WERNERS BLOG

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  Zeichnung: Wilhelm Busch


Sonntag,
31. März 2019
Noch ein Nachtrag zu den Bemerkungen über Rüstungsexporte von gestern. Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewtter ist der Meinung, die Verlängerung des Lieferstopps von Waffen an Saudi Arabien sende Signale, die "die Politikfähigkeit Deutschlands nicht gerade verbessern". Wir wären für Frankreich oder Großbritannien kein verlässlicher Partner mehr. Moral, Interessen und Werte müssen stärker ausbalanciert werden, sagte er in einem Deutschlandfunk-Interview.

Daraus lernen wir:

  • Moral ist relativierbar
  • sie wiegt nicht mehr als "Interessen"
  • Werte bedeuten etwas anderes als Moral.

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Samstag,
30. März 2019
Auch wenn dies kein explizit politischer Blog ist, drängt es mich doch von Zeit zu Zeit, etwas zur aktuellen Lage zu bemerken. Kommentare zum Brexit erspare ich mir heute allerdings (da erinnere ich an einen Kommentar im Deutschlandfunk vom Dezember 2017. Dieser Einschätzung ist nichts hinzuzufügen. Leider ist alles noch viel schlimmer gekommen). Nein, dieses Mal lockt mich das Thema Rüstungsexporte aus der Reserve.

Man hat also Waffenlieferungen an Saudi-Arabien um weitere sechs Monate auf Eis gelegt. Klingt vielleicht erst mal gut, gelöst ist die grundsätzliche Frage, wie mit diesem Thema umzugehen ist, damit natürlich nicht. Und nun ist die Rede davon, die Partnerländer, mit denen man zusammenarbeitet, sollten sich von Saudi-Arabien die Zusicherung einholen, die gelieferten Waffen auf gar keinen Fall im Jemen-Krieg einzusetzen.

Wir liefern euch Waffen, aber wehe, wenn ihr sie auch benutzt! Geht's noch naiver?

Hauptsache, die Rüstungsindustrie kommt nicht zu kurz. Dass mit Waffen dann auch Krieg geführt wird, ist halt ein Kollateralschaden.

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Montag,
25. März 2019
Die alten Tagebücher (39)

4. Juli 1980

Der Sommer in Bardou ist schön – leider müssen wir ihn mit viel zu vielen anderen Menschen teilen. Die unzähligen Kontakte werden zum Problem.
Nach zwei bewölkten (aber angenehmen) Tagen wieder Sommersonne und -hitze. Schöne Wanderung heute mit C. zum Bach über dem oberen großen Wasserfall ("Paradies"?). Aber auch da nicht allein. Abends kommen noch die Bewohner von dem einsamen Haus über Héric vorbei, kenne ihn flüchtig vom letzten Jahr. Gestern Ankunft Brigitte, Elisabeths Schwester, jung und Schwatzblase, von noch größerer Oberflächlichkeit als der Bruder Christoph, allerdings auch jünger. E. scheint das weiße Schaf der Familie zu sein. Verstehe jetzt auch gut E.'s Eigenschaft (vor zwei Jahren), auf Anreden keine Antwort zu geben. Die beiden teilen sich ein Zimmer, schreckliche Vorstellung. Musste heute morgen schon etwas frostig ihr gegenüber sein, Bernd hat mittlerweile auch noch was davon abgekriegt, wollte nicht in der Frühstückszweisamkeit gestört werden.

Eigentlich wieder dieselben Schwierigkeiten wie letzten Sommer, nicht zuviel an "Kontakten" abzubekommen, vor allem von den falschen Leuten. Es ist einfach zuviel los, zuviel Leute, vor allem Deutsche, Jungvolk.

Sieglinde ist seit zwei Tagen da, mit Volker und Kindern. Jonathan (vom letzten Jahr) habe ich heute erspäht, auf der Terrasse des Châteaus. Bekannte, Bekannte, die einen lieb, die andern lästig. Jedenfalls viele, zu viele.

