weiterlebe, wie nahe komme ich Krieg? Aus einem Gedicht von Daniela Seel – Lesung aus ihrem Gedichtband "Was weißt du schon von Prärie?", heute im Deutschlandfunk |
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Sonntag, 24. Januar 2016 |
Josef (10) – Fortsetzungsgeschichte, 10. Teil ( zur Einleitung) ( zum 9. Teil) In Josefs Fall hat das sechzehn Jahre dauernde, überaus glückliche Zusammenleben mit seiner Frau Bettina nicht ausgereicht, um ihm die Bedeutung einer solchen Beziehung klar zu machen. Die große Achtsamkeit, die er in den meisten Angelegenheiten des Lebens, vor allem in Hinblick auf seine Kunst, an den Tag gelegt hat – hier hat sie ihm gefehlt. Oder hat Bettina ihn nicht rechtzeitig gewarnt? Und wie hätte sie das machen sollen? Fortsetzung folgt |
27 MOSER, Hans Albrecht: Efeu ohne Baum (Aphorismen), Bochum 2009, S. 101 | |||||
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Mittwoch, 20. Januar 2016 |
Josef (9) – Fortsetzungsgeschichte, 9. Teil ( zur Einleitung) ( zum 8. Teil) Ich sehe, es ist schwieriger die Bereiche in Josefs Biografie getrennt zu halten, als ich mir das vorgestellt habe: der künstlerische Werdegang, sein Leben in Aubrac und das, was man das Private nennt – immer vermischen sich die verschiedenen Stränge eines Lebens wie bei einem Fluss, der sich auf seinem Lauf durch eine weite Ebene in viele Arme teilt, sich vereinigt, sich wiederum verzweigt, und der doch stets ein und derselbe Wasserlauf bleibt, in dem sich am Ende alle Teile sammeln, um in der Mündung des Strom ihre Bestimmung zu finden. Fortsetzung folgt |
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Dienstag, 19. Januar 2016 |
Gelegentlich nähern die beiden Paradiese ihr Erscheinungsbild einander an: |
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... aber nur ein kleines bisschen weiter talwärts blühen die Mandeln ... |
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Montag, 18. Januar 2016 |
Erste Sätze (7) Charlotte Roche, Feuchtgebiete (2008) Solange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden. |
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Himmelstagebuch 18.1.2016, 10 Uhr 37 |
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Meine Mimose bereut ihre vorwitzigen Frühlingsgefühle |
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Sonntag, 17. Januar 2016 |
Josef (8) – Fortsetzungsgeschichte, 8. Teil ( zur Einleitung) ( zum 7. Teil) An dieser Stelle würde ich gerne einen kurzen Blick auf das Dorf Aubrac und seinen Neugründer Jean-Pierre werfen. Erst mal jedoch nur so weit, wie es zum Verständnis von Josefs Lebensweg nötig ist. Fortsetzung folgt |
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Samstag, 16. Januar 2016 |
Himmelstagebuch 16.1.2016, 10 Uhr 48 | ||||||
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Erste Sätze (6) Laurence Sterne, Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman (The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, 1760) Ich wollte, mein Vater oder meine Mutter, oder eigentlich beide, denn beide waren gleichermaßen dazu verpflichtet, hätten bedacht, worauf sie sich einließen, als sie mich zeugten. |
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Freitag, 15. Januar 2016 |
Ich habe mir an dieser Stelle schon einmal Sorgen um den Geisteszustand der Verfasser gewisser Texte gemacht. Nun ist mir ein besorgniserregendes Beispiel eines Serviervorschlags begegnet. Man kennt das: Auf der Packung Paniermehl ist ein knuspriges Wiener Schnitzel abgebildet, und damit keiner auf die Idee verfällt, in der Schachtel könnte ein solches enthalten sein, schreibt man neben das Bild "Serviervorschlag". So weit, so gut, höheren Orts sorgt man sich um die Intelligenz des Verbrauchers, das ist in Ordnung. Und dass man Semmelbrösel auf diese Weise auf den Tisch bringen könnte, ist realistisch. Wenn aber auf einem Pack Orangensaft eine aufgeschnittene Orange abgebildet ist (auch das ist soweit in Ordnung, das Bild dient ja der Identifizierung des Inhalts), und daneben steht Suggestion de présentation ("Serviervorschlag"), dann ist allerdings die Grenze des gesunden Menschenverstands übertreten. Wie, bitte, serviere ich Orangensaft in Form einer Orange?? |
