Werners Blog (September – Dezember 2015)

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(Links zu allen Einträgen: siehe linke Spalte)
       
     
Donnerstag,
31. Dezember 2015
Himmelstagebuch 31.12.2015, 16 Uhr 41 31.12.2015, 16 Uhr 41
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[...] Vergiss die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, missachte das Unglück, zerlach den Konflikt. [...] 22


(mir zugeflogen im Advent. Danke, S.!)
22 aus: HANDKE, Peter: Über die Dörfer, Frankfurt a.M. 1981
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Der Mathematik zweiter Teil
( zum 1. Teil)

Die letzte Tabelle () hatte also Übersichtlichkeit gebracht und das Ergebnis, dass das gesuchte vierdimensionale Gebilde aus 16 Eckpunkten und 8 Würfeln bestehen musste. Die null- bis dreidimensionalen vertrauten Objekte (Punkt, Linie, Fläche, Würfel), waren in dieser Tabelle aber nicht mehr auf den ersten Blick nachzuverfolgen. Färbt man die Tabellenfelder antsprechend ein, werden sie wieder sichtbar:

rot = Punkt (nulldimensionales Objekt)
grün = Linie (eindimensionales Objekt)
blau = Quadrat (Fläche, zweidimensionales Objekt)
gelb = Würfel (dreidimensionales Objekt)

  Dimension                
  0. Dim. (Punkt)   1 2 4 8 16    
  1. Dim. (Linie)   1 4 12        
  2. Dim. (Quadrat)   1 6          
  3. Dim. (Würfel)   1 8          


Und in die orange hinterlegten Felder dieser Tabelle mussten also die Bestandteile des imaginären Körpers der 4. Dimension eingetragen werden. Zwei davon waren jetzt bekannt.

Vielleicht war es geschickter, die Tabelle so anzuordnen, dass die Felder, die Punkt, Linie, Quadrat, Würfel und 4-dimensionalen Körper betreffen, in den Spalten untereinander stehen:

  Dimension   Punkt Linie Quad. Würf. 4-dim. Körper    
  0. Dim. (Punkt)   1 2 4 8 16    
  1. Dim. (Linie)     1 4 12      
  2. Dim. (Quadrat)       1 6      
  3. Dim. (Würfel)         1 8    


Und wieder ergaben sich in den neu entstanden Spalten mathematische Reihen. Nach längerem Betrachten sah ich eine Regelmäßigkeit im Verhältnis der Werte der ersten Zeile zu den darunterstehenden Werten der zweiten Zeile:

2:1 - 4:4 - 8:12

Nannte man den ersten Wert (den der ersten Zeile) "X", dann konnte man die Beziehungen zur zweiten Zeile in einer Multiplikationsreihe ausdrücken: X mal 0,5 - X mal 1 - X mal 1,5 - und darauf würde in der 4. Spalte logischerweise folgen: X mal 2, also 16 x 2 = 32.

Das hieß, der imaginäre Körper hätte 32 Linien (oder Kanten oder Gerade oder wie immer man das nennen wollte, jedenfalls Elemente der 1. Dimension).


Und auch das Verhältnis zwischen der zweiten und der dritten Zeile ließ sich auf diese Weise erfassen: die entsprechende Reihe (die allerdings nur aus zwei Gliedern bestand) hieß:

4:1 - 12:6

Ich nannte die Werte der 2. Zeile "Y", das ergab: Y mal 0,25 bzw. Y mal 0,5 und darauf müsste eigentlich folgen: Y mal 0,75. (ja, da hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben, z.B. Y mal 1, aber irgendwo muss man ja mal anfangen.)

Y ist in der Spalte des imaginären 4-dimensionalen Körpers 32, also 32 mal 0,75 = 24; das 4-dimensionale Objekt verfügt demnach über 24 Quadrate (Flächen).


  Dimension   Punkt Linie Quad. Würf. 4-dim. Objekt    
  0. Dim. (Punkt) (X) 1 2 4 8 16    
  1. Dim. (Linie) (Y)   1 4 12 32    
  2. Dim. (Quadrat)       1 6 24    
  3. Dim. (Würfel)         1 8    


Zugegeben, das war ein bisschen ins Blaue hinein gerechnet, die Werte sahen aber sehr gut aus, und das Ergebnis war meiner Meinung nach ausreichend, um einen "Praxisversuch" folgen zu lassen, also einen "Körper" (oder ein Objekt) zu konstruieren, der genau diese Eigenschaften hatte:

16 Punkte, 32 Linien, 24 Flächen und 8 Würfel.

Aber wie sollte das gehen? Wir sind es gewohnt, dreidimensionale Objekte herzustellen, das tun wir ständig und sind auch in der Lage, sie leicht abstrahierend auf einer zweidimensionalen Fläche abzubilden, z.B. einen Würfel:


Würfel


Wir haben keine Mühe, uns dieses Objekt als dreidimensional vorzustellen. (Menschen früherer Zeiten hätten hier sehr wohl ein Problem gehabt, die Dreidimensionalität ist in der Malerei erst am Ende des Mittelalters aufgetaucht, zu diesem Thema vielleicht ein andermal mehr.)
Eine zusätzliche vierte Dimension sollte sich demnach (vielleicht, hoffentlich) dreidimensional abbilden lassen. Und alles, was dreidimensional darstellbar ist, wäre wiederum auch zweidimensional darstellbar (siehe Würfel-Abbild).

Ende des zweiten Teils

zum dritten Teil


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Mittwoch,
30. Dezember 2015
Waldtagebuch 30.12.2015, 13 Uhr 35 30.12.2015, 13 Uhr 35
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Dienstag,
29. Dezember 2015
Nach Jahrzehnten überraschend alte Bekannte wieder zu treffen, kann sehr erfreulich sein. Oder auch nicht. Handelt es sich aber nicht um einen Menschen, sondern um eine Idee, fällt das Wiedersehen mit hoher Wahrscheinlichkeit angenehm aus, spiegelt einem eine Idee doch selten die eigene Veränderung, das eigene Altern. Und auch sie selber ist unter Umständen so frisch wie vor Jahrzehnten (wenn es eine gute Idee war).

Die Idee, von der ich spreche, fällt in das Gebiet der Mathematik, und ich hatte sie (vermutlich, genau weiß ich das nicht mehr) im Alter von etwa zwanzig Jahren. Jetzt ist sie mir im Internet (wo sonst!) begegnet.

Da das Ganze etwas umfangreicher werden wird, teile ich diesen Beitrag in mehrere Teile, hier also der erste:

Ich fragte mich, was passieren würde, wenn man die Reihe der räumlichen Dimensionen fortsetzen würde, über den uns vertrauten dreidimensionalen Raum hinaus. Richtig vorstellbar wäre das nicht, aber man könnte doch ein gedankliches und mathematisches Experiment durchführen. Die drei Dimensionen hatten ja einen klaren Aufbau, folgten einer strengen mathematischen Logik: Punkt (0. Dimension) – Linie (1. Dimension) – Fläche (2. Dimension) – Raum (3. Dimension).

Ich stellte mir einen einfachen Würfel vor, der aus folgenden Elementen bestand: 8 Eckpunkten (Elementen der 0. Dimension), 12 Linien (Elementen der 1. Dimension) und 6 Seitenflächen (Elementen der 2. Dimension). Alles zusammen ergab den Würfel, ein räumliches Element der 3. Dimension.
Es sprach nichts dagegen, diese Reihe fortzusetzen, also einen "Körper" (oder was auch immer) der 4. Dimension sich auszudenken, der aus Elementen aller niedereren Dimensionen zusammengesetzt sein müsste.

Zuerst ging ich eine Dimensionsstufe zurück, vom Würfel zur Fläche – einer quadratischen Seitenfläche dieses Würfels. Diese Fläche bestand aus 4 Eckpunkten (= 0. Dimension) und 4 Linien (= 1. Dimension), und zusammen ergaben sie die Fläche (= 2. Dimension).

Noch eine Stufe zurück, zur Linie (Kante des Würfels): 2 Eckpunkte (= 0. Dimension) ergaben 1 Linie (oder Gerade) (= 1. Dimension).

Soweit, so klar.

Wenn ich jetzt durch die Dimensionen wieder nach oben stieg, konnte ich Reihen aufstellen, und zwar solche, die die Elemente einer Dimension darstellten:

0. Dimension (die Eckpunkte): 2 von ihnen gab es bei der Linie - 4 beim Quadrat - 8 beim Würfel

1. Dimension (die Linien): 4 hatte das Quadrat - 12 der Würfel

2. Dimension (das flächige Quadrat): 6 gab es davon beim Würfel


Die drei Reihen, etwas klarer notiert, sahen also folgendermaßen aus:

0. Dim.: 2 4 8
1. Dim.: 4 12
2. Dim.: 6

An den Anfang könnte man jeweils noch eine 1 setzen (also jede Reihe mit einem Exemplar von sich selber beginnen lassen - 1 Punkt, 1 Linie, 1 Quadrat, 1 Würfel), dann sähen die Reihen so aus:

0. Dim.: 1 2 4 8
1. Dim.: 1 4 12
2. Dim.: 1 6
3. Dim.: 1

Dass sich Reihen, in denen eine mathematische Logik herrscht, weiter fortführen lassen, war mir durchaus bekannt. Gerade das machte ja den Reiz dieses Spiels aus, denn auf diese Weise ließe sich rein theoretisch-mathematisch die Grenze der sinnlich wahrnehmbaren Welt überschreiten. So fiel es nicht schwer, die erste Reihe weiterzuschreiben: auf 1, 2, 4, 8 folgt logischerweise 16, 32, 64 usw. Das war einfach, man musste nur den Wert jedes Schritts verdoppeln. Eine imaginäre Figur der (nur gedachten) 4. räumlichen Dimension hätte also 16 (Eck-)Punkte (= Elemente der 0. Dimension). Das war die erste wichtige Information über diesen Körper.

Die zweite und gar erst die dritte Reihe würden mehr Denkarbeit verlangen, darum kam ich auf die Idee, die Zahlen so in einer Tabelle zusammenzustellen, wie sie hier dargestellt ist:


  Dimension                
  0. Dim. (Punkt)   1 2 4 8 16    
  1. Dim. (Linie)   1 4 12        
  2. Dim. (Quadrat)   1 6          
  3. Dim. (Würfel)   1 8          


Das sah übersichtlich aus und gab Raum nach allen Seiten, um ihn mit möglichen logischen Ergänzungen zu füllen, und die erste Ergänzung war ja schon erfolgt (die 16), und auch die 1 in der letzten Zeile, der für den imaginären Körper, war klar.

Ich konnte so auf den ersten Blick sehen, dass nicht nur die Zeilen der Tabelle, sondern auch ihre Spalten mathematische Reihen ergaben. Was diese Spalten bedeuten sollten, davon hatte ich keine Ahnung. Jedenfalls gab es wieder eine sofort leicht zu ergänzende Reihe, nämlich die der zweiten Spalte: 2, 4, 6, darauf folgte logischerweise eine 8. Das war die zweite wichtige Information über den 4-dimensionalen Körper: er würde 8 Würfel beinhalten! – 8 Würfel und 16 Eckpunkte: richtig vorstellbar wurde der "Körper" aber noch nicht.