Überlegung, ob wir uns nicht für den nächsten Frühsommer (Juni, off season) den Tower reservieren lassen sollen. Bardou ist so schön in der Einsamkeit.

(...)

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Dienstag,
19. März 2019
An der Kratzbürste wird wieder gebaut. Das Dach des Haupthauses muss dringend saniert werden, und diese Maßnahme ist nun hoffentlich das letzte größere Bauvorhaben in den kommenden Jahren (ganz ohne Reparaturen und Ergänzungen wird man nie auskommen). Und so ist es an dieser Stelle angebracht, diejenigen Menschen zu erwähnen, die unser physisches Fortbestehen dadurch sicherstellen, dass sie ihr Geld bei uns (sicher!) anlegen. Die Kratzbürste finanziert ihre Baumaßnahmen überwiegend über Privatkredite. Einen herzlichen Dank für das Vertrauen!



 
Baumaßnahme Dachsanierung Baumaßnahme Dachsanierung
Baumaßnahme Dachsanierung
(von der Wiese aus)
Baumaßnahme Dachsanierung
(vom Nebengebäude aus)
   
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Mittwoch,
13. März 2019
Schon wieder erfahre ich einen freundlichen Gruß auf einer banalen Rechnung. Heute mit ein paar Kugelschreiberkrakeln und viel persönlicher als beim letzten Mal:



IHRE Bestellung: ☺
  Ich glaube nicht, dass ich bei diesem Verlag jemanden kenne – aber vielleicht kennt dort jemand mich?   Ihre Bestellung: ☺
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Montag,
11. März 2019
Erste Sätze (25)


(Manchmal ist es sinnvoller, nicht nur auf den ersten Satz eines Buches zu schauen, sondern die Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Sätzen, vielleicht den ganzen ersten Absatz zu richten. Wie in diesem Fall.)



Ernst Jünger, Auf den Marmorklippen (1939)

Ihr alle kennt die wilde Schwermut, die uns bei der Erinnerung an Zeiten des Glückes ergreift. Wie unwiderruflich sind sie doch dahin, und unbarmherziger sind wir von ihnen getrennt als durch alle Entfernungen. Auch treten im Nachglanz die Bilder lockender hervor; wir denken an sie wie an den Körper einer toten Geliebten zurück, der tief in der Erde ruht und der uns nun gleich einer Wüstenspiegelung in einer höheren und geistigeren Pracht erschauern lässt. Und immer wieder tasten wir in unseren durstigen Träumen dem Vergangenen in jeder Einzelheit, in jeder Falte nach. Dann will es uns scheinen, als hätten wir das Maß des Lebens und der Liebe nicht bis zum Rande gefüllt gehabt, doch keine Reue bringt das Versäumte zurück. O möchte dieses Gefühl uns doch für jeden Augenblick des Glückes eine Lehre sein!
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Sonntag,
10. März 2019
Heute etwas sehr Persönliches, ein vom (geretteten) Herzen kommender Dank:

– meinem aufmerksamen Freiburger Kardiologen

– den Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern des Universitäts-Herzzentrums Freiburg – Bad Krozingen.

Danke für ein zweites Leben.



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Samstag,
2. März 2019
Die alten Tagebücher (38)

20. Juli 1980

In Bardou. Ich habe wieder einen Garten angelegt, viel kleiner als im Jahr zuvor. ("Atonis Häusl": siehe 26.1.)
Wieder den Tag vertrödelt, Sonntag, wollte nicht zum Pool gehen, wegen der Leute.

Schwerer Kopf vom Wein bis in den Nachmittag hinein, trinke zuviel, so an die eineinhalb Liter pro Abend.

Stark windig heute, gegen Abend stärker bewölkt, der Wind weht Regentropfen über den Berg.

Die neuen Salatpflanzen sehen traurig aus, die ersten Tage nach dem Verpflanzen sind immer schlimm, sie verlieren viel Zeit durch die Umpflanzerei.

Nochmals Radieschen gesät.