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Donnerstag, 14. Januar 2016 |
Himmelstagebuch 14.1.2016, 17 Uhr 47 |
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Josef (7) – Fortsetzungsgeschichte, 7. Teil ( zur Einleitung) ( zum 6. Teil) Nach dem Fehlschlag mit der Schule arbeitete Josef – verärgert und ernüchtert – wieder in seinem Beruf, aber nicht mehr in festen Verhältnissen. Mit seiner Ausbildung fiel es ihm leicht, gut bezahlte Arbeit zu finden und Geld zusammenzusparen. Neben dem Möbeltischlern lernte er etwas von der Bauschreinerei und den großen Zimmererarbeiten. Dann ging er auf Reisen. Teils auf die Walz, um auswärts zu lernen, obwohl das zu seiner Zeit kaum üblich war, teils aber auch einfach, um die Welt zu sehen. Auch das war in den frühen sechziger Jahren noch gegen den Trend, zu der Zeit begegnete man den Deutschen im Ausland oft noch mit Misstrauen und Ablehnung, nur da und dort keimten junge Szenen mit Menschen, die nach vorn blickten. Mit großem Interesse studierte er die Bauwerke der Gegenden, durch die er reiste: Schlösser, Kirchen, aber auch einfache Bürger- und Bauernhäuser, er wollte sehen, wie man woanders baute und lebte und wie man zu früheren Zeiten gearbeitet hatte. Nebenher las er die Lebensgeschichten bedeutender Baumeister, bildender Künstler und Dichter. In Schwaben interessierte ihn Hölderlin, in der Schweiz beschäftigte er sich mit Le Corbusier, Rilke, Hesse und Steiner, in Barcelona mit Antoni Gaudí, in der Provence las er René Char, in Nordfrankreich studierte er die Baugeschichte der großen Kathedralen. Daneben blieb er aber auch den Möbeln treu, da kannte er sich bestens aus, und wo er ein besonders schönes Stück sah, einen Tisch, einen Stuhl oder Schrank – und insbesondere solche aus der Zeit der Jahrhundertwende hatten es ihm angetan –, machte er sich genaue Skizzen und Aufzeichnungen, eine Methode, der er mehr als der Fotografie vertraute. Fortsetzung folgt |
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Mittwoch, 13. Januar 2016 |
Istanbul. Wie gesagt, der Nahe Osten rückt uns täglich näher. Vor etwa vierzig Jahren, als ich noch ein junger Mensch war, habe ich zusammen mit meiner Freundin und späteren Frau Istanbul besucht, und dort unter anderem auch die Sultan-Ahmed-Moschee, die weltberühmte Blaue Moschee mit den sechs Minaretten. Reisen in die Türkei und weiter in den Nahen Osten waren zu jener Zeit ohne Gefahr möglich, der Overland-Trip von Europa nach Indien (ein Plan, den wir allerdings nicht ausgeführt haben) war wegen der Reiseumstände eine abenteuerliche, aber keineswegs über Gebühr gefährliche Angelegenheit. Was haben sich die Zeiten geändert. In meiner Jugend – nicht lange nach dem Krieg, der mir schon so weit im Vergangenen zu liegen schien – dachte ich, alles wird besser, alles kann nur besser werden. Aller Schrecken und alles Leid liegen hinter uns, und wir und alle, die nach uns kommen, werden ein besseres Leben haben. Habe ich dazu beigetragen? Das müssen andere entscheiden. Insgesamt ist die Bilanz allerdings verheerend. |
Die Blaue Moschee in Istanbul (links), rechts die Hagia Sophia (Quelle: Wikipedia.org) |
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Dienstag, 12. Januar 2016 |
Erste Sätze (5) Raymond Chandler, Lebwohl, mein Liebling (Farewell, My Lovely, 1940) Es war einer von den gemischten Wohnblocks drüben an der Central Avenue, einer der Blocks, die noch nicht völlig von Negern bewohnt waren. |
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Montag, 11. Januar 2016 |