Ende des ersten Teils

zum zweiten Teil
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Himmelstagebuch 29.12.2015, 17 Uhr 37 29.12.2015, 17 Uhr 37
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Samstag,
26. Dezember 2015
Die Dezemberausgabe der Monde Diplomatique enthält einige kenntnisreiche Artikel zur Lage im Nahen Osten, z.B. L'art de la guerre imbécile von S. Halimi, Genèse du djihadisme von Nabil Mouline und Cinq conflits entremêlés von P. Conesa.
Letzteren möchte ich kurz vorstellen:

Einleitung: Die gleichsam einmütige Schwärmerei der verantwortlichen Politiker für "den Krieg" setzt eine schwerwiegende Unkenntnis der Realität auf diesem Gebiet fort. Das 2014 beschlossene militärische Engagement des Westens fügt den Konflikten, welche die arabisch-islamische Welt in Flammen setzen, noch eine fünfte Schicht hinzu.

Dann zählt der Artikel die vier bestehenden Kriege auf und beleuchtet ihre Hintergründe und Zusammenhänge:
  • Der "Religionskrieg" zwischen Sunniten und Schiiten, der inzwischen mindestens sieben Länder zerreisst: Afghanistan, Irak, Syrien, Pakistan, den Libanon, Jemen und Bahrein.
  • Der Krieg, den die Kurden um ihre Selbstbestimmung führen, insbesondere gegen den türkischen Staat.
  • Der Krieg, den die Islamisten seit dem Golfkrieg (1990/91) untereinander führen, verstärkt seit den arabischen Aufständen. Bekanntestes Beispiel: der Konflikt zwischen den Moslembrüdern (von Qatar unterstützt) und den Salafisten (von Saudi-Arabien unterstützt) in Ägypten.
  • Schließlich der blutigste dieser Kriege, nämlich der, den der syrische Präsident Assad gegen alle seine Gegner führt.

Im weiteren fragt der Artikel nach den Gründen für das westliche militärische Engagement (den fünften Krieg) und zerpflückt der Reihe nach die angeblichen Motive wie: die Verteidigung der Menschenrechte, die Religionsfreiheit, das Verhindern von Massenmorden. Warum also? Öl? Eindämmung der Flüchtlingsflut? Schutz der Menschenrechte? Überall Fehlanzeige, stellt der Artikel fest und begründet dies auch. Er stellt Planlosigkeit und Widersprüchlichkeit fest, prophezeit eine Konfrontation zwischen dem IS und Saudi-Arabien, und als Folge für Europa die Ankunft der nächsten Flüchtlingswelle aus dem Jemen (der keinerlei Nachbarländer hat, welche sie aufnehmen könnten).

Schlussabsatz:

Die westliche Strategie, die sich auf das Bombardement sowie auf die Rekrutierung lokaler Kämpfer stützt, ist in Syrien und im Irak ebenso wie in Afghanistan gescheitert. Europäer und Amerikaner verfolgen Ziele, welche die Mechanismen der internen Krisen der arabisch-islamischen Welt ignorieren. Je mehr sich das militärische Engagement verschärft, desto größer wird das Risiko des Terrorismus, bis hin zur vorhersehbaren und verheerenden Auseinandersetzung, die den IS schließlich mit Saudi-Arabien konfrontieren würde. Ist das "unser" Krieg?



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Freitag,
25. Dezember 2015
Der Schriftsteller, der ein Tagebuch führt, schreibt darin auf, was er weiß. Im Gedicht oder in der Erzählung schreibt er über das, was er nicht weiß.

Das ist ein Zitat des polnischen Dichters Adam Zagajewski, aus einer Sendung des Deutschlandfunks von heute abend.

Eine sich daran anschließende Frage könnte lauten: Bin ich zu sehr Kopfmensch, um ein guter Schriftsteller zu sein? Ich will das nicht ausschließen.

Oder heißt es: Schreiben ist der Versuch des Schriftstellers, seinem Nichtwissen schreibend beizukommen? Das Schreiben gleichsam als Forschungsmethode zur Wissensgewinnung anzuwenden?
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Dienstag,
22. Dezember 2015
In einem Lebensmittelmarkt in Bédarieux verkaufen sie Kokosnüsse für 33 Cent das Stück. Das Thema hatten wir schon mal. Ich weiß nicht, ich kenne mich mit Kokosnüssen nicht so aus, vielleicht fallen die ja von selber von der Palme, verpacken sich und versenden sich von ganz alleine, so dass man überhaupt keine Arbeitskräfte dafür benötigt, die man bezahlen müsste.

Ich würde mir wünschen, dass keiner so eine Kokosnuss kauft.



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Montag,
21. Dezember 2015
Noch merkt es keiner: Die Tage werden wieder länger.



Vor einiger Zeit habe ich hier im Geäst einer kahlen Kastanie, zehn Meter über dem Boden, ein gewaltiges Wespennest entdeckt, etwa einen Meter hoch. Dieser heiße Sommer muss den Wespen wirklich gut getan haben, dachte ich, so etwas habe ich noch nie gesehen. Inzwischen habe ich dazugelernt: Das waren keine gewöhnlichen Wespen, die diesen weithin durch die Wälder leuchtenden Papierballon gefertigt haben, sondern Vespa velutina, eine asiatische Hornissenart, die seit etwa zehn Jahren Südfrankreich bevölkert, wohl von Bordeaux aus, wo sie mit einem Schiff aus China angekommen sein soll. Seither ist sie da und arbeitet sich langsam in Richtung Westen und Norden vor, auch in Deutschland hat man sie 2014 schon gesehen. Für französischverstehende Menschen gibt es eine außerodentlich informative Seite des Inventaire National du Patrimoine Naturel über Vespa velutina.
Informationen auf deutsch unter: www.hornissenschutz.de/vespa-velutina-deutsch.htm

So weit, so gut, eine eingewanderte Hornisse wäre nichts Besonderes, schließlich globalisieren sich nicht nur Märkte und Finanzen, sondern ganz unvermeidlich auch Tiere und Pflanzen. Leider hat es diese Hornissenart auf Honigbienen abgesehen, und daher sind Imker (auch ich bin einer) durchaus alarmiert. Hier im Dorf hat ein Imker in diesem Herbst mitsamt seinen Bienen das Weite gesucht. Inzwischen weiß ich, warum und bin hin- und hergerissen zwischen Bienenschützen und Staunen vor diesem Naturwunder.





Nest von Vespa velutinaNest von Vespa velutinaNest von Vespa velutinaNest von Vespa velutina
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Sonntag,
20. Dezember 2015
Noch einmal begegnet mir Karl-Ove Knausgård:
Ein paar Stunden später erwachte ich in der Dunkelheit aus dem fantastischsten Traum meines Leben. Ich setzte mich auf und lachte vor mich hin. Ich war die Straße vor unserem Haus in Tybakken hinabgegangen. Plötzlich erschallte über der Erde ein Dröhnen. Dieses Dröhnen war gewaltig, und ich wusste, dass ein solcher Laut noch nie zuvor erklungen war, er rollte wie Donner über den Himmel, war aber unvergleichlich lauter. Es war Gottes Stimme, die ertönte. Ich blieb stehen und blickte gen Himmel. Und dann wurde ich emporgehoben! Ich wurde in den Himmel gehoben! Was für ein Gefühl. Das Dröhnen, das Grandiose an Gottes Gegenwart, und dann dieser unglaubliche Augenblick, in dem ich emporgehoben wurde. Es war ein Augenblick von Frieden und Vollkommenheit, von Wonne und Freude.21



Das, fand ich, passt zu dem Großen Frieden. Der war so ein gewaltiges Dröhnen, nur absolut stumm.


Und noch ein Fundstück enthielten diese Buchseiten (leider so platziert, dass nicht klar war, von wem die Worte stammen. Ich vermute, von Andreas Laudert):

Scheiterst du als Schriftsteller, fehlen dir nicht die Worte. Dir fehlen die Sinne.
21 KNAUSGÅRD; Karl-Ove: Träumen, München 2015, S. 672

Gefunden in den "monatlichen Buchseiten" in info3, Dezember 2015, verfasst von Andreas Laudert
       
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Ich habe schon von meinem zu hohen Blutdruck berichtet. Seit kurzem nehme ich wieder etwas (meine Ärztin wollte mich nicht ganz ohne ziehen lassen), in reduzierter Dosis. Ich will nicht die ganze Latte der Nebenwirkungen aufzählen, die mich wieder erfreuen, aber ich frage mich, was man vom Geisteszustand der Menschen in der Pharmafirma, die dieses Mittel herstellt, halten soll, wenn sie solche Texte auf ihre Beipackzettel schreiben:
Informieren Sie Ihren Arzt umgehend beim Auftreten von:
[...] schwerwiegenderen Ereignissen, wie Herzinfarkt oder Schlaganfall [...]




Freitag,
18. Dezember 2015
Das Geschenk hält an: nicht nur der Sommer kann sehr groß sein, hier sind es oft auch die stillen Tage um die Wintersonnenwende.



Großer Himmel im Westen
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Mittwoch,
16. Dezember 2015
Den ganzen Tag liegt ein Frieden von unendlicher Größe über dem Land. Ich gehe meine Spazierrunde um das Dorf, setze mich auf den Felsen. Ein Propellerflugzeug brummt leise über den Himmel, eine Krähe krächzt ein paar Mal – kleine Geräusche, die diese unglaubliche Stille viel eher unterstreichen als stören. So ein Geschenk!



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Sonntag,
13. Dezember 2015
Zwangsläufig kehre ich immer wieder zum Novembersommer zurück. Nicht alles muss verworfen werden, manche Szenen finde ich nach wie vor gut (oder wenigstens brauchbar). Hier wieder ein Ausschnitt, in der der Erzähler Mack sich betrinkt, sein Scheitern beklagt, aber auch das Selbstmitleid ihn ankotzt. (Nur ein sehr kurzer Ausschnitt, die Szene ist viel länger, 16 Seiten.)

Einige literarische Bezüge sind rechts erklärt.
Ich bin betrunken. Den Kopf schwer und leicht, entgleiten mir die ungezählten Eingebungen zwischen Auftauchen und Niederschreiben, dabei habe ich sie doch nur, weil ich betrunken bin. Was ich suche, ist so nah, so nah! Nur ein morsches Gitter trennt mich von meinem Ziel, und wenn ich versuche, meine Hände hindurchzustrecken, vernebelt sich alles, und ich vergesse, was ich auf der anderen Seite gesehen habe. Ich leide nicht genug, das ist es!, ich leide nicht mehr, so wie ich in jungen Jahren noch nicht gelitten habe.

Schwachsinnige Idee, das, im Tunnelblick der Nacht! Bin ich deshalb unzufrieden, komme ich deshalb so schwer mit der Schreiberei vorwärts, weil ich zur Zeit nicht genug leide? Geht's mir zu gut, gibt's nichts zu sublimieren, nichts, was mich innerlich derart umtreibt, dass ich es auf der Stelle in Literatur verwandeln müsste? Dieser völlig gescheiterte A-B-Text, den ich weggeschmissen habe, liegt schon zwanzig Jahre zurück, aber peinlich ist er immer noch, und irgendwo ist er doch auch typisch, genau auf dieser Ebene haben sich immer wieder meine Versuche zu Gott und der Welt bewegt, stümperhaft, ein Text voll Blut und Wunden (das passt jetzt nicht zur Weihnachtszeit, egal, es passt zu meinem Selbstmitleid mitten in der Nacht, ja, nur immer drauf!).