Die schwarze Katze kam, es war nichts anderes übrig als Salatsoße, stark gewürzt mit Pfeffer und Salz, Zwiebeln darin, Olivenöl, Essig und Thymian. Sie leckt tapfer aus der Schüssel, ich erwarte, daß sie gleich zurückzuckt. Nein, sie kämpft mit dem ungewohnten Geschmack einige Minuten lang. Dann leckt sie lange ihr Maul, kneift dabei immer wieder die Augen zu, sicher der Essig. Danach ist sie damit beschäftigt, das Öl von der Schnauze wegzubringen. Sie wischt mit den Pfoten übers Gesicht, dann muss sie natürlich die öligen Pfoten wieder ablecken – einer Stadtkatze würde nicht im Traum einfallen, das alles auf sich zu nehmen.

Habe ich letztes Jahr nicht die Sonntage, die ich sonst nicht ausstehen kann, sogar genossen? Jetzt stören sie mich wieder mit ihrer Monotonie. Die Hauptattraktion der Bardoutage, M. Vidal mit der Post, fällt sonntags weg, bleibt nur noch der zweite Höhepunkt, das Abendessen. (Heute: Gebratene Nudeln mit Zwiebeln, Speck, Erbsen, Käse, dazu Kartoffelsalat.)

Karte an Fredi, Brief an Sabine M., Erinnerungen ans vergangene Jahr.

Bin nicht zufrieden, nicht mit der gegenwärtigen Zeit in Bardou, noch mit meinem Leben im Allgemeinen. Keine befriedigende Aussicht. Landleben, gut und schön, aber ob das auf die Dauer alles sein kann? Ebenso Reisen. Ich bin nicht zuletzt auch ein Mensch der Kopfarbeit, aber wiederum nicht gewillt, irgendeinen "Beruf" zu haben. Was also? Vertrauen auf meine Fähigkeit, eines Tages die Große Faulheit zu überwinden, mich an die Arbeit des Schreibens zu machen? Oder Ähnliches? Vage Aussichten, scheint mir.

Eine gute Schreibmaschine, ein geräumiger Schreibtisch, ein schönes Zimmer zum Arbeiten (ich habe wieder Atonis Häusl im Kopf), das wäre schon etwas. Und der Arbeitsgeist? Die Arbeitslust? Woher die Disziplin nehmen?

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Mittwoch,
27. Februar 2019
Rondo

Lächeln der Alten
fällt auf die Beete
's wird Blumen draus geben
später im Jahr

Lächeln der Blumen
fällt auf die Alten
's wird Erde draus werden
später im Jahr





106 MEIER, Gerhard: Rondo
in: ders., Werke, 4. Band, Oberhofen am Thunersee 2008, S. 61
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Samstag,
23. Februar 2019
Wind
Sanftmütiger
seit langem versuchst du
den Bäumen das Gehen beizubringen du
Unbelehrbarer

Gerhard Meier105
  Wetterbuche am Stohren/Münstertal

      105 MEIER, Gerhard: Vom einfachen Leben
in: ders., Werke, 1. Band, Oberhofen am Thunersee 2008, S. 75
 
 
  Was macht die Amaryllis?


 
9. Februar 14. Februar 22. Februar Neue Blätter
9. Februar 14. Februar 22. Februar Neue Blätter


Nichts blüht ewig, sic transit gloria mundi. William Turner kommt wieder zur Geltung und gleichzeitig wachsen neue Blätter – als Grundlage fürs nächste Jahr.

   
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Freitag,
22. Februar 2019
Die Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) hat ein ehrgeiziges Programm zum Klimaschutz verkündet, einen ressortübergreifenden Masterplan, der die Bereiche Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft umfassen soll und somit die Aufgaben anderer Ministerien entscheidend berührt. Siehe Bericht und Kommentar im Dlf. Schulze hat ihren Entwurf nicht mit den anderen betroffenen Ministerien abgestimmt, sondern ihn gleich dem Kanzleramt übergeben, vermutlich in der begründeten Annahme, dass von ihrer Vorlage nicht viel übrig bleiben würde, wenn er erst durch die anderen Ressorts ginge.

