Marek B. Majorek
Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand



         
         
Marek B. Majorek Objektivität: ein Erkenntnisideal auf dem Prüfstand Rudolf Steiners Geisteswissenschaft als ein Ausweg aus der Sackgasse A. Francke Verlag, Tübingen, 2002 517 Seiten
69,00 €
         
Ich habe mich immer gefragt, warum die Philosophie des 20. Jahrhunderts – die akademische, gleichsam "offizielle" Philosophie – Rudolf Steiner derart konsequent ignoriert. Da hebt einer das gesamte Lehrgebäude sämtlicher Natur- und Geisteswissenschaften aus den Angeln, bereichert nahezu alle Disziplinen um ungeahnte Dimensionen, wagt sich als erster in Bereiche, die vor ihm keiner mit diesem Anspruch betreten hatte – und was geschieht: man nimmt ihn einfach nicht zur Kenntnis. Wie ein Schmuddelkind, mit dem man lieber nichts zu tun hat, wird Steiner von den meisten Philosophen bis heute behandelt.

Bis heute? Dieser Zustand scheint vorbei zu sein. Der Philosoph Marek B. Majorek hat vor einem Jahr eine Dissertation an der Uni Basel vorgelegt mit der erklärten Absicht "...einen Beitrag dazu zu leisten, Rudolf Steiners Gedankengut in akademischen Kreisen ‘salonfähiger’ zu machen."

Weiter schreibt er in seinem Vorwort: "Es ist mir ein tiefes Rätsel, weshalb Rudolf Steiners kognitive Leistung von der akademischen Welt fast völlig ignoriert oder im besten Fall als Auswuchs eines seltsamen Sektierergeistes behandelt wird."

Majorek beginnt sein Werk mit einem Diskurs aller relevanten Beiträge der zeitgenössischen Philosophie zum Gegenstand "Objektivität" unter pointierter Herausarbeitung der Widersprüche und Unzulänglichkeiten, die dieser Begriff in sämtlichen zitierten Ansätzen in sich trägt. Auf diese Weise entsteht eine systematische Untersuchung dieses zentralen Begriffs aller Erkenntnissuche. Der Autor gibt eine umfassende Übersicht über die grundlegenden Inhalte der Lehre Rudolf Steiners und insbesondere seiner Methoden der übersinnlichen Erkenntnis.

Imagination, Inspiration und Intuition, die Stufen des anthroposophischen Erkenntniswegs, weisen der Wissenschaft den Weg – ein Jahrhundert, nachdem diese Stufen formuliert wurden. Majorek weist nach, dass dieser Weg als einziger in der Lage ist, die Widersprüche und Rätsel zu lösen, die die herkömmliche Philosophie in ihren unterschiedlichen Auffassungen von Objektivität produziert oder zumindest in Kauf nimmt.

Vielleicht sind wir über ein Jahrhundert, nachdem Dubois-Reymond seine "Ignorabimus"-Rede hielt ("Wir werden es nicht wissen": gemeint war der Bereich, den man von seiten der Naturwissenschaft gerne der Kirche zugeschoben hatte) ja endlich soweit, daß der Geist wieder in die Wissenschaften einziehen darf.

Natürlich ist es einigermaßen mühevoll, dieses Werk zu lesen, schließlich handelt es sich um eine Doktorarbeit (da derartige Arbeiten meist in geringer Auflage erscheinen, erklärt sich auch der hohe Preis). Vielleicht ist es aber auch nicht unbedingt nötig, den gesamten Rekurs durch die philosophischen Ansätze des späten 20. Jahrhunderts in den ersten Kapiteln in gesamter Länge durchzuarbeiten. Hier kann man sich u. U. anhand des Inhaltsverzeichnisses bestimmte Schwerpunkte setzen (beispielsweise die feministische Literatur oder die Rolle der Ethik in der Erkenntnis). Die Kernaussagen sind in den Kapiteln 5 und 6 enthalten, "Objektivität: Versuch einer Begriffsbestimmung" bzw. "Rudolf Steiners Erkenntnismethoden und die Objektivität der Erkenntnis".

Ist damit ein Ende des Materialismus in der Wissenschaft gekommen? Derartige Strömungen zeichnen sich ja seit längerem ab, Majorek zeigt sie auch auf. Doch bisher wagte es keiner aus dem naturwissenschaftlichen Mainstream, das umfassende Werk Rudolf Steiners zur Grundlage einer neuen Herangehensweise an wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung zu nehmen.
Man hört geradezu die Aufschreie der materialistischen Wissenschaft, sei es Natur- oder Geisteswissenschaft, die diesem Werk bald folgen werden. Wir dürfen gespannt sein.
         
         
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