Es gäbe genug zu leiden, ständig, ich seh's doch in diesem Moment. Die paar heiteren, gelösten Zeiten ausgenommen, in die ich gelegentlich unvorbereitet hineingleite und die ich erst wahrnehme, wenn ich wieder aus ihnen hinausfalle. Aber so eine Zeit habe ich grade nicht – auch ohne den Nebel, bei klarer Sicht, bleibt immer das Gitter, und wenn ich daran rüttle, ist es auf einmal nicht mehr morsch. Festhalten! Gerade andersherum als in der Liebe, wo es heißt, nicht festzuhalten: wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen; denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.18 Sehr weise, schon wieder. Aber das gilt nicht fürs Schreiben! Schreiben ist Festhalten, und wenn ich heute eine Geschichte schreibe, wird sie so oder so, wenn ich morgen genau dieselbe Geschichte schreibe, wird sie anders, erst recht, wenn ich sie in einem Monat, einem Jahr oder in fünf Jahren schreibe. Irgendwie und ungefähr bleibt die Geschichte zwar sich selber ähnlich, und doch wird es immer eine ganz andere sein, die Veränderungen in der Zeit sind mein eigenes Leben, und wenn ich beim Schreiben da mitkommen will, müsste ich eigentlich nichts anderes tun als schreiben – wo bliebe aber dann das Leben? (die Liebe?) Ich schreibe weniger als notwendig wäre, ja: ich schreibe nichts!, und je weniger ich schreibe, desto mehr entgleitet mir, was ich schreiben müsste: GottunddieWelt, AundB oder Irgendwasanderes, die "Projekte" verrinnen wie die Zeit, ohne dass etwas geschrieben ist … ich bin siebendundfünfzig, und es ist so gut wie nichts geschehen. Darf ich überhaupt noch über Gott, Josef und die Liebe schreiben?

Liebe und Schreiben: Alles dreht/ in eine Richtung!/ Alles geht/ ohne Sichtung!// Nur/ einer steht.19 Wer steht? Ich? Wohl kaum. Hella (oder B? ach, zum Teufel!) wollte das, was sie Josef entgegenbrachte, auf keinen Fall Liebe nennen, auch sie hatte ein Problem mit dem Be-Schreiben: bloß kein schwarzes Räucherstäbchen, das, was man einander antut, könnte ja sonst Liebe heißen. Wie man die Dinge sieht, wie man sie sehen möchte, das verändert ihre Namen und umgekehrt verändern die Namen die Dinge. Davor hatte sie Angst – etwas benennen heißt etwas beschwören. Oder verfälschen (es sei denn, man ist ein großer Dichter). Ob ich Lieder schreiben sollte? Gedichte? (wie Rilke, nur besser, haha …) Wird mein Ja ein Ja, mein Nein ein Nein sein? O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht …20 Ihn werde ich sowieso nie erreichen. Aber da steckt der Fehler schon drin: den anderen erreichen zu wollen, kann nur falsch sein, der andere ist der andere ist der andere. Unerreichbar, und das auf ewig.

Der Spiegel wird zum Rückspiegel, und ich sehe mich doppelt: einen, der fast keines seiner Ziele erreicht hat, und einen anderen, der weit über die ahnungslosen, beschränkten Ziele der Jugend hinausgewachsen ist, ganz woandershin. Immer wird mehr und weniger zugleich aus den Plänen und Träumen. Eine Nacht wie eine Droge! (Von der ich bloß nicht zu viel einnehmen darf.)

Drogen sind aber doch immer ein Ersatz, wofür brauche ich einen Ersatz? Nichts wie falsche Gedanken in dieser Nacht. Ein Elend. Alles dreht.


Liebe und Schreiben – jetzt bin ich ganz unerwartet noch einmal Liane Dirks begegnet


18 RILKE, R. M.: "Requiem. Für eine Freundin", in: Werke in drei Bänden, Frankfurt am Main und Leipzig 1991, Bd. I, S. 410

19 AHRENS, S.F.: Das ganze Gedicht lautet:
Alles dreht//Alles dreht/ in eine Richtung!/ Alles geht/ ohne Sichtung!// Nur/ einer steht./ Es scheint so,/ als ob er sich nicht bewegt./ Trotz, dass der Wind weht,/ sich alles dreht.// Er aber steht!/ Lässt sich nicht treiben,/ wird sich nicht verneigen –/ Sein Wille ist sein Eigen!
http://www.alles-dreht.de/wb/pages/lyrik/alles-dreht/alles-dreht.php

20 RILKE, R. M.: Erste Duineser Elegie, in: a.a.O, Bd. I, S. 441
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Die Mimose, die hinter meinem Haus wächst, fängt an zu blühen. "Falsche" Mimose (Acacia dealbata)
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Samstag,
12. Dezember 2015
Dass dieses Jahr vom Wetter her (aber nicht nur da!) ein ganz besonderes war, hat jeder auf seine Weise bemerkt. Die Bäume zeigen es auf ihre Art. Mir sind im Herbst die Farben aufgefallen, schon im Schwarzwald, jetzt auch hier. Nie habe ich die Eichen so leuchten sehen wie in diesem Jahr.
Goldener Dezember.



Eichen im Dezember Eichen im Dezember  Eichen im Dezember  Eichen im Dezember  Eichen im DezemberI Eichen im Dezember, vor dem Roc de Tauteylle
       
       
Wieder einmal in Annie Dillards großartigem Buch über das Schreiben geblättert:

Manchmal erhebt sich ein Teil des Buches einfach und geht davon. Der Schriftsteller kann es nicht zurück an seinen Platz zwingen. Es geht davon, um zu sterben.17
17 DILLARD, Annie: Ich schreibe. Salzburg und Wien, 1998, S. 24
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Mittwoch,
9. Dezember 2015
"Ich ging wie jeden Tag über den Marktplatz von Hama. Hier habe ich als Kind mit meinen Freunden gespielt. Meine Mutter saß hier und gab mir Sonnenblumenkerne zu essen. Da sah ich zehn blutige Köpfe auf Holzpfählen aufgespießt. Ich ging weiter, schnelleren Schrittes, mein Herz war gelähmt. Ich ging nach Hause. Ich sah mich im Spiegel und ich erkannte jemanden, der nicht gekämpft hat für seine Freunde, jemanden, dessen Augen wegschauten, dessen Herz sich lähmen ließ, als die Not sich zeigte. Ich fühlte Selbstverachtung, und ich wusste, das Leben wird nie wieder sein, wie es war: Von nun an bin ich ein anderer. Ich bin nicht mehr der, der ich war." (Fadi Al Hag, syrischer Pass, lebt seit einer Woche in Deutschland)



Aus dem Artikel Von nun an bin ich eine andere von Christiane Gerges16
16 in: Das Goetheanum
Nr. 49/2015, S. 6
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Montag,
7. Dezember 2015
Der Alltag, wenn man ihn sich entsprechend eingerichtet hat, kann etwas Bezauberndes sein: zum Beispiel den Feldthymian, der hier überall wächst (und von dem ich nie weiß, ob es sich um Thymus serpyllum oder Thymus pulegioides handelt), zu trocknen und zu rebeln, um damit die Soßen zu würzen. (Für T. serpyllum spricht, dass man ihn hier serpolet nennt, für T. pulegioides die Beschreibung in den botanischen Lehrwerken und sein Vorkommen in den hiesigen südfranzösischen Breiten.)


Oder aus altem Baguette Semmelnknödeln zu machen.



Thymus pulegioides (vermutlich)
Für Freunde im allerengsten Kreis (kleiner geht's kaum – aber auch das ist ein jährliches Ritual) eine Lesung gehalten, nichts von den gegenwärtigen mehr oder weniger gescheiterten Versuchen, sondern aus einem fast zehn Jahre alten Text: "Das Grundeinkommen".

Kleiner Ausschnitt:
Arne war Philosoph und Naturforscher, in einem wirklich so allgemeinen Sinn, wie es heute gar nicht mehr gebräuchlich ist. Man ist heute Molekulargenetiker, Kognitionswissenschaftler, Quantenphysiker oder vielleicht Wissenschaftshistoriker. Arne war alles in einem. Dazu war er Schriftsteller wie ich. Ein besserer, wie ich zugeben muss, auch wenn er die Vermarktung seiner Bücher mit noch geringerem Erfolg betrieben hatte als ich. "Egal was du produzierst", sagte er einmal zu mir, "Schuhe, Kartoffeln, Wissenschaft oder Literatur: nie hat die Welt auf deine Produkte gewartet. Es gibt immer schon genügend viele andere, die dasselbe machen. Das Schaffen ist eine Sache, das Verkaufen eine andere." Zwar war er bei seiner Arbeit sorgfältig, gründlich, bisweilen auch penibel bis hin zur Pedanterie, aber das bezog sich viel mehr auf den Inhalt und die Qualität seiner Schriften als auf das Marketing.

Durch Arne habe ich gelernt, mich mit Themen wie dem Leib-Geist-Problem, der Meditation und wissenschaftlicher Esoterik auseinander zu setzen. Er hat mir die Angst genommen, dass es sich bei diesen Gegenständen um abgehobene, unbrauchbare, ja irgendwie alberne Dinge handeln könnte, die man als ernst zu nehmender Mensch besser nicht anfasst, ohne sich der Lächerlichkeit auszusetzen. Arne war ein geradliniger, in seinen Ansichten überzeugender und zutiefst lebenspraktischer Mensch, und allein der Umstand, dass er sich mit einer Sache näher beschäftigte, verlieh dieser den Charakter von Seriosität.

Eine von Arne mit großem Einsatz beackerte Flur war die systematische wissenschaftliche Eroberung immaterieller Lebensbereiche. Sein Anliegen war, so weit wie möglich auf rein geistige Gebiete vorzudringen, ohne dabei seinen streng wissenschaftlichen Anspruch aufzugeben, den er gerne in allem, was er tat, an den Tag legte. Er verabscheute die Haltung vieler Naturwissenschaftler, sich gegenüber geistigen, religiösen oder allgemein ideellen Fragestellungen abzugrenzen und sich für nicht zuständig zu erklären. Fasziniert beobachtete er zum Beispiel bestimmte Grundlagenforschungen in der Physik, die ihm in seiner Auffassung, dass sichtbare Welt und geistiger Grund Ein und Dasselbe waren, Recht zu geben schienen. "Wie kann es", fragte er mich eines Tages, "einen Urknall gegeben haben, ohne eine Kraft, die ihn in Gang gesetzt hat? Wie kann jemand wie Stephen Hawking, der das Weltmodell des Big Bang geschaffen und jahrzehntelang gelehrt hat, allen Ernstes von sich sagen, er sei Atheist? Der ist doch nicht nur gelähmt, sondern in erster Linie blind!"
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Freitag,
4. Dezember 2015
Selbstfindungsprojekte (siehe Anfang) sind immer abenteuerlich. Wenn sie dann auch noch im weit fortgeschrittenen Alter stattfinden, mitunter lebensgefährlich. Der Weg zu sich selbst sollte längst stattgefunden haben, eine Art Ziel in Sichtweite sein. "Der Weg ist das Ziel" – das reicht irgendwann nicht mehr.

Lese gerade: Liane Dirks, Sich ins Leben schreiben14. Darin zitiert sie Krystyna Zywulska (eine Überlebende des Warschauer Ghettos und des Vernichtungslagers Auschwitz, mit der Liane Dirks eng befreundet war und über die sie auch geschrieben hat): "Richte dich nicht nach dem Mittelmaß, das erreichen wir alle sowieso."

Das ist eine Richtschnur! Und noch etwas habe ich bei Liane Dirks gefunden, das mit mir zu tun hat: Das Schreiben war stets meine größte Herausforderung, das Schreiben und das Lieben.15


14 DIRKS, Liane: Sich ins Leben schreiben, München 2015, S. 59


15 a.a.O., S. 52
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Montag,
30. November 2015
Es ist eine Lust, allein zu sein!



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Samstag,
28. November 2015
Was schwätze ich von Paradiesen! Paradiese sind dazu da, um aus ihnen vertrieben zu werden. Nur außerhalb ihrer behütenden Mauern, erst nachdem wir in ihnen beheimatet waren, findet das Leben statt, können Entwicklungen geschehen.

Dazu wieder ein Ausschnitt aus dem Novembersommer:
Ich genoss den Abendwind, der, seit die Sonne untergegangen war, lau und sanft wie selten von den Hängen herabfiel. Nach ein paar Minuten kam Josef mit Tellern und Besteck und einer großen Pfanne zurück. "Du kannst die zwei Salatschüsseln aus der Küche holen, wenn du magst", sagte er, ich ging hinunter, holte den Salat, irgendein ganz besonderer Duft stieg daraus auf. "Kräuteressig?" fragte ich, "was ist das denn für ein feines Aroma?" – "Pimpinelle", sagte Josef, "die wächst hier nebendran auf der Wiese, da tu ich immer ein Sträußchen in die Flasche rein. Im Übrigen hoffe ich, dass du meine bodenständige Küche magst. Der Metzger in Olargues hat so einen fantastischen boudin noir, da konnte ich nicht widerstehen. Blunzengröstl hieß sowas früher bei uns." Ich hatte eher Mediterranes als Bayerisches erwartet, aber das Essen war köstlich, trotz des Namens: Blutwurst mit Kartoffeln und Zwiebeln und reichlich Majoran, und der Saint-Chinian passte perfekt.

"Du weißt, dass du hier im Paradies lebst", sagte ich mit einer Geste hinüber zu dem inzwischen purpurfarbenen Streifen am Himmel. Josef schaute mich scharf an und die Lachfältchen bekamen mit einem Mal wieder dieses Giftige, das ich schon kannte. "Geh mir weg mit dem Paradies! Paradies heißt, dass dir alles geschenkt wird, dir die gebratenen Tauben ins Maul fliegen und du für nichts einen Finger zu rühren brauchst."

„Aber du sprichst doch selbst von den Geschenken, die du hier kriegst.“

„Die Geschenke krieg ich, weil ich meine Finger rühre! Das Paradies ist was ganz anderes: du lässt es dir gut gehen, und die Verantwortung trägt ein anderer. Bon appétit.“ Paradies – Josefs Synonym für Verantwortungslosigkeit. „Dass uns der liebe Gott einst aus dem Paradies vertrieben hat, war die einzige vernünftige Eingebung, die er jemals gehabt hat“, sagte er noch. „Aber schön ist es hier schon, falls du das meinst.“



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Freitag,
27. November 2015
Von einem sogenannten Paradies ins andere. Mein jährliches Ritual, der Ortswechsel vom Schwarzwald nach Südfrankreich – vielleicht nicht mehr oft, wer weiß. Schon kündigen sich Alterserscheinungen an, körperlicher und seelischer Art, von denen der finanziellen Art schweige ich.



Paradies I
Paradies II
Das Paradies II war immer fürs Schreiben gedacht. Paradies II
Oder doch eher zum Leben wie Gott in Frankreich? Paradies II
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Montag,
23. November 2015
Sieht schon besser aus! Aber viel zu früh. Der Winter hat noch nicht angefangen, es ist immer noch Herbst.



He, halt! Es ist immer noch Herbst!
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Samstag,
21. November 2015
Herbst vor dem Fenster (2), fast schon Winter. Nichts für Depressive.



Nichts für Depressive
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Freitag,
20. November 2015
Nachtrag zum Steuerberater: Mein abschließender Besuch bei ihm (zum Zweck der Unterschrift unter die Steuererklärung) hat dazu geführt, dass er mir zwei dicke Lehrbücher über Buchhaltung geschenkt hat.




Abend bei den Nachbarn und Mitbewohnern. Die Gespräche zeigen, wie überall im Land Menschen, die sich für die Flüchtlinge einsetzen, an ihre persönlichen Grenzen geraten. Alle sind überfordert: die Flüchtlinge zuallererst, aber auch die Helfer vor Ort, die Behörden, die Politiker – es wird bald nicht mehr viele geben, die nicht in irgendeiner Form betroffen sind. Ich sehe, wie sich vieles um mich herum zu verändern beginnt: in meiner Wohn- und Lebensgemeinschaft (Willkommen, Abdulmajeed und Ghaith), in meinem Dorf, meinem Land, meinem Europa. Und ich? Verändere ich mich auch?

Noch überwiegen Unsicherheit und Angst.

Was sich nicht verändert, stirbt, sagt ein indianisches Sprichwort.
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Mittwoch,
18. November 2015
Begegnungen mit Steuerberatern, Abfassung der Einkommensteuererklärung, Umsatzsteuer-Voranmeldung etc. – all das ist wahrscheinlich Teil eines spirituellen Schulungswegs. Wir wachsen ja an den Hindernissen, die uns das Leben in den Weg stellt, nicht wahr?

Mit verlässlicher Regelmäßigkeit werde ich alle paar Monate aus meinem Alltagsleben gerissen, aus meiner Alltagslogik, aus dem, was man den gesunden Menschenverstand nennt, hinein in die Logik der Finanzämter und Steuerberater.

Mein Steuerberater ist ein äußerst angenehmer, freundlicher Mensch, ich mag ihn, kein Zweifel, aber wir beide leben auf verschiedenen Planeten (wie man so sagt). Immer wieder versucht er, mir das Gefühl zu vermitteln, sein Planet (der vermutlich auch der des Finanzamts ist), sei der richtige, der echte, auf dem die weitaus überwiegende Mehrheit der Menschheit leben würde, und ich sei so etwas wie ein Sonderling von einem fernen Exoplaneten, weil ich die Buchführungsgrundsätze, die doch so klar und logisch sind, nicht verstehe.

Seufz.

Was tun?

Buchführung "richtig" (nach den Maßstäben der Finanzämter) erlernen? (was eine enorme Menge an Zeit und Geduld erfordern würde)

Dem Steuerberater den ganzen Kram auf den Schreibtisch kippen? (was eine Unsumme an Geld kosten würde)

Sich einen Sch ... um das Ganze scheren (was erst mal sehr verlockend ist, vermutlich aber neben der Unsumme an Geld, die ja doch eines Tages fällig ist, zusätzlich einen Haufen Ärger einbringen dürfte)

Ich begebe mich auf den Schulungsweg.
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abends Habe heute in einem renommierten Freiburger Bioladen eine Flasche Wein aus Spanien (natürlich bio) zu 2,99 € entdeckt. Um unsere Kanzlerin zu zitieren: Das geht gar nicht! Der Laden führt auch Weine zu Preisen, die die Leistung des Winzers bzw. Kellermeisters durchaus gerecht widerspiegeln, aber von den Dumpingpreisen geht ein verheerendes Signal aus: Wenn die den Wein so billig anbieten können, warum dann nicht auch die andern? Ist das vielleicht alles überteuert? Beutelschneiderei? Biobetrug?

Dass bei uns Lebensmittel unter Wert verschleudert werden, ist alltägliche Übung, und es betrifft nicht nur Wein und im allgemeinen eher nicht den Biosektor. Überall erwartet der Deutsche, dass ihm das Essen quasi umsonst nachgeworfen wird: viel und billig muss es sein, woher es kommt, wie es entsteht – egal. Wenn diese Haltung nun auch die Biobranche erreicht, dann gute Nacht. Der nächste Schritt ist nämlich der Preisdruck auch auf die heimischen Betriebe.

Der Laden muss aufpassen: es könnte sein, dass ihm ein Boykottaufruf heimischer Winzer und anderer Erzeuger droht: Kauft nicht bei dem Billigheimer, dessen Preise machen uns kaputt!
       
       
Montag,
16. November 2015
Aufkleber auf einem Auto: Glück ist, wenn die Katastrophe eine Pause macht.

Pausen dieser Art wären gerade dringend nötig.

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Samstag,
14. November 2015
Lese einen Artikel über den Schriftsteller Karl Ove Knausgård. Er ist mit einem mehrtausendseitigen autobiographischen Text zum Shooting Star der norwegischen Literaturszene geworden. Der Ausgangspunkt für diesen "Roman" war eine Schreibblockade (siehe links). Eine bessere Therapie dafür als er sie gefunden hat, scheint es nicht zu geben.

Die Berliner Festspiele veranstalteten einen Tag mit Knausgård, beim Kritikergespräch wird er gefragt: Würden Sie das Schreiben empfehlen auf der Suche nach dem Erhabenen im eigenen Leben?, und er antwortet: No. If you write, something is wrong with you.13



Karl Ove Knausgård

"Karl Ove Knausgård 01" von Boberger – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY 3.0 über Wikimedia Commons

13 zitiert nach dem Artikel "Erfolgreich scheitern" von Johannes DENGER in info3, November 2015, S. 55 ff.
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Samstag,
13. November 2015
Die Region, aus der die vielen flüchtenden Menschen derzeit zu uns kommen, hieß vor langer Zeit einmal Orient. Niemand benutzt mehr diesen Namen (Orientalisten vielleicht ausgenommen), in den Medien spricht man vom Nahen Osten – täglich kommt er uns näher.

Als man noch vom Orient sprach, ging von dieser Weltgegend eine starke Faszination auf die Europäer aus, dazu wieder ein Zitat aus dem Novembersommer:
Ich habe immer viel gelesen, ohne Lesen kein Schreiben. Und wie Christophe habe ich nicht erst wirklich reisen müssen, um zu wissen, dass die eigene träumerische Vorstellung von einem Ort oder einem Landstrich meist ganz banal in sich zusammenfällt, sobald man ihn tatsächlich betritt. Bitte, Aubrac möchte ich von dieser Art Überlegungen ausgenommen wissen, das ist etwas anderes, aber wenn ich an Lawrence Durrell und die Alexandria-Romane denke, die ich zusammen mit Christina verschlungen habe, da war dann doch so eine unbestimmte Sehnsucht in uns, lockender Orient, Exotik, so in der Richtung. Aber das ist eine Trockenübung geblieben, eines Tages kehrten Freunde aus Ägypten zurück, erzählten anstelle von der Stadt unserer verschwommenen Träume von einer lauten schmutzigen Betonmetropole der neunziger Jahre, aller Zauber verweht, da waren wir im Grund froh, nicht mehr hinfahren zu müssen. Christina vermutlich noch mehr als ich, der Orient in den Büchern hat gereicht. Aber Namen können magisch wirken: Alexandria, nicht wahr, das hat was. Für Paul Valéry war es geradezu zwingend, den Orient (der vor hundert Jahren ganz anders als heute alle Sehnsüchte des westlichen Menschen auf sich gezogen hat) nicht real erfahren zu haben, um die Wirkung des Wortes ORIENT voll und ganz in sich zu erleben.12 Ja, in Großbuchstaben hat er ihn geschrieben, seinen ORIENT de l’esprit, bei mir sind es die Gänsefüßchen – es ist dasselbe.
Orient – das ist inzwischen das Synonym für Terror, Schrecken, Angst, Abscheu.