Was ist Wahrheit? Nicht nur Pontius Pilatus hat diese Frage gestellt. An jeden Schreibenden wird sie ständig gerichtet: Was erzählst du da? Wieviel von deinen Texten ist wirklich? Ist das alles wahr? Was ist erfunden? Auch mir ist diese Frage nicht fremd, siehe den ersten Teil der laufenden Fortsetzungsgeschichte "Josef". Die schönste Erwiderung auf diese Frage gibt Albert Vigoleis Thelen, ein Schriftsteller, den leider kaum jemand kennt, dabei hat er eines der originellsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts geschrieben: Die Insel des zweiten Gesichts ( zu meiner Rezension). Seine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit, die er in einer "Weisung an den Leser" dem Buch voranstellt, lautet: Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewusstsein ihrer Persönlichkeit auf, der Verfasser einbegriffen, weshalb sie weder für ihre Handlungen noch auch für die im Leser sich erzeugenden Vorstellungen haftbar gemacht werden können. Im gleichen Maße, wie die Spaltung der ichverlorenen Gestalten größer oder kleiner zu sein scheint, unterliegt auch der chronische Ablauf der Geschehnisse einer Umschichtung, die bis in die Aufhebung des Zeitgefühls gehen kann. |
Was ist Wahrheit? (Nikolai Nikolajewitsch Ge, 1890 – Pontius Pilatus und Christus) |
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Himmelstagebuch 11.1.2016, 15 Uhr 15 11.1.2016, 16 Uhr 05 11.1.2016, 17 Uhr 17 |
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Josef (6) – Fortsetzungsgeschichte, 6. Teil ( zur Einleitung) ( zum 5. Teil) Zurück zu Josefs frühen Jahren. Wir kamen an dem Abend, als mir Josef sein Schloss zeigte (mit dem skurrilen Bettgestell und der Bibliothekstreppe), nach dem Essen, zu dem er mich eingeladen hatte, darauf zu sprechen. In Aubrac, diesem unwirklichen Ort hinter den sieben Bergen, lud man sich ständig gegenseitig ein um in Gesellschaft zu sein, irgendwie waren alle dort "anders" und daher einander ähnlich, was ein behagliches Gefühl der togetherness hervorrief. Es wurde viel englisch gesprochen, die meisten waren wie ich in den Zwanzigern, und kamen von überall her – nur nicht aus Frankreich. Man traf sich, kochte und aß miteinander, trank billigen Rotwein und genoss das Leben. Doch davon später. Fortsetzung folgt |
26 CAMPBELL, Joseph: Das bist du. Die spirituelle Bedeutung biblischer Geschichten, Wunder und Gleichnisse. Herausgegeben von Eugene Kennedy, München 2002, S. 66. Das Zitat lautet im Original: Der spezifisch abendländische Abenteuergeist hingegen speist sich aus dieser Sehnsucht nach etwas, das noch keines Menschen Auge erblickt hat. Was könnte dieses noch nie Gesehene sein? Ihr ganz einzigartiges Leben, wenn es zu seiner Erfüllung gelangt ist. Ihr Leben ist das, was erst noch hervorgebracht werden muss. 27 siehe Anmerkung 7 zum "Novembersommer" (Hölderlin) 28 SLOTERDIJK, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009, S. 294 |
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Sonntag, 10. Januar 2016 |
Frühlingsspaziergang |
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Die Digitalisierung verändert die Welt. Die Stimmen, die vor ihren Folgen warnen, werden leiser und weniger, die D. ist ohnehin nicht aufzuhalten. Wir haben neue Kulturtechniken zu erlernen wie einst im Altertum, als Lesen und Schreiben revolutionäres neumodisches Zeug waren. Auch damals gab es ernste Warnungen. Plato zum Beispiel legt in seinem Dialog Phaidros dem Sokrates folgende Rede in den Mund:Ich habe also vernommen, zu Naukratis in Ägypten sei einer der dortigen alten Götter gewesen, dem auch der heilige Vogel, den sie ja Ibis nennen, eignete, der Dämon selbst aber habe den Namen Theuth. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung erfunden, dann Geometrie und Sternkunde, ferner Brettspiel und Würfelspiel, ja sogar auch die Buchstaben. Da damals über ganz Ägypten Thamus König war in der großen Stadt des oberen Bezirks, welche die Hellenen das ägyptische Theben nennen, den dortigen Gott aber Ammon nennen, so kam der Theuth zu diesem und zeigte ihm seine Künste und sagte, man müsse sie nun den anderen Ägyptern mitteilen. Der aber fragte, was für einen Nutzen eine jede habe. Indem er dies nun auseinandersetzte, so wusste er, wie ihm jener etwas gut oder nicht gut zu sagen dünkte, es bald zu tadeln, bald zu loben. Vieles nun soll da Thamus dem Theuth über jede Kunst dafür und dawider frei heraus gesagt haben, was durchzugehen viele Worte fordern würde. Als er aber an den Buchstaben war, sagte Theuth: "Diese Kenntnis, o König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen, denn als ein Hilfsmittel für das Gedächtnis sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden." Thamus aber erwiderte: "O du sehr kunstreicher Theuth! Einer ist der, der das, was zur Kunst gehört, hervorzubringen, ein anderer aber der, der zu beurteilen vermag, in welchem Verhältnis sie Schaden und Nutzen denen bringe, die sie gebrauchen werden. So hast auch du jetzt, als Vater der Buchstaben, aus Vaterliebe das Gegenteil von dem gesagt, was ihre Wirkung ist. Denn Vergessenheit wird dieses in den Seelen derer, die sie kennenlernen, herbeiführen durch Vernachlässigung des Gedächtnisses, sofern sie nun im Vertrauen auf die Schrift von außen her mittelst fremder Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst, das Erinnern schöpfen. Nicht also für das Gedächtnis, sondern für seinen Anschein hast du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar. Denn die viel lesen, sind nun ohne Belehrung, und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch größtenteils Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Dünkelweise geworden sind, nicht Weise.25 |
25 PLATO, Phaidros, 274-275, zitiert nach opera-platonis.de in der Übersetzung von Ludwig Georgii, Stuttgart 1853 | ||||||
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Erste Sätze (4) Robert M. Pirsig, Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten (Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, 1974) Ohne die Hand vom linken Griff des Motorradlenkers zu nehmen, kann ich auf meiner Uhr sehen, dass es halb neun ist. |
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Samstag, 9. Januar 2016 |
Josef (5) – Fortsetzungsgeschichte, 5. Teil ( zur Einleitung) ( zum 4. Teil) Dieses Vorhaben ging ordentlich daneben. Ich werde noch davon berichten, erst aber muss ich erzählen, wie Josef und ich uns begegnet sind, damals in Aubrac. Ich habe schon gesagt, dass dieses Dorf eine Geschichte für sich ist, und ich werde sie auch – wenigstens in groben Umrissen – erzählen. Jean-Pierre, dem der Wiederaufbau des Orts zu verdanken ist (auch von ihm später mehr) hatte mir das Häuschen, in dem ich wohnen konnte, gezeigt, und wir unterhielten uns noch ein wenig in allgemeiner Art. Er fragte mich, was ich mache, und als ich antwortete: ich schreibe, war er plötzlich ganz interessiert: Fortsetzung folgt. |
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Himmelstagebuch 9.1.2016, 13 Uhr 07 9.1.2016, 17 Uhr 20 |
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Freitag, 8. Januar 2016 |
Ich habe vor einiger Zeit meine regelmäßigen Buchrezensionen eingestellt, da mir dafür immer weniger Zeit bleibt. Je älter ich werde, desto weniger Zeit habe ich. Wahrscheinlich ist das ein Naturgesetz, und angesichts der schwindenden Lebenszeit auch ganz plausibel. Nun habe ich aber das Bedürfnis, mich etwas ausführlicher über zwei Bücher auszulassen, die ich kürzlich gelesen habe. Es handelt sich um zwei Titel von Liane Dirks: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen24 und Die liebe Angst25. Beides sind autobiographische bzw. stark autobiographisch gefärbte Texte, und es sind auch keineswegs Neuerscheinungen (Erstveröffentlichungen 2002 bzw. 1986). Trotzdem spüre ich den ganz persönlichen Wunsch, etwas dazu zu sagen. Die liebe Angst beschreibt einen Kindesmissbrauch aus Sicht des kleinen Mädchens, das – gemeinsam mit seiner Schwester – diese Tortur erdulden muss. Warum heißt diese Angst die liebe Angst? Weil der Vater keineswegs der Unhold und Familientyrann ist, den man sich vielleicht unter einem Kindsmissbraucher vorstellen mag. Im Gegenteil, er ist ein kreativer, offenbar auch gütiger und sanftmütiger Mensch, der seinen Kindern gern phantasievolle Märchengeschichten erzählt. Andererseits ist er ein "Luftikus", trinkt, vergnügt sich mit anderen Frauen, mit der Verantwortung für seine Familie hat er′s nicht so. Er ist häufig abwesend (später auch, weil er wegen des Missbrauchs im Gefängnis sitzt), und die Kinder sehnen sich nach ihm. So lebt eine ungeheure, nie auflösbare Spannung in der Kinderseele. Kinder haben keine Wahl – sie müssen ihre Eltern lieben, wen sonst. Auch die Rolle der Mutter wird in den Büchern beschrieben – auch sie ist eine Ausgelieferte. Vier Arten meinen Vater zu beerdigen ist der vermutlich bis dahin singuläre Versuch eines Opfers, den Lebensweg des Täters nachzuvollziehen, seinen Werdegang zum Täter, dem – natürlich, möchte man sagen – eine Existenz als Opfer vorausgegangen ist. Vielleicht gibt es sogar so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit der Täterwerdung: alle Täter waren Opfer? Daraus aber den Umkehrschluss zu ziehen, aus Opfern werden automatisch Täter, wäre grundfalsch. Die Stärke, sich aus einer solchen Zwangsläufigkeit zu befreien, ist als Potenzial in jedem Menschen vorhanden. Nicht jeder aber ist in der Lage, dieses Potenzial in sich zu aktivieren. Der Vater in den beiden Büchern ist und bleibt ein schwacher Mensch, es ist nicht in der Lage, seiner Gier (oder was auch immer es ist, das ihn treibt) Einhalt zu gebieten. Er kann nicht, was an Stärke sicher auch in ihm angelegt war, zur Entfaltung bringen. Liane Dirks wurde auf Grund ihrer Lebenserfahrungen ganz offenbar ein immer stärkerer Mensch. Sie hat darüber hinaus für sich das Ziel gefunden, anderen Menschen auf diesen Weg zur Selbstentfaltung (Untertitel ihres letzten Buchs Sich ins Leben schreiben) zu helfen. Sie gibt Seminare, in denen sie das Schreiben als Akt der Befreiung, des persönlichen Wachstums und der Bewusstseinserweiterung lehrt. Jede Form von Kunst, jeder kreative Akt, ist Ausdruck unseres Lebens, schreibt Liane Dirks auf ihrer Homepage, schulen wir die Kunst des Schreibens, schulen wir auch unser Bewusstsein. Eine ganz besondere Qualität dieser beiden Bücher möchte ich hervorheben: die poetische. In weiten Passagen schreibt Liane Dirks einen sagen wir: normalen, angenehmen literarischen Stil. Dann aber, wenn sich die Dramen zuspitzen, die äußeren, vor allem aber die inneren, bei denen der Schauplatz die kindliche Seele in ihrer Angst und Liebe und Verzweiflung ist, da webt sie einen schützenden Kokon aus gesteigerter, dramatischer Poesie um die Angst und die Erinnerungen. Wenn die Schmerzen drohen, verdichtet sich ihre Sprache – und die hält dicht. Mir sind diese beiden Bücher nahegegangen. In gewisser Weise, glaube ich, gehen sie jeden an. Täter, Opfer, wir alle sind: Menschen. Auch das sagt Liane Dirks. In ihrem bewegenden Nachwort zur neuesten Auflage der lieben Angst (2015) schreibt die Autorin: Das Opfer muss den Täter betrachten, um ihn verlassen zu können, auf das Weggehen kommt es an. Auf das: Es ist vorbei. Auf das langsame Wachsen der Freiheit, darauf, sein eigenes Leben zu entwerfen. |
24 DIRKS, Liane: Vier Arten meinen Vater zu beerdigen, Köln 2002 (Taschenbuchausgabe München 2004) 25 DIRKS, Liane: Die liebe Angst, Hamburg 1986 (Neuausgaben Köln 2007 und 2015) |
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Erste Sätze (3) Annie Dillard, Der freie Fall der Spottdrossel (Pilgrim at Tinker Creek, 1974) Ich hatte mal einen Kater, eine alte Kämpfernatur, der oft mitten in der Nacht durch das offene Fenster neben meinem Bett sprang und auf meiner Brust landete. |
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Donnerstag, 7. Januar 2016 |
Es gab eine zeit da die zahllosen übers land schweifenden völker die weite und breite brust der erde zu erdrücken drohten; zeus sah dies und hatte mitleid; in seinem weisen rat beschloss er die alles ernährende erde vom gewicht der menschheit zu erlösen indem er die großen schlachten des troianischen krieges entfachte um ihre schwere last durch den tod erleichtern zu lassen: so wurden die krieger vor troia getötet, so erfüllte zeus' wille sich. Homer, Vorgesang zur Ilias, ca. 8. Jh. vor Christus (Datierung fraglich). Übertragung: Raoul Schrott, 2008 |
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Spaßvögel mit Nebenwirkungen (Aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit sind diese Nebenwirkungen eine Schule der Achtsamkeit) |
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Josef (4) – Fortsetzungsgeschichte, 4. Teil ( zur Einleitung) ( zum 3. Teil) – Der Thanneder war’s, von dem hab ich die Lust zur Genauigkeit und zur Schönheit, sagte Josef, warte, ich zeig dir was, und er holte von seiner Bibliothekstreppe – einer wundersamen Zusammenfügung von handgearbeiteten Bücherregalen, die sich entlang der gedrehten Treppe in den ersten Stock des Château hinaufwand – eine alte Ausgabe von Stifters Nachsommer. Fortsetzung folgt. |
23 STIFTER, Adalbert: Nachsommer, München o.J. (1955?), S. 67 f. | ||||||
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Mittwoch, 6. Januar 2016 |
Erste Sätze (2) Knut Hamsun, Hunger (Sult, 1890) Es war in jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist. |
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Himmelstagebuch 6.1.2016, 13 Uhr 04 6.1.2016, 16 Uhr 24 6.1.2016, 16 Uhr 42 |
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Josef (3) – Fortsetzungsgeschichte, 3. Teil ( zur Einleitung)
( zum 2. Teil) Die Zeit auf Steinöd, dem Hof im Niederbayerischen, wurde, wie ich schon gesagt habe, für Josef bestimmend. Die Mutter hatte ihm bedeutet, dass er, schmächtig oder nicht, dort dringend in der Landwirtschaft gebraucht würde, sprach von Heimatfront auf dem Land, und Josef fügte sich in sein Schicksal. Medard (der nächstältere dieses Namens, Bruder von Josefs Mutter und Bauer auf Steinöd), hatte es nicht erreicht, selber vom Kriegsdienst verschont zu werden. Man hatte ihm vorgerechnet, dass die Eltern und seine Frau recht gut den Hof mit seinen paar Tagwerk Äcker und Wiesen, einer Handvoll Kühen, einem Dutzend Schweinen und ein paar Hühnern versorgen könnten, und ihn als k.v. eingestuft. Medard kam vier Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft zurück, fand sich auf seinem Hof und im Leben nicht mehr zurecht und starb als Achtunddreißigjähriger an der Krankheit, für die keiner einen Namen hatte als eben: der Krieg. Fortsetzung folgt |
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Dienstag, 5. Januar 2016 |
Mathematik, vierter und letzter Teil ( zum 1. Teil) ( zum 2. Teil) ( zum 3. Teil) Mir war klar, dass ich mich von der Vorstellung lösen musste, dass die acht Würfel, aus denen das vierdimensionale Objekt bestand, auch wie Würfel im herkömmlichen Sinn aussahen, wenn man ein taugliches dreidimensionales Modell erstellen wollte. Wenn man einen dreidimensionalen Würfel auf einem zweidimensionalen Blatt Papier zeichnen will, sehen die Seitenflächen ja auch nicht mehr wie die Quadrate aus, aus denen der Würfel in der dreidimensionalen Wirklichkeit besteht ( siehe Würfelzeichnung), wir haben uns nur so an derartige perspektivische Darstellungen gewöhnt, dass wir uns darüber keine Gedanken mehr machen. Auf dieser Zeichnung hier sind von den sechs quadratischen Flächen nur zwei wirklich wie Quadrate dargestellt, nämlich die hintere und die vordere Fläche des Würfels (grün in der Zeichnung). Die linke, rechte, obere und untere Fläche des Würfels sind dagegen in Form von Parallelogrammen zu sehen. |
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Entsprechende Verzerrungen würden demnach auch beim dreidimensionalen Modell eines vierdimensionalen Körpers auftreten. Sich unvorstellbare Dinge vorstellen zu wollen, schafft naturgemäß Probleme. Ich weiß nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis ich schlussendlich ein wirklich taugliches Modell zustande gebracht habe, das alle Bedingungen erfüllt hat, und ich erinnere mich auch nicht mehr an die Denk- und Probierwege. Zuviel Zeit ist seither verstrichen. Damals gab es auch kein Internet, keine Wikipedia und ich hatte auch keinen Mathematiker zum Freund, so dass ich ohne eine Überprüfung von kompetenter Seite das Thema wieder losgelassen habe, rundum zufrieden, weil alles so gut gepasst hat. Und so sah das Ergebnis meiner langen Versuche aus: Man kann nachzählen: 16 Eckpunkte, 32 gerade Linien, 24 quadratische Flächen (natürlich nur zu einem kleinen Teil als wirkliche Quadrate sichtbar) und 8 "Würfel". Sechs von ihnen sind – wie versprochen – verzerrt ("Pyramidenstumpf" heißt diese Form) und die Verzerrung verstärkt sich auch noch durch die zweidimensionale Darstellung des eigentlich dreidimensionalen Modells. Zur Verdeutlichung hier noch eine Zeichnung mit allen acht Würfeln/Pyramidenstümpfen in getrennter Darstellung (zwei von ihnen haben ihre würfelförmige Gestalt behalten): Ich habe zu Anfang vom Wiedersehen mit alten Bekannten gesprochen: Vor kurzem habe ich zufällig bei Wikipedia genau diese Figur entdeckt. Sie hat einen Namen: Tesserakt Man findet dort auch eine leicht abgewandelte Form der "Aufklappung" und viele weitere Darstellungen (auch dynamisch-bewegliche, bei denen erkennbar wird, wie die "Würfel" ineinander übergeführt werden können!). Der Tesserakt ist eine Form des "Hyperwürfels", und wie nicht anders zu erwarten, geben sich die Mathematiker nicht mit der vierten Dimension zufrieden, sondern rechnen mit n Dimensionen, und n kann bekanntlich jede mögliche natürliche Zahl bedeuten ... Selbstverständlich kann ich nicht beweisen, dass ich damals vor vierzig oder fünfzig oder noch mehr Jahren von selber auf die Figur des Tesserakts gekommen bin – aber das muss ich ja auch nicht. |
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Mützenparade (2) |
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Montag, 4. Januar 2016 |
Erste Sätze (1) Literaturkritiker machen gelegentlich viel Gewese um den ersten Satz eines Romans. Ob er wirklich eine so entscheidende Rolle spielt, wie manche behaupten, sei dahingestellt. Ich habe mir Bücher auf ihre ersten (Ab)Sätze hin angeschaut, mehr oder weniger wahllos, und möchte ab und zu hier einen einstreuen. Günter Grass, Der Butt (1977) Ilsebill salzte nach. |
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Himmelstagebuch 4.1.2016, 13 Uhr 17 | |||||||
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Josef (2) – Fortsetzungsgeschichte, 2. Teil ( zur Einleitung)
( zum 1. Teil) In den letzten Wochen des Krieges, als Josef gerade zwölf Jahre alt geworden war, schickte ihn seine Mutter zu ihrer Familie ins Niederbayerische, auf einen Einödhof zwischen Landshut und Straubing, eine Gegend, in der es zu der Zeit noch viel Wald und Einsamkeit gab. Dies war vor allem eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber seiner angeborenen Hitzköpfigkeit. Sein Vater, ein technischer Zeichner, der in München bei Siemens gearbeitet hatte, dann aber, nachdem man ihn ein paar leichtsinnige Bemerkungen hatte machen hören, eingezogen und an die Front versetzt worden war, sein Vater also machte den Krieg vom Anfang bis kurz vor dem Ende mit, lernte Frankreich, Afrika und Russland aus der eingeschränkten Sicht des Soldaten kennen und kehrte vom letzten Einsatz an der weichenden Ostfront nicht mehr zurück. In Josef brachen, noch bevor Trauer und Entsetzen in ihm reifen konnten, grenzenlose Wut und Verzweiflung aus, und leidenschaftlich trachtete er danach, zum Volkssturm eingezogen zu werden, damit er Führer, Volk und Vaterland verteidigen und seinen Vater rächen könnte. Mit Hingabe hätte er sich jedem alliierten Panzer entgegengeworfen, wenn man ihn nur gelassen hätte. Glücklicherweise hielten alle den schmächtigen Buben für viel zu jung und völlig ungeeignet, irgendein Arbeitsgerät oder gar eine Waffe in die Hand zu nehmen, auch noch in den allerletzten Kriegstagen, als überall im Reich halbe Kinder losgeschickt wurden um hoffnungslose Endkämpfe auszufechten. Fortsetzung folgt. |
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Sonntag, 3. Januar 2016 |
Mathematik, dritter Teil ( zum 1. Teil) ( zum 2. Teil) Ich muss zugeben, dass ich, als ich soweit gekommen war, mich mehr aufs Probieren als aufs Rechnen verlegt habe. Die Eckdaten des gesuchten imaginären Körpers standen fest (davon ging ich einfach aus): 16 Punkte, 32 Gerade, 24 Quadrate, 8 Würfel. Zuerst versuchte ich es damit, dieses Objekt "aufzuklappen", so wie man einen Würfel aufklappen kann: Das dreidimensionale Objekt Würfel ist aufgeklappt nur noch als Fläche, als zweidimensionales Objekt vorhanden. Funktioniert das auch mit dem gesuchten vierdimensionalen Ding? Da war aber zuvor noch ein Umstand zu beachten: durch die Herabstufung von der 3. zur 2. Dimension, ergaben sich zwangsläufig Verfälschungen, die in der zeichnerischen Darstellung gut zu erkennen sind: Wie die Anschauung (und auch die 2. Tabelle im 2. Teil) zeigt, hat ein Würfel 8 Punkte, 12 Gerade und 6 Quadrate. Das aufgeklappte Würfelmodell zeigt zwar ebenfalls 6 Quadrate, aber 14 Punkte und 19 Gerade. Was ist da passiert? Das Aufklappen setzt ein "Aufschneiden" voraus, und das hat zur Folge, dass einige Punkte und Linien doppelt erscheinen. Im folgenden "Aufklappmodell" sind die "echten" Punkte und Linien grün eingezeichnet, die "doppelten", also die durch das Aufklappen entstandenen, rot. Für den Aufklappversuch mit dem 4-dimensionalen Objekt hieß das: die Anzahl der 3-dimensionalen Bestandteile (= Würfel) ließe sich vermutlich korrekt darstellen, während die 0-, 1- und 2-dimensionalen Anteile, also Eckpunkte, Linien und Flächen wahrscheinlich wieder Doppelgänger produzieren würden. Von dem aufgeklappten Würfel ausgehend, versuchte ich, ein dreidimensionales "aufgeklapptes" Modell des vierdimensionalen Körpers zu entwerfen. Nach einigen Versuchen kam dabei Folgendes heraus: Das Ding verfügte über die geforderten 8 Würfel und darüber hinaus über: 41 quadratische Flächen, 68 Linien und 36 Eckpunkte; "überschüssig" waren somit 17 Quadrate, 36 Linien und 20 Punkte – überschüssig in dem Sinn, dass sie in dem Modell doppelt angelegt waren. Diese galt es nun herauszufinden. Ich kam so weit, dass ich die zu eliminierenden Linien identifizieren konnte: Mit den Punkten hatte ich größere Schwierigkeiten. Mir fehlte auch das Vorstellungsvermögen, mir das Teil irgendwie in sich selber zusammengefaltet vorzustellen. An dieser Stelle machte ich eine große Pause, ich glaube, sie dauerte sogar mehrere Jahre. Ende des dritten Teils zum vierten Teil |
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Samstag, 2. Januar 2016 |
Früher kam es gelegentlich vor, dass ein Schriftsteller einen Roman oder eine längere Erzählung vor dem Erscheinen des Buchs portionsweise in einer Tages- oder Wochenzeitung veröffentlicht hat. Diese Form des Fortsetzungsromans gibt es auch heute noch. Da ich gerade mit der Idee zu einem neuen Schreibprojekt gesegnet bin, dachte ich, ich könnte die entstehende Geschichte nach und nach hier in meinem Blog erscheinen lassen. Ein neues Jahr bietet sich ohnehin für die Umsetzung neuer Ideen an, und so wird man an dieser Stelle in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen kleine laufende Fortsetzungen lesen können. Was am Ende daraus wird, weiß ich nicht – mehr als zwei oder drei Folgen will ich meinen Lesern nicht voraus sein. Der Text bekommt von mir den Namen Josef, nach einer Figur aus dem Romanprojekt Novembersommer. (Ich hatte mir auch überlegt, ihn den ungeschriebenen Josef zu nennen. Lassen wir's bei Josef.) Alles Weitere erklärt sich beim Lesen. Gute Unterhaltung! (Bitte auch das Copyright © beachten, danke.) Josef (1)
Fortsetzung folgt |
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