Im Koalitionsvertrag war beschlossen worden, ein Gesetz zum Schutz des Klimas zu verabschieden. Nun sind aber bekanntlich CDU und CSU Teil dieser Koalition, Parteien, von denen man zwar immer wieder Lippenbekenntnisse in Bezug auf den Klimaschutz vernimmt, die aber regelmäßig, wenn es konkret werden soll, substantielle Fortschritte verhindern.

So auch in diesem Fall. Was hört man als Kommentar zu Schulzes Vorlage: Planwirtschaft! Nicht nur von den Unionsparteien, sondern auch – wen wundert’s – von der FDP.

Lieber planlos weiter wie bisher und warten, bis alles zu spät ist. Betrifft ja erst spätere Generationen. Die aber melden sich gerade, und zwar massiv: siehe Greta Thunberg.



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Dienstag,
19. Februar 2019
Die alten Tagebücher (37)

19. Juli 1980

Von Italien, wo ich mit Freunden ein paar Tage im Piemont verbracht hatte, bin ich wieder nach Bardou gefahren, um dort noch einmal einen Sommer zu verleben, den Garten, den ich ein Jahr zuvor bestellt hatte, nochmal zu bepflanzen und darauf zu warten, dass "Atonis Haus" für uns zu mieten sein würde ( siehe letzten Eintrag). Das Gefühl in Bardou ist nicht mehr dasselbe wie im vergangenen Jahr. Zum Vergleich: die Tagebucheinträge des Sommers 1979

Mache Ferien, Urlaub, in Bardou. Kein Vergleich zu letztem Jahr. Die besonderen Gefühle des Hier-Lebens sind wieder "normalen" Feriengefühlen gewichen. Ich bin mir auch einigermaßen sicher, daß sich das nicht mehr grundlegend ändern wird. Meine Zeit in Bardou, und Bardou in mir, geht zu Ende.

Die letzten Tage schön, heiß. Heute beinahe zu heiß. War fast den ganzen Tag auf der winzigen Terrasse vor meinem Zimmer gesessen und habe dummes Zeug gelesen (Asimov, A. Christie). Der Blick von meinem Stübchen geht weit, das Tal raus, wie vor 5 Jahren, als ich oft auf der Terrasse des Lower Hostel gesessen habe, auch letztes Jahr, die ersten drei Wochen vom oberen Haus aus. Nur wenige Häuser des Dorfs bieten diesen Blick, der mich immer etwas wehmütig, sehnsüchtig macht. Einmal möchte ich in einem Haus leben, wirklich ständig leben, das mir einen solchen Ausblick bietet.

Ich, der ich immer alles auf einmal haben will, muß es schon wieder bedauern, daß Atonis Haus in flacher Gegend liegt, der Blick an Bäume, die den Besitz umstehen, stößt. Nur der Gemüsegarten zum Anschauen, Stall, etc. Dabei ist es alles andere als sicher, daß wir da überhaupt einziehen können. (...)

Brief von C., lieb und sehnsüchtig, ich freue mich aufs Wiedersehen, wahrscheinlich in einer Woche.

Karte an Mutter.

Bin dieses Jahr auch vom Himmel entfremdet, den Sternen, dem Mond, dem Licht der Nacht. Schaue mit dem unruhigen Blick des Städters hinauf, habe nicht die Ruhe, das Glück wie voriges Jahr. Nicht mehr die Einheit mit der Natur.

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Sonntag,
17. Februar 2019
Es kommt immer wieder vor, dass völlig ernstgemeinte Nachrichten bei manchen Menschen einen Lachanfall verursachen. Heute ist mir das mit der Nachricht passiert, Donald Trump sei für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden, und zwar vom japanischen Regierungschef Shinzo Abe. Und, so die Nachricht weiter, dies sei auf ausdrücklichen Wunsch von Trump selbst geschehen, wie die japanische Zeitung "Asahi Shimbun" unter Berufung auf eine nicht näher genannte Quelle schreibe.