12 VALÉRY, Paul: Pour que ce nom produise à l’esprit de quelqu’un son plein et entier effet, il faut, sur toute chose, n’avoir jamais été dans la contrée mal déterminée qu’il désigne. Aus "Orientem versus", in: P. V., Regards sur le monde actuel et autres essais, Paris 1945, S. 133 (nach der digitalisierten Ausgabe der Universität von Quebec, 2004
Schon wieder verderben sie mir den Text. Tote und Verletzte in Paris, Geiselnahme usw. Die Medien, auch mein Deutschlandfunk, praktizieren den Ausnahmezustand. Terror, Schrecken, Angst, Abscheu.


Zu kurz kommt, dass heute der letzte Arbeitstag für diese Saison war. Seltsamerweise fehlt mir gerade die Euphorie.
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Sonntag,
8. November 2015
Die Highlights der vergangenen Woche:


Mittwochabend in Herrenberg: Ich sitze in einem chinesischen Restaurant, das Essen ist angemessen scharf, und ich bestelle das zweite große Glas Mineralwasser. Die sehr kompetente, energische Kellnerin bringt das Wasser, wirft einen Blick auf meinen Teller und sagt: "Langsamer essen!"



Donnerstag, ein ganz stiller, sonniger Tag. Ich habe zwischen den Terminen Zeit, einen langsamen Spaziergang zur Wurmlinger Kapelle hinauf zu machen. Ein weiter Blick übers Land, hoch überm Neckartal. Und auf einmal überfällt mich eine Einsamkeit, wie ich sie sehr selten erlebe.
Blick von der Wurmlinger Kapelle
Wurmlinger Kapelle
Freitag: zurück durch den Schwarzwald, und ich spüre eine Liebe zu den Bauern.
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Montag,
2. November 2015
Nichts stärkt die Konzentration so sehr wie die Nachricht, dass man in wenigen Tagen hingerichtet wird.

Samuel Johnson (1709 – 1784)




Habe mich gestern bei der Arbeit am Buch meiner Freunde ein paar Stunden lang außerordentlich konzentriert. Danach war der Blutdruck so, dass man ihn am besten mit Schwindel erregend charakterisiert (bis über 200, wie übrigens auch heute morgen).

Es scheint mysteriöse Zusammenhänge zwischen der Konzentration und dem eigenen Ableben zu geben.
Samuel Johnson, 1709 – 1784
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Donnerstag,
29. Oktober 2015
Wenn der Alltag dir arm erscheint, klage dich an, dass du nicht stark genug bist, seine Reichtümer zu rufen, denn für den Schaffenden gibt es keine Armut.

Rainer Maria Rilke
Rainer Maria Rilke
Es ist schwer, dem allgegenwärtigen Input auszuweichen. Bin ich aufmerksam, merke ich wenigstens, wie ich zum Nachrichtenjunkie werde, zum Radiojunkie. Ohne Fernseher zu leben, ist ein Segen, sonst wäre alles noch viel schlimmer. Der Alltag wäre nicht nur arm, sondern ein Müllhaufen. Wie kann einer da zum Schaffenden werden.
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Sonntag,
25. Oktober 2015
Entdeckung: Blütenstaubwirtschaft. Den gleichnamigen Artikel in info3 von Georg Hasler (der Ausschnitte aus seinem Buch11 bringt), möchte ich verbreiten. Hier ein Auszug:

Menschen sind das, was Automaten nicht sind

Seit Urzeiten steht die menschliche Arbeitsleistung als fester Anker im allgemeinen Wertgefüge. Auf ihrer Grundlage können alle Preise berechnet und verglichen werden, auch wenn sie mehr und mehr von Maschinen erledigt wird. Das funktioniert zu Beginn eines Industrialisierungsprozesses recht gut. Man kann fragen, wie viel menschliche Arbeit diese oder jene Maschine einspart und wie sich dadurch die Lohnstückkosten verändern. Damit setzt eine Dynamik ein, die sich selbst beschleunigt. Sobald die ersten Maschinen gegen die Menschen gewinnen und die Arbeit schneller und günstiger machen, bleibt den frei gewordenen Arbeitskräften, weil sie noch immer lohnabhängig sind, nichts anderes übrig, als weitere Maschinen zu bauen. Das geht so weiter bis zu dem Tag, an dem sie eine Maschine herstellen, die selbst wiederum Maschinen herstellt. Jetzt sind theoretisch alle Arbeiter von der Plackerei befreit. Einige von ihnen sind mit der hochinteressanten Planung dieser Automatisierungsprozesse beschäftigt. Die übrigen Arbeiter könnten etwas anderes tun oder den Blick aufs Blumenfeld genießen. Weil sie aber weder am Eigentum noch an der Organisation der neuen Automaten beteiligt sind, fehlt ihnen das Anrecht auf deren Ertrag, und das bringt sie in Existenznot.

Diese Not ist so alt wie die Industrialisierung. Die Maschinenstürmer wollten schon vor zweihundert Jahren das Problem durch die Zerstörung der Maschinen aus der Welt schaffen, und hundert Jahre später erkannte auch Henry Ford, dass er von seinem Maschinenertrag wieder so viel an seine Arbeiter verteilen musste, dass sie sich selbst aus ihrem Lohn auch die Produkte kaufen konnten, womit das prinzipielle Problem nicht gelöst, aber noch längere Zeit aufgeschoben werden konnte. Einen weiteren Aufschub erhielt das Problem dadurch, dass die durch Maschinen wegrationalisierten Arbeitsplätze teilweise ersetzt wurden durch Kopfarbeitsplätze. Aber genau so, wie die meisten Muskelarbeitsplätze durch die Mechanisierung aufgelöst wurden, werden in den nächsten fünfzig Jahren die meisten Kopfarbeitsplätze durch die Digitalisierung überflüssig. Denn jede Kopfleistung, welche nicht mehr tut, als nach bereits bekannten Verfahren bereits bekanntes Wissen zu verarbeiten, wird ersetzt werden. Und wenn wir ehrlich sind, leisten wir in den allermeisten Fällen nicht viel mehr als das. Mit Blick auf die Fähigkeit von maschinellen Übersetzerprogrammen, welche nach zehn Jahren immer noch jämmerlich-lustige Sätze produzieren, könnte man daran zweifeln. Es ist aber Tatsache, dass sich die Leistung der Digitaltechnik exponentiell entwickelt und wir gerade erst am Anfang stehen. Was sich daraus in den nächsten vierzig Jahren entwickeln wird, können wir uns kaum vorstellen, obwohl es uns unmittelbar bevorsteht.

Angenommen, eines Tages würde alle physische und geistige Arbeit durch Vollautomaten geleistet, dann würde alles Geld wie bei einem Riesenmagneten bei diesen Vollautomaten landen, und ganz schnell würde alles Wirtschaften zum Erliegen kommen, weil gar kein Geld mehr bei den Menschen ankommt. Alles Geld wäre eingefangen auf der Investitions- und Renditeebene der Maschinenwelt und müsste deshalb so schnell wie möglich wieder durch Sozialbeiträge oder Konsumverschuldung verteilt werden, damit sich die Produkte des Vollautomaten verkaufen lassen. Ansonsten bricht die Bilanz zusammen, denn schließlich besteht der Wert einer Anlage aus der Rendite, und diese besteht aus den Verkäufen an die Konsumenten.

Die doppelte Buchführung ist durch die Automaten auseinandergefallen. Maschinen produzieren, Menschen konsumieren. Investitionen rentieren sich, Konsumenten sind verschuldet. Anstatt die Erträge der Maschinen in den Konsurnkreislaufzu verteilen, wird versucht, aus Menschen Investitionsgüter zu machen. Jeder soll selbst auch ein bisschen eine produzierende Maschine werden, indem er Kredit aufnimmt und in seine Ausbildung investiert, um schließlich Rendite abzuwerfen. Aber das funktioniert nicht. Der Mensch ist keine programmierbare Maschine, und im Gegensatz zur definierbaren Maschinenarbeit gibt es bei der menschlichen Arbeit eine unlösbare Frage, nämlich den Preis für ihre Leistung.

Wenn alles Determinierbare automatisiert ist, bleibt dem Menschen das Unberechenbare. Das, wovon zu Beginn der Arbeit noch nicht klar ist, was später das Produkt sein wird. Und damit lässt sich weder richtig Handel treiben noch lassen sich Investitionen und Erträge planen. Wie hoch ist der Preis für eine Idee? Entspricht der Preis den Lebenskosten des Erfinders, bis er die nächste Idee hat? Was passiert, wenn es gar keine so gute Idee gewesen ist? Oder, falls es eine sehr nützliche Idee gewesen ist:

Entspricht der Preis dem Gewinn, welcher durch diese Idee realisiert werden kann? Wie werden bei einer Idee die Vorleistungen, also die gesamten kulturellen Voraussetzungen, welche die Idee erst ermöglichten, verrechnet? Und vor allem: Wie und an wen soll die Idee dann verkauft werden? Wie wir gesehen haben, können Ideen nicht in Flaschen gefüllt und einzeln verkauft werden, denn kaum sind sie geboren, kann sie im Prinzip jeder nutzen. Wie hoch ist der Preis für die Landschaftspflege, für die Erziehung oder für die Therapie eines Patienten? Entspricht dieser Preis der zukünftigen Mehrleistung des Genesenen? Wer bezahlt an wen, falls er stirbt? Und wann können die Früchte der Erziehung geerntet und verrechnet werden? Wer gibt bis dahin Kredit, und an wen verkauft man die fertig erzogenen Kinder, um den Kredit zurückzuzahlen?


11 Das Goetheanum, Nr. 43/2015, S. 8
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Befindlichkeiten:

Morgens, mittags und abends je zehn Tropfen Primula Auro culta D3 und Arnica/Betula comp. Dreimal wöchentlich eine Ampulle Cuprum aceticum comp., morgens die Leber mit Stannum metallicum einreiben und für die knackenden und schmerzenden Gelenke morgens und abends Arnica comp./Formica.

Wunderbar.

Alles tausendmal lieber als Ramipril & Co.
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Freitag,
23. Oktober 2015
Flüchtlinge (3):

Latrinenparolen eines Bürgers dieses "großartigen Volks". Im Bild ein Fundstück aus einer Autobahntoilette, heute an der A5, frisch und anonym an die Wand über der Schüssel geklebt.

Wir sind das Volk? Wir sind vielleicht ein Volk!

Ein ganz Mutiger äußert seine freie Meinung
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Dienstag,
20. Oktober 2015




Ausschnitt Nr. 4 aus dem Novembersommer: Mack erinnert sich an seine Fahrt entlang der Côte d’Azur in den achtziger Jahren.

Damals war ich froh, dass ich unterwegs war ohne irgendwo ankommen zu müssen, und damit meinte ich nicht bloß die Autofahrt nach Spanien. Ich bummelte langsam die Côte d’Azur runter Richtung Westen, stieg ab und zu aus, schaute mir die Villen der Reichen an und langweilte mich kolossal. Irgendwann kam die Montagne St-Victoire in Sicht, Handkes Buch war gerade erschienen, über der Hochebene des Philosophen war die Luft von jenem besonders frischen Blau, mit dem Cézanne den Bereich so oft gemalt hat. Über die Bergwand flogen die Wolkenschatten, als würden da immerzu Vorhänge gezogen; und endlich (früher Sonnenuntergang der Dezembermitte) stand das ganze Massiv ruhig im Gelbglanz, wie gläsern, ohne doch, wie ein anderer Berg, die Heimkehr zu verwehren. – Und ich spürte die Struktur all dieser Dinge in mir, als mein Rüstzeug. TRIUMPH! dachte ich – als sei das Ganze schon glücklich geschrieben. Und ich lachte.9 Der hat gut lachen, ich fand wenig, worüber ich hätte lachen können, hatte weder Struktur noch Rüstzeug in mir, über die Bergwand wurden keine Wolkenvorhänge gezogen und das Blau war alles andere als frisch. Nichts war geschrieben (schon gar nicht glücklich) und es war auch – leider – noch nicht Dezembermitte. Rilke, den ich zu jener Zeit nur oberflächlich kannte, wäre mir näher gewesen: Ich glaube, ich müsste anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.10 Nun, ich war auch achtundzwanzig, dachte, ich hätte längst sehen gelernt, und dass nichts geschehen war, wollte ich partout nicht zugeben. (Jetzt, da ich aufs Alter zugehe und mir die Zeit ganz anders als in der Jugend verrinnt, ist das Geschehen wieder Thema: wenn jetzt nichts geschieht, ist das um vieles ernster, wer jetzt kein Haus hat und so fort.)
9 HANDKE, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt am Main 1984, S. 91


10 s. unten, Anmerkung 2
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Montag,
19. Oktober 2015
Altwerden ist nichts für Feiglinge – behauptet ein verbreiteter Postkartenspruch. Ich frage mich, was macht denn dann so ein Feigling? Der wird doch auch alt!



Danke, Hannah!
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Samstag,
17. Oktober 2015
Eigentlich wollte ich so beginnen:
Die guten Nachrichten nehmen kein Ende: Die Fußball-WM in Deutschland ist gekauft worden! Federführend bei der Bewerbung war Franz Beckenbauer. Der Kaiser! Die WM, bei der Deutschland sich in neu entdecktem Nationalstolz als ein glückliches Land produzieren durfte – alles gekauft! Großartig! Dabei heißt es doch immer, mit Geld könne man nicht alles kaufen. Aber was eine echte BRD (Bananenrepublik Deutschland) sein will, macht’s eben möglich.

Die Nachrichten des heutigen Tages machen aber, dass einem der Jubel im Hals stecken bleibt. OB-Kandidatin in Köln auf der Straße niedergestochen. Ja, wo sind wir denn? Bananenrepublik reicht da weitem nicht mehr als Titel. Henriette Reker, morgen gewinnen Sie die Wahl. Aber erst mal alles Gute für Ihre Genesung.



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Freitag,
16. Oktober 2015
Flüchtlinge (2):

Ein Auszug aus dem Artikel Deutschkurse reichen nicht von Laura Krautkrämer in info3 8: (Die Autorin zitiert den Sonderpädagogen und Leiter des waldorfpädagogischen Zentrums Karlsruhe, Bernd Ruf):

"Man sieht, die Menschen wollen helfen, aber viele gehen unglaublich naiv an diese Aufgabe heran", gibt er zu bedenken. "Mit traumatisierten Menschen naiv umzugehen, das geht selten gut, viele Helfer werden ganz schnell frustriert sein. Wenn sich die traumatische Erstarrung der Flüchtlinge löst, wird die Lage erst einmal schwieriger. Solange man eingefroren ist, funktioniert man einfach. Wenn die Jugendlichen sich jedoch sicherer fühlen, treten Probleme wie Lernstörungen, komplexe Sozialstörungen oder Aggressionen auf." Während die depressiven Phasen eher übersehen werden, sorgen die aggressiven für handfeste Probleme – insofern ist die traumapädagogische Arbeit in zweifacher Hinsicht wichtig: Für die individuell Betroffenen, aber auch für den gesellschaftlichen Integrationsprozess. "Jeder Jugendliche, der sich aufgrund seines Traumas vom Opfer zum Täter wandelt, ist eine Belastung für die gesellschaftliche Akzeptanz der Flüchtlinge", gibt Ruf zu bedenken.



8 Info3, Oktober 2015, S. 38
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Mittwoch,
14. Oktober 2015
Schalte das Radio ein, Deutschlandfunk: eine Literaturlesung ist im Gang. Gleich fasziniert mich die Sprache: Wie kann jemand heute so schreiben – es könnte ein Novelle des 19. Jahrhunderts sein, was ich da höre. Ich fühle mich dem Stil sehr nah, er macht mir Mut, schließlich habe ich schon gehört, dass ich "altmodisch" schreibe (wenn auch mit dem Zusatz "angenehm"). Von fern fühle ich mich an ein im Selbstverlag (BoD) erschienenes Buch erinnert: Orbasils Stück von Christian Maurer.

Der Text im Radio erzählt von einer Begegnung. Nach und nach erfahre ich mehr: der Autor ist Dieter Wellershoff. Schnell Wikipedia konsultiert: D. W. ist fast neunzig. Die Stimme klingt um so vieles jünger, unglaublich.

Schließlich die Auflösung: Ich höre eine Lesung, die Wellershoff im Jahr 1979 gehalten hat, aus seiner Novelle Die Sirene.



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Ausschnitt Nr. 3 aus dem Novembersommer: Mack, der Erzähler, erfährt von Josef, der in einen südfranzösischen Bergdorf lebt, einige Dinge über das frühere Leben in diesem Ort.

Ich hörte Josef zu, wie er die Menschen, die hier früher gelebt haben, auferstehen ließ, erfuhr, was sie alles aus dem Holz der Kastanie gemacht hatten – Balken, Bretter, Möbel und natürlich Brennholz (von Josefs Handwerkskunst wusste ich noch nichts) –, dass der Baum für sie die eigentliche Lebensgrundlage gewesen war, dass sie die geernteten Früchte über einem Schwelfeuer getrocknet hatten (siehst du die kleine Ruine dort zwischen den Bäumen, das war mal ein sécadou, da haben sie ihre Ernte haltbar gemacht, eine ganze Woche hat das gedauert, und es war der Job der Jugend, aufs Feuer aufzupassen, damit es nicht ausgeht. Auch nachts. War gleich eine Art Heiratsmarkt), dass man die Kastanien zu Mehl mahlen und zu Mus verkochen konnte und die kleinen als Schweinefutter genommen hatte (unten im Keller hatten sie meistens eine Ecke für die Sau, das war gleichzeitig das Familienklo, wenn′s Wetter schlecht war), dass die getrockneten Früchte früher auch ein Handelsartikel gewesen waren, dass man die Blätter, die man im Sommer ausgeschnitten hatte, im Winter den Schafen verfüttert hatte, dass es die Maronen hier schon vor den Römern gegeben hatte (keine Ahnung, woher er das nahm), dass die Blüten einen wunderbaren bitterherben Honig ergaben … nach einer Stunde wusste ich alles, was es über Edelkastanien zu wissen gab.

"Aber das bessere Brennholz geben doch die Eschen, die stehen hier überall rum", und er machte mich auf sie aufmerksam. Ein besonders großes, freistehendes Exemplar hob sich markant gegen den Himmel ab, nicht weit von den Traubeneichen. "Da, schau mal", sagte er, "ist das nicht ein wahrer Weltenbaum?", und ich wunderte mich, wie er einen Begriff wie Weltenbaum in einem Atemzug mit Brennholz verbinden konnte.

"Ist eben wichtig. Wenn du mal im Winter herkommst, wirst du das schon noch sehen. Am allerbesten brennen natürlich die Eichen." Die Traubeneichen.

"Ja, oder die Flaumeichen hier auf dieser Seite. Eichen, das ist was ganz anderes als Kastanien, die sind von ganz anderem Schlag. Ich glaub auch nicht, dass man sie hier angepflanzt hat. Sie wachsen wild, wie die Eschen, und meistens oberhalb der Kastanien oder da, wo man keine Terrassen bauen konnte. Kennst du Hölderlin?"

Ich schaute ihn groß an.

"Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich, das von Liebe nicht lässt, wie gern würd′ ich zum Eichbaum." 7
7 HÖLDERLIN, Friedrich: Die Eichbäume, in: Gedichte, Wien – Leipzig 1944, S. 12
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Montag,
12. Oktober 2015
Herbst vor dem Fenster (MEIN Herbst)



Erntezeit
Vor dem Balkon
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Sonntag,
11. Oktober 2015
Dem unten erwähnten Märchenprinzsyndrom folgte die Frage nach dem Woher dieser – sehr weit verbreiteten – Erscheinung. Ein jeder geht mit seinen eigenen Träumen ins Leben, und die Hartnäckigkeit, mit der man an diesen Träumen festhält, wird zu je eigenen Erfahrungen führen: je spezieller, individueller der Traum, desto mehr wächst die Gefahr von Enttäuschungen und Einsamkeit. Keiner versteht mich. Ich bin anders als alle anderen.

Diese Empfindung gibt es in zwei Varianten:
– erstens, das ist gut so.
– zweitens, das ist ein Grund zum Verzeifeln.

Je größer das Selbstbewusstsein, mit dem man Leben und Träume miteinander konfrontiert, desto eher wird man die erste Variante erleben.

Aber Träume sind doch immer individuell.

Genau deshalb ist auch jeder allein

Aber, dachte ich, es muss einen Ausweg geben.




Die Ersatzhandlung spielt ihre Reize aus: Ein Buch zu lektorieren, dazu Satz und Umbruch zu gestalten, ist faszinierend. Und schön. Und festigt Freundschaften.



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Samstag,
10. Oktober 2015
Zwischendurch Angenehmes vom Job:

1.) Noch einen Monat, dann begebe ich mich in den Winterschlaf.

2.) Gelegentlich kann ich an wunderbaren Orten arbeiten und übernachten:



Blick vom Frühstückstisch: Sonnenaufgang über dem Bodensee.
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Sonntag,
4. Oktober 2015
Das Ausgangsmotiv, über das ich im Novembersommer schreiben wollte, war das Märchenprinz-Syndrom, das manche Menschen bei der Partnersuche entwickeln, und die damit verbundene Blindheit für das wahre Wesen des anderen. Mein Paar trägt die Namen Hella und Josef.
Am nächsten Tag ging ich zu Josef und wollte wissen, wieso nichts mehr gut war. "Wieso habt ihr euch getrennt?"

"Wir haben uns nicht getrennt!", wies er mich in scharfem Ton zurecht. Ich kannte den Ton, heiliger Zorn im Anzug, Vorsicht!

"Ich hab Schluss mit ihr gemacht. Und wenn du wissen willst, warum: weil, ich drücke es mal neutral aus, unsere Vorstellungen von einer Beziehung haben sich nicht unter einen Hut bringen lassen."

"Und wenn du es weniger neutral und weniger geschraubt ausdrückst?"

Aus seinen grauen Augen spritzte das Gift. "Weil ich keine Lust habe, mich zu einem asexuellen Kleinkind zurückzuentwickeln, bloß damit sie ihre Sandkastenbeziehung ausleben kann! Soll sie doch mit anderen ihre Spiele treiben und sich durchs Leben lügen! Weißt du was? Hella ist ein Monster! Ich hab genug von ihren Macken und davon, dass ich mir immer wieder an derselben Wand einen blutigen Kopf hole! Mein Gott, sie ist jetzt über vierzig, und ich kann doch erwarten, dass sie sich wenigstens wie eine Dreißigjährige benimmt! Sie hat sich einen Traumprinzen in ihren infantilen Trotzkopf gesetzt, in schimmernder Rüstung und auf hohem Ross, und lässt mich spüren, dass ich das nicht bin. Sie bemitleidet mich, wenn ich ihr sage, dass ich sie liebe, weil sie das für ein Gebrechen hält, und wenn ich ihr sage, dass ich mit ihr glücklich bin, dann nennt sie das Abhängigkeit! Die hat doch einen Vogel! Vernagelt, wie sie ist, sieht sie überhaupt nicht, dass sie es ist, der was fehlt und dass sie überhaupt nicht in der Lage ist, Glück zu empfinden oder irgendjemanden zu lieben! Sich selber am allerwenigsten! Ich weiß, warum sie vor mir nie einen festen Freund gehabt hat: weil sie nie aus ihrer bescheuerten Teenievorstellung von der großen Liebe, die plötzlich vom Himmel runterfällt, herausgewachsen ist und jeden, der ihr über den Weg läuft, mit ihren kindischen Maßstäben misst. Sie hat sich ein Bild von Beziehungen zusammengestrickt, das mit der Realität nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Sie will allem ihre Schablone aufdrücken und beschwert sich dann, wenn das wirkliche Leben nicht reinpasst!"

Er redete sich in Rage: "Sich überall nur die Sahne runterschlecken wollen, wo gibt’s denn sowas! Wenn sie mich will, dann ganz! Bitte, soll sie weiter nach ihrem Prinzen suchen! Da wird sie zwar noch ein paar Männer verschleißen, aber dafür braucht sie sich nicht von ihren Phantasien zu trennen. Und sie hat’s sowieso viel spannender: da kann sie immer wieder hoffen, dass der nächste der Richtige ist und kann die alten Bilder auf ein neues Opfer projizieren. Ist doch prima! Von mir aus kann sie ihr ganzes Leben mit der Suche nach ihrem Paradies verplempern! Ohne mich! Du weißt, was ich vom Paradies halte."

Nie vorher und nie mehr nachher hatte ich Josef so erlebt. Er beruhigte sich überhaupt nicht mehr. "Sie steckt voller Ideologie und Rechthaberei! Sie nimmt Liebe und Beziehung im wirklichen Leben überhaupt nicht mehr wahr! Stur kehrt sie alles, was damit zusammenhängt, unter den Teppich, damit sie dann umso heftiger drauf rumtrampeln kann!"

Er tobte.

"Träum weiter!, sagt sie zu mir, wenn ich ihr erkläre, wie sie sich selber ihr Glück oder Unglück schafft, wie sie sich mit ihrem Rückzug das Leben und die Liebe verpfuscht. Sie selber schafft doch vor lauter Angst, die Initiative zu ergreifen, das, worüber sie sich beklagt. Sie nimmt alles, was ihr begegnet, als unveränderbar hin und macht so alle Entwicklung unmöglich. Sie liebt mich nicht, sagt sie und weiß überhaupt nicht, was das ist: Liebe. Die wird wohl eines fernen Tages über sie kommen, wenn der Prinz einreitet und sie auf sein Schloss entführt. Fragt sich, ob der dann so ein spätes Mädchen noch haben will. Aber Hauptsache, sie braucht nichts dafür zu tun. Träum weiter! Ausgerechnet Hella sagt das, die größte Träumerin, die mir in meinem ganzen Leben begegnet ist. Sie ist es doch, die in ihrer versponnenen Angst den großen Traum von der Erlösung träumt, anstatt sich endlich auf die Socken zu machen und ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Aber seit sie auf der Welt ist, tut sie nichts anderes als warten. Sie verbarrikadiert sich in ihrem selbstgestrickten Knast, hat den Schlüssel weggeschmissen und wartet, dass ihn draußen einer findet. Und drinnen sitzt sie in ihrem Stühlchen", – er äffte jetzt das Herleiern eines Kindergedichts nach, in seinen Mundwinkeln sammelte sich Schaum – "schneidet Speck und wer sie lieb hat, holt sie weg! Unglaublich! Unselbständig ist sie und verantwortungslos! Und geschlechtslos obendrein!"

Hella lauere nur darauf, so Josef erschöpft, als sein Ausbruch schließlich ans Ende fand, dass ihr einer über den Weg laufe, der noch bekloppter sei als sie, damit sie ihn als Spiegel für ihre narzisstische Selbstgerechtigkeit missbrauchen könne. "Nicht mit mir!"

Ich spürte eine riesengroße Erleichterung – und durfte sie unter keinen Umständen zeigen. Das Projekt (und mit ihm mein Versagen) war gestorben. Eigentlich hätte ich nach Hause fahren können. "Du hast vollkommen recht gehabt", sagte er noch, "was sie braucht, ist eine Krise. Jetzt hat sie eine! Hoffentlich."


Mit Interesse beobachte ich, wie die Qualität dieses Textes mit dem Vergehen der Zeit nachlässt (daher erlaube ich mir Nachbesserungen). Der eigene Blickpunkt wandert immer weiter nach außen: je weiter, desto "objektiver" (wissend, dass es keine Objektivität gibt).

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Samstag,
3. Oktober 2015
Tag der deutschen Einheit. Kein überflüssiger Kommentar an dieser Stelle.
Aber zum Flüchtlingsthema bringt der Schweizer Postillon einen schönen Beitrag.

Auch mein Dorf feiert ein Oktoberfest auf seine Art: Den einst sinnvollen Brauch des festlichen Almabtriebs, der aus jener untergegangenen Zeit stammt, als die Landwirtschaft die Grundlage allen Wirtschaftens und aller Kultur war, und jeder Mensch um ihre fundamentale Bedeutung für das eigene Leben wusste, diesen Brauch hat man als Karikatur über die Jahrhunderte gerettet: ein Spektakel, Event für Jung und Alt, und ein Tage und Nächte füllendes Trinkgelage. Großartig.
Ich konnte beim Spaziergang durch die liebreizende Landschaft, in der ich lebe, von weit oben auf die Gaudi hinunterschauen und mich an der Stille in der Höhe freuen.


Ganz am linken Bildrand steppt der Bär im weißen Bierzelt. Er ist aus der Entfernung zum Glück kaum zu erkennen.
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Sonntag,
27. September 2015
Ich werde gelegentlich kleine Ausschnitte des abgelehnten Romanmanuskripts hier veröffentlichen. Jehr größer der zeitliche Abstand wird, desto verbesserungswürdiger kommt mir der Text vor. Das ist wohl normal. Ich glaube aber, dass es gute Passagen gibt. Hier erst mal der Anfang. Der Arbeitstitel ist: Novembersommer.

Das geht überhaupt nicht! Wenn Menschen einen Ort besiedeln, müssen sie sich mit seinen Elementen, wie sie von alters her die Welt formen, auseinandersetzen: Erde, Wasser, Luft und Feuer … Josef, das kannst du nicht bringen. So kannst du dein Buch nicht anfangen … im Einverständnis mit den elementaren Kräften, die immer schon lange vor den Menschen einen Ort beleben und so weiter, mein Gott, ist das ein Geschwafel, das liest doch kein Mensch.


Im Kino gewesen. Nein, nicht geweint, aber doch beeindruckt gewesen: Christian Labharts Film über den italienisch-schweizerischen Maler Giovanni Segantini (1858 - 1899). Titel: Giovanni Segantini - Magie des Lichts.

Wie van Gogh, an dessen Bilder Segantinis Malweise teilweise erinnert, ist das Licht der den Künstler umgebenden Landschaft ein wesentliches Element der Bilder. Ist es bei van Gogh das Licht der Provence, das aus den Gemälden leuchtet, so ist es bei Segantini das der Schweizer Alpen. Oft liegt über den Szenen auch etwas Düsteres, Segantinis Zeit ist auch die des Symbolismus. Artikel und Bilder bei Wikipedia.
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Freitag,
25. September 2015
Vorgestern Herbstanfang. Der Herbst ist MEINE Zeit. Der Sommer ist – wenigstens, soweit ich zurückdenken kann – nie meine Zeit gewesen. Zu heiß, zu laut, zu viele Menschen überall, die das "schöne Wetter" so toll finden. Wenn’s zu kalt ist, kann ich einheizen, wenn’s zu heiß ist, kann ich die Sonne nicht abstellen. In diesem Sinn war der vergangene Sommer eine persönliche Katastrophe. Und: für mich geht im Herbst die Saison zu Ende, in der ich der Erwerbsarbeit nachlaufen muss.
Außerdem höre ich von verschiedenen Seiten, dass die Menschen diejenige Jahreszeit am meisten lieben, in der sie geboren sind. Also.

Vor anderthalb Jahren habe ich in Auszügen das Manuskript eines Romans an siebenundzwanzig Verlage geschickt. Von siebzehn Verlagen kamen Absagen, vier davon in freundlichem und persönlichem Ton (ohne auf den Inhalt einzugehen), drei von ihnen mit inhaltlicher Begründung, das heißt, sie hatten das Manuskript gelesen. Von zwei Verlagen kamen Eingangsbestätigungen mit dem Zusatz: Sollten Sie innerhalb von drei Monaten (bzw. zehn Wochen) nichts von uns gehört haben, betrachten Sie dies (bzw. betrachten Sie dies bitte – das war die freundliche Variante) als eine Absage. Der Rest ließ NICHTS von sich hören.

Mit der Kritik der drei konnte ich etwas anfangen und wollte mich im Winter 2014/15 daran machen, den Text noch einmal gründlich umzuschreiben. Leider bin ich damit gescheitert. Es scheint unmöglich zu sein, ein fertiges Werk noch einmal völlig neu zu konzipieren.
Seither leide ich an diesem verfluchten Zustand, der mich überhaupt erst in die Lage versetzt hat, einen neuen Anfang suchen zu müssen.
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Donnerstag,
24. September 2015
Der dienende Job des Büchermachens für andere. Wieder ein Auftrag, ein Sachbuch erstellen zu helfen, wieder aus dem Zusammenhang der biologisch-dynamischen Pflanzenzüchtung, wie schon einmal. Ich diene gern, wirklich, aber es bleibt eine Ersatzhandlung.



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Montag,
21. September 2015
Auf welche Art des Inputs kann verzichtet werden? Lesen? Ausgeschlossen. Radiohören? Sehr schwer. Surfen im Internet? (das oft wie nebenbei geschieht, ungezielt, wie unabsichtlich) Das geht noch am ehesten.

Die Verstopfung von Kopf und Herz muss sich auflösen, es braucht eine Art mentales Abflussfrei, ein Asthmaspray für die Gehirngänge.



Zu den manipulierten Abgaswerten bei VW:
Es ist beinahe erfrischend, so deutlich vorgeführt zu bekommen, in welcher Schicht unserer Gesellschaft die wirklich Asozialen und Kriminellen ihr Unwesen treiben.
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Sonntag,
20. September 2015
Sonntagsblogger. Das ist nicht beabsichtigt und soll nicht so bleiben.

Seit einem Dreivierteljahr plagt mich das Asthma. Asthma, so beschreibt es Rüdiger Dahlke, sei ein Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen: Der Asthmatiker will alles behalten und vergiftet sich dadurch selbst, da er das Verbrauchte nicht mehr hergeben kann. Dieses Nehmen ohne Geben führt buchstäblich zum Erstickungsgefühl.5

Ich hatte diese Zeilen schon einmal gelesen, vor über zehn Jahren, als ich zum ersten Mal asthmaartige Beschwerden spürte, und war mir sicher: diese Interpretation kann nichts mit mir zu tun haben: Nichts hergeben wollen? Alles selber behalten? Ich doch nicht.

Mir fällt ein, dass ich etwas Ähnliches vor einiger Zeit ins Tagebuch geschrieben habe: Ein ganzes Leben nur Input, nur Aufnehmen, Lernen, Lesen, Hören, Sehen von früh bis spät. Ich habe damit gemeint, dass ich seit Längerem meine Tage damit verbringe, alles Mögliche in mich hineinzuschaufeln, Radiosendungen, Bücher, Zeitschriften etc., wie der Asthmatiker die Luft in sich hineinschaufelt, bis er beinahe platzt. Und ich finde kein Ventil, keinen Hahn, den ich öffnen könnte, damit auch wieder etwas hinaus kann.

Der Zusammenhang ist offensichtlich geworden.

Dahlke schreibt weiter:
So hat die asthmatische Enge ebenfalls viel mit Angst zu tun, mit der Angst vor dem Hereinlassen bestimmter Lebensbereiche [...]. Das Abschließen-Wollen geht beim Asthmatiker immer weiter, bis es letztlich seinen Höhepunkt im Tod findet. Der Tod ist die letzte Möglichkeit, zuzumachen, sich abzuschließen, abzukapseln vom Lebendigen ...

Worüber denke, rede und schreibe ich denn seit einem Jahr oder mehr: über wenig anderes als meinen Tod.

Ob alle Asthmatiker wie ich die Angst vor dem Tod verloren haben?



5 DETHLEFSEN, Thorwald u. DAHLKE, Ruediger: Krankheit als Weg, München 2000, S. 163 ff.
(Erweitertes Zitat: Der Atemfluss wird beim Asthmatiker gerade dadurch unterbrochen, weil er zu sehr ans Nehmen denkt und sich hierin übernimmt. Nun kann er nicht mehr hergeben und dadurch auf einmal auch nicht mehr neu nehmen von dem, was er so gerne hätte. [...] Der Asthmaktiker will alles behalten und vergiftet sich dadurch selbst, da er das Verbrauchte nicht mehr hergeben kann. Dieses Nehmen ohne Geben führt buchstäblich zum Erstickungsgefühl.
Das Missverhältnis zwischen Nehmen und Geben, das sich im Asthma so eindrucksvoll somatisiert, ist ein lohnendes Thema für viele Menschen. Es klingt so einfach, und doch scheitern viele an diesem Punkt. Dabei kommt es nicht darauf an, was man haben will – sei es Geld, Ruhm, Wissen, Weisheit –, in jedem Fall muss das Nehmen und Geben im Gleichgewicht sein, will man nicht am Genommenen ersticken. Der Mensch bekommt in dem Maße, wie er weitergibt.
)
Zu den Flüchtlingen (1):

Ich habe noch den Klang des Wortes Flüchtling im Ohr, wie es in meinem Umfeld im Nachkriegsdeutschland gesprochen wurde: d' Flichtling'. Es meinte die deutschen Vertriebenen aus dem verlorenen Osten, und das Wort klang nicht wie ein freundliches Willkommen. Die Integration der Flüchtlinge nach dem Krieg geschah weithin mit Zähneknirschen. Die Angst, dass die Ankömmlinge einem das Wenige, das man über den Krieg gerettet hatte, wegnehmen würden, hatte im zerstörten Land einen sehr viel realistischeren Hintergrund als heute im Überflussdeutschland. Man muss die Eingliederung nicht nur als großartige Leistung der Deutschen hinstellen – sie wurde dies erst nach ihrem Gelingen, sehr viele Jahre später, nachdem eine neue Generation herangewachsen war. Bis es aber so weit war, hatten die Vertriebenen aus Ostpreußen oder dem Sudetenland kaum einen besseren Status als heute diejenigen aus Syrien oder Afghanistan.

Der Autor Daniel Baumgartner schreibt im Goetheanum:
Der Flüchtlingsstrom ist ein zusammengedrängter Geschichtsstrom. Die Flüchtlingsbewegungen sind nicht nur Bewegungen von Menschenmassen durch den Raum, sondern auch Bewegungen der Zeit selbst. Die Flüchtlinge sind nicht nur bedauernswerte Objekte einer unmenschlichen weltwirtschaftspolitischen Situation, sie sind auch zu Subjekten der Geschichte und ihrer Aufhebung geworden. Sie transferieren auf ihren Booten die in der Vergangenheit gewordene Inhumanität der Wohlstandsgesellschaften in ihre – unsere – Gegenwart. Unsere Wohlstandsgegenwart erhält mit den Flüchtlingen ihre Vergangenheit. Flüchtlinge sind das Karma des Kapitalismus und der Globalisierung.6
6 BAUMGARTNER, Daniel: Wir alle sind Flüchtlinge, in: Das Goetheanum, Nr. 28/2015, S. 6
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Sonntag,
13. September 2015
Anfang. Man müsste einen Anfang setzen.

Man muss einen Anfang setzen.

Der Wechsel vom Konjunktiv zum Indikativ bedeutet den Anfang.

(Ich frage mich, ob die Bezeichnung Konjunktiv an dieser Stelle korrekt ist, ich konsultiere den entsprechenden Wikipedia-Artikel und tauche eine halbe Stunde später verwirrt wieder daraus auf. Typisch.)

Ich muss einen Anfang setzen.

Noch wichtiger ist der Wechsel von der dritten zur ersten Person: Sag Ich, Freund. Sprich doch wirklich von dir selbst, Suchender, wenn es denn um dich selber geht. Du hättest so viel zu berichten.1
1 LAUDERT, Andreas: Ich sagen – Keine Rezension, in: Das Goetheanum, Nr. 28/2015 (Besprechung des Buches "Hieronymus – Über Kino und Liebe in Zeiten der Reinkarnation" von Reto Andrea Savoldelli)

Ein Anfang also.
Der Anfang ist nötig, da das Nichtstun und das Nichtserreichen mir unsäglich auf die Nerven gehen. Ich stehe an der Schwelle zum Greisenalter, denke an Rilke, der im Malte Laurids Brigge geklagt hat: Ich glaube, ich müsste anfangen, etwas zu arbeiten, jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und es ist so gut wie nichts geschehen.2 2 RILKE, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Werke in drei Bänden, Frankfurt am Main und Leipzig 1991, Bd. III, S. 123
Ich bin fast 68 und wenn jetzt nichts geschieht, ist das tödlich ernst: wer jetzt kein Haus hat und so weiter. Das Vergehen der Zeit bedrückt mich, deprimiert mich, ihr nahendes Ende lässt mich verzweifeln – einerseits. Auf der anderen Seite vertreibe ich sie, schlage sie tot. Ich sehe: nichts von den wenigen Schreibversuchen der letzten zwölf Monate taugt etwas. Überflüssiges Zeug, und das zu erkennen, lähmt immer mehr.

Aber: Seit ich die Medikamente gegen zu hohen Blutdruck abgesetzt habe, bin ich nicht mehr deprimiert. Dafür wächst der Ärger. Das lässt hoffen.
Soweit der Anfang.
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Der oben erwähnten Buchbesprechung (die er selbst allerdings mit der Überschrift Keine Rezension versehen hat), stellt der Autor ein Zitat von Peter Handke voraus: Aber ich habe auch bemerkt, dass es mir in der Literatur eben nicht um die Erfindung und nicht um die Phantasie geht. Die Phantasie scheint mir etwas Beliebiges, Unüberprüfbares, Privates zu sein. Sie lenkt ab, sie unterhält im besten Fall, ja weil sie nur unterhält, unterhält sie mich einmal mehr. Jede Geschichte lenkt mich von meiner Geschichte ab, sie lässt mich durch die Fiktion mich selber vergessen, sie macht mich weltvergessen. Wenn aber durch eine Geschichte eine Neuigkeit gesagt werden soll, dann scheint mir eben die Methode, dazu eine Geschichte zu erfinden, unbrauchbar geworden zu sein. Die Methode hat sich überlebt. Die Fiktion, die Erfindung eines Geschehens, als Vehikel zu meiner Information über die Welt ist nicht mehr nötig, sie hindert nur. Überhaupt scheint mir der Fortschritt der Literatur in einem allmählichen Entfernen von unnötigen Fiktionen zu bestehen. Immer mehr Vehikel fallen weg, die Geschichte wird unnötig, das Erfinden wird unnötig, es geht mehr um die Mitteilung von Erfahrungen, sprachlichen und nichtsprachlichen, und dazu ist es nicht mehr nötig, eine Geschichte zu erfinden. Mag sein, dass die Literatur so auf den ersten Blick ihre Unterhaltsamkeit einbüßt, weil keine Geschichte mehr die Eselsbrücke zum Leser schlägt: aber ich gehe dabei von mir selber aus, der ich als Leser mich weigere, diese Eselbrücken überhaupt noch zu betreten. Ich möchte gar nicht erst in die Geschichte ‚hineinkommen‘ müssen, ich brauche keine Verkleidung der Sätze mehr, es kommt mir auf jeden einzelnen Satz an.3 3 HANDKE, Peter: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms, Frankfurt am Main, 1972, S. 23 f.
Ich ahne, dass hier eine der Grundschwierigkeiten, die ich mit dem Schreiben habe, angesprochen ist (vor über vierzig Jahren, notabene). Das Stoff-Form-Problem rückt wieder näher: Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt, sagt Schiller4. Die Formfindung ist zentral beim Schreiben – darum muss sie auch thematisiert werden.

Immer muss die Umsetzung ins Künstlerische auf eine neue, eigene Sprache hinauslaufen, und wenn der Begriff des Romans nicht mehr passt und auch der des Sachbuchs nicht, dann muss eben etwas Neues her.

Das Neue aber ist das Schwere und gleichzeitig das absolut Notwendige.

I wrote the songs to perform the songs, sagt Bob Dylan in No Direction Home, dem Film, den Martin Scorsese 2005 über ihn gedreht hat, and I needed to sing them in a language which is a language that I hadn't heard before.

4 SCHILLER, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 22. Brief, Stuttgart 2008, S. 88 (Erweitertes Zitat: In einem wahrhaft schönen Kunstwerk soll der Inhalt nichts, die Form aber alles thun; denn durch die Form allein wird auf das Ganze des Menschen, durch den Inhalt hingegen nur auf einzelne Kräfte gewirkt. Der Inhalt, wie erhaben und weitumfassend er auch sey, wirkt also jederzeit einschränkend auf den Geist, und nur von der Form ist wahre ästhetische Freyheit zu erwarten. Darinn also besteht das eigentliche Kunstgeheimniß des Meisters, daß er den Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der Stoff an sich selbst ist, je eigenmächtiger derselbe mit seiner Wirkung sich vordrängt, oder je mehr der Betrachter geneigt ist, sich unmittelbar mit dem Stoff einzulassen, desto triumphirender ist die Kunst, welche jenen zurückzwingt und über diesen die Herrschaft behauptet. Das Gemüth des Zuschauers und Zuhörers muss völlig frey und unverletzt bleiben, es muss aus dem Zauberkreise des Künstlers rein und vollkommen, wie aus den Händen des Schöpfers gehn.)
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GANZ UNTEN – ENDE – ANFANG