Ich kommentiere diese Nachricht nicht, in der Annahme, die Leser*innen meines Blogs machen sich ihre eigenen Gedanken.

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Samstag,
16. Februar 2019
Besuch bei den Bienen

Das Wetter erzählt vom Frühling. Anlass zu einem kurzen Besuch bei den Bienen: Haben sie den Winter überlebt? Haben sie genug Futter? Wie ist der allgemeine Zustand?

Der erste Blick gilt dem Flugloch: Seid ihr alle da? Alle fünf Völker sind am Leben und fliegen. Dann ein Blick auf die gelben Höschen: Bienen, die Pollen eintragen, haben vermutlich auch schon Brut angesetzt. Zuletzt ein (behutsamer) Blick ins Innere: wie steht es mit dem Futtervorrat?
 
Ausflugswetter Biene mit Pollenhöschen Üppig blühende Haselnusssträucher in der Umgebung Gut im Futter
Die Sonne lockt die Bienen zur Reinigung und zum Pollensammeln aus ihren Beuten. In diesem Jahr treffen die Haselblüte und warmes Frühlingswetter zusammen, so dass die Bienen den Pollen eintragen können. In der Umgebung gibt es überreiche Bestände an Haselnusssträuchern: alles, was gelb schimmert, ist Futter für die Bienenbrut Alle Völker haben offenbar noch genügend Futter
   
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Freitag,
8. Februar 2019
Erste Sätze (24)


Friedrich Dürrenmatt, Der Tunnel (Erzählung 1952)

Ein Vierundzwanzigjähriger, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige) nicht allzu nah an ihn herankomme, der es liebte, die Löcher in seinem Fleisch, da doch gerade durch sie das Ungeheuerliche hereinströmen konnte, zu verstopfen, derart, dass er Zigarren rauchte (Ormond Brasil 10) und über seiner Brille eine zweite trug, eine Sonnenbrille, und in den Ohren Wattebüschel: dieser junge Mann, noch von seinen Eltern abhängig und mit nebulösen Studien auf der Universität beschäftigt, die in einer zweistündigen Bahnfahrt zu erreichen war, stieg eines Sonntagnachmittags in den gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig, um anderentags ein Seminar zu besuchen, das zu schwänzen er schon entschlossen war.


(Unbedingt mal wieder lesen!)
       

Sonntag,
3. Februar 2019
Man kennt den Begriff der Sonntagsreden. Damit sind Äußerungen von Politikern gemeint, die wenig Bezug zur Wirklichkeit haben. Der Duden definiert sie als "bei feierlichen Anlässen gehaltene schöne Rede [mit großen, der Realität meist nicht standhaltenden Worten]" Am heutigen Sonntag wurde eine Äußerung von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier bekannt, keine Rede, nur ein Geschwätz am Rande eines Besuchs in Kairo:

Wie noch nie in der Geschichte der Menschheit gebe es weltweit eine Innovationsfreude, sagte der CDU-Politiker, Beispiele seien etwa die Künstliche Intelligenz oder 3D-Drucker. Und: "Deutschland muss vorne mit dabei sein."

Jetzt frage ich mich, wieso mir bei diesen Worten eine Kurzgeschichte von Friedrich Dürrenmatt einfällt, die der Deutschlehrer mit uns vor über fünfzig Jahren durchgenommen hatte. Sie heißt "Der Tunnel", wurde erstmals 1952 veröffentlicht und hat folgenden Inhalt:

Ein Student fährt mit einem Zug in die Universitätsstadt. Auf der Strecke, die er regelmäßig fährt, fällt ihm auf, dass der Zug ungewöhnlich lange durch einen eigentlich sehr kurzen Tunnel rast, der ihm bisher nicht besonders aufgefallen war. Er macht sich zunehmend Sorgen, die Mitreisenden sind aber nicht beunruhigt. Auch der Schaffner versichert, alles sei in Ordnung. Der Student sucht den Zugführer auf, der sich den langen Tunnel ebenfalls nicht erklären kann. Gemeinsam schaffen sie es, zur Lokomotive vorzudringen. Der Führerraum ist leer: der Lokomotivführer ist abgesprungen, der Zugführer hingegen an Bord geblieben, aus Pflichtgefühl und weil er schon "immer ohne Hoffnung gelebt" habe. Die Lokomotive gehorcht nicht mehr, die Notbremse funktioniert nicht, der Zug rast immer schneller und schneller in den dunklen Abgrund.



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Donnerstag,
31. Januar 2019
Aus beengten Platzverhältnissen ergeben sich zuweilen reizvolle Kombinationen.

Die Amaryllis (eigentlich Hippeastrum bzw. Ritterstern), die ich vor zehn Jahren zum Einzug in die Kratzbürste erhalten hatte (danke, Anni!), blüht jedes Jahr schöner. In diesem Winter blühen sechs Blütenkelche statt der bisher üblichen vier. Ich habe auch schon Samen abgenommen und kleine Pflänzchen daraus gezogen. Seit einiger Zeit blüht die Amaryllis vor einem Stahlstich nach einem Gemälde von J.M.W. Turner (ca. 1821): St. Agatha's Abbey, Easby (gestochen vom Graveur John Le Keux, 1822).

 
23. Januar 25. Januar 26. Januar 28. Januar
23. Januar 25. Januar 26. Januar 28. Januar
   
 
29. Januar, 10 Uhr 29. Januar, 16 Uhr 30. Januar 31. Januar
29. Januar, 10 Uhr 29. Januar, 16 Uhr 30. Januar 31. Januar
   
 
(Fortsetzung folgt, s.o. )
 
 
Joseph Mallord William Turner: St Agatha’s Abbey, near Richmond, ca.18211 Joseph Mallord William Turner: St Agatha’s Abbey, Easby, Stich von J. Le Keux, 1822
Joseph Mallord William Turner:
St Agatha’s Abbey, near Richmond, ca.1821
Joseph Mallord William Turner:
St Agatha’s Abbey, Easby, Stich von J. Le Keux, 1822
   
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Samstag,
26. Januar 2019
Die alten Tagebücher (36)

22. Juni 1980

Die Zukunft in München ist sehr unsicher, wir wohnen vorübergehend in einer leerstehenden Wohnung in München-Trudering (Stadtrand). Mit "Don McLean" ist vermutlich der Song Bye Bye Miss American Pie gemeint. "Atonis Haus": ein kleines Häuschen im Moor bei Bad Aibling, das wir nur, wenn es nicht verkauft wird, mieten können. (Wir werden schließlich sechs Jahre darin wohnen, aber das wissen wir noch nicht.)

Bei Don McLean überfällt mich (wieder einmal) die Sehnsucht, ein Dichter zu sein. Das Leben nicht nur intensiv zu erleben (ich tue das ja), sondern auch einen Ausdruck dafür zu finden.
Dass mir das bei Don McLean passiert, zeigt, dass ich ein Romantiker bin, unheilbar, scheint's.

Was fange ich bloß mit mir an? Die Träume in mir schwellen an, überwuchern zu Zeiten das gegenwärtige Leben, verstellen es bis es nicht mehr sichtbar ist, nicht mehr durchleidet.

Die geliehene Geborgenheit (für 14 Tage!!) verführt zu dem Gefühl, zu leben. Da ich weiß, dass mir die Sommermonate in Bardou weiteres Leben leihen werden, verdränge ich alles Davor und Danach. Ein Buch mit Bildern und Text über Südfrankreich, das hier im Regal steht, macht mir Heimat-Sehnsuchtsgefühle.

Die Sehnsucht ist ein ständiger Begleiter. H. wirft mir immer vor, ich könne nicht in der Gegenwart leben. Stimmt. Noch habe ich es nicht erreicht, mir eine Gegenwart zu schaffen, die mich befriedigt.

Die halbwegs befriedigenden Angebote tanzen um meinen Kopf: Atonis Haus (20 Angebote zum Kauf hat er). Claudia u. Richard V. suchen ein Paar, das mit ihnen zusammen in die Gegend von Petershausen zieht, das italienische Dorf von Ernstl, vage weitere Vorstellungen.

Die Schwankungen zwischen dem Nahen, Greifbaren, dem Spatz in der Hand und dem Geträumten, der Taube, nein, dem Adler, beherrschen zur Zeit meine Gedanken über meine Zukunft.

Was ist denn für mich schon greifbar, zahlbar? Ein Häusl mit 300,- Mark Monatsmiete oder höchstens noch eine Bergruine für vielleicht 10.000,- Mark Kaufpreis (mit Hängen und Würgen und Stottern und Schuften).

Ist da das Träumen in den nächsten Zehnerpotenzen nicht reizvoller?

Nun ja, hätt'st was G'scheits g'lernt: C. kriegt für die kommenden 14 Tage Job beim NDR mit Anreise und Spesen brutto 3700,- Mark. Ich warte immer noch, dass mir die Führerscheinbehörde meinen Taxischein rausrückt, der mir dann pro Schicht zu 11 Stunden einen Hunderter oder knapp darüber einbringt. Hätte ich Lehrer bleiben sollen, eine Aufstiegsleiter – Ausbildungslehrer, Direktor, Schulrat oder so einen Scheiß – besteigen sollen?

Die früher geäußerte Alternative: da ende ich lieber unter den Brücken, kommt mir zwar nicht mehr so leicht über die Lippen, aber an dem Grundsatz hat sich nichts geändert.

Nein, die Brücken werdens wohl nicht werden, sollens auch nicht werden, aber meine ständige Verweigerung ist ja auch keine konstruktive Lösung. Was also, wohin also?

Für mehr Über-Tägliches reichts nicht mehr, drum All-Tägliches: Spaziergang mit C. im Ebersberger Forst. Der Wald hat meine Sehnsucht nur noch mehr gestärkt. Wald, Berge und Wasser – das wäre meine Wunschheimat.

Muss das Abendessen im trauten Heim erwähnen: wunderbare Lasagne, der Haushalt mit C. ist so schön, macht so Lust auf mehr Zusammenleben. Wie immer, das alte Lied: Soviel Träume, und so wenig Aussichten, sie zu erfüllen.

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Dienstag,
22. Januar 2019
Am kommenden Sonntag, dem 27. Januar, wird in unserer Gemeinde wieder einmal über die Windkraft abgestimmt ( siehe meinen Eintrag vom 24.9.17). Dieses Mal haben die Gegner der Windkraft die Abstimmung beantragt. Sie wollen einen Gemeinderatsbeschluss vom Juni vergangenen Jahres aufheben lassen, der den Abschluss eines Vertrags mit der Fa. Enercon vorsieht und den Bau von zwei Windkraftanlagen auf dem Gebiet der Gemeinde ermöglichen soll. Die Argumente für und gegen die Windräder hat die Gemeinde in dieser Broschüre (rechts) aufgeführt und erläutert. Die Mehrzahl der Gemeinderatsmitglieder sowie der Bürgermeister von Münstertal stehen nach wie vor zu dem Beschluss.

Im Tal wachsen seit Monaten immer mehr kleine bunte Windrädchen an den Straßenrändern, großenteils von Kindern und Jugendlichen gefertigt, die den Bau der Windkraftanlagen im Münstertal willkommen heißen.



      (Link zur Broschüre der Gemeinde Münstertal)
 
       
   
 
       
   
 
       
   
 


Gleichzeitig hört man, dass im soeben unterzeichneten neuen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag auch die Schließung des antiken elsässischen Atomkraftwerks Fessenheim zum hundertsten Mal beschlossen wurde.
  Atomkraft? Nein danke
 
AKW Fessenheim
AKW Fessenheim, Projektbeginn 1970, Inbetriebnahme 1978
(Quelle: Florival fr - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link)
   
 


Münstertäler, geht am Sonntag zur Abstimmung und entscheidet euch für den Wind!


   
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Dienstag,
15. Januar 2019
Es stehen noch die Auszüge aus "Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde" aus, wie der volle Titel des Romans von Raoul Schrott lautet. Dieses Buch kreist um die Insel im Südatlantik, die als die abgelegenste menschliche Siedlung der Welt gilt. Raoul Schrott verwebt historische Fakten aus verschiedenen Jahrhunderten seit der Entdeckung der Insel im Jahr 1506 bis in die Gegenwart mit in großartiger Sprache erzählten Liebesgeschichten.

Im ersten Zitat spricht Mark Thomson, "Mitte Fünfzig und Briefmarkenhändler, der anhand seiner Sammlung die Geschichte der Insel in einem epischen Panorama rekonstruiert, damit aber auch die Geschichte seiner gescheiterten Ehe, in einer Parabel von Eifersucht und Sehnsucht" (so charakterisiert der Autor selber seine Figur). Thomsons Frau trägt – wie alle Frauen des Buches, deren Rolle die einer sehnsüchtig Geliebten ist –, den Namen Marah, ein Bezug auf eine Stelle im biblischen Buch Rut: Sie aber sprach zu ihnen: Nennt mich nicht Noomi, sondern Mara; denn der Allmächtige hat mir viel Bitteres angetan. (Rut 1,20). (Eine weitere Figur im Buch ist die Wissenschaftlerein Noomi Morholt.) Martha ist Thomsons Tochter, die er durch die Trennung verliert.
In Marthas Zimmer höre ich die alte hölzerne Uhr schlagen, in deren Gehäuse sie alles mögliche versteckte, alles, was ihr des Bewahrens wert schien, ihr Ton dumpf, das Regelmaß meiner Zeit, die durch ein Gewicht bestimmt wird, das auf vorhersagbare Weise herabsinkt, all die Schwere der Sehnsucht nach meiner Tochter. Was die Räder antreibt, den Zeiger dreht, ist sein Fallen; doch um die Zeit abzulesen, muss man es so regulieren, dass der Schwere bloß Schritt um Schritt nachgegeben wird, die Zähne einer nach dem anderen sich weiterdrehen, eine kleine Klammer in sie eingreift: die Hemmung.

Sie ist die eigentliche Mitte aller Zeit, unsichtbar unter dem Zifferblatt dieser ewig gleichen Stunden, diesem einen Kreis meines Purgatoriums, den die Zeiger Tag um Tag beschreiben. Bereits ihren Namen zu schreiben verengt mir den Hals, nimmt mir allen Atem; ich sehe Marah in ihr und in ihr Martha, und fühle mich schuldig, weil ich trotzdem spüre, dass mein Schmerz um Marah größer ist. Kann man als Vater Schrecklicheres sagen? Und dennoch, oder gerade deshalb, verwinde ich es nicht, dass ich meine kleine Martha nicht mehr um mich habe. Es ist eine Verzweiflung in mir, hart und unzugänglich; und ich verstehe sie nur, wenn ich sie auch an meinen Figuren durchlebe, erst dann. Diese Verzweiflung gesellt sich zu ihnen, sie ist das Dunkle ihrer Silhouetten, das einzige, was ihnen in ihren Kreisen Stofflichkeit verleiht. Die Vorwürfe, die ich mir mache, sie nähren die Flammen, in denen sie zu stehen haben, in denen sie zugrunde gehen wie Cotton und seine zwei Söhne, diese gänzlich ausgelöschte Familie, die achte auf dieser Insel, die einzige, deren Name nicht weiterlebt wie jene der anderen sieben. Sie ist der Inbegriff einer Sünde, die nicht in dem Verfehlen eines gottgefälligen Zieles steckt, in keinem schuldhaften Ungehorsam und keinem menschlichen Irrtum; in ihr verkörpert sich jene Schuld, die GOtt den Menschen aufbürdet, indem ER sie für sich büßen lässt wie einst Hiob.

Der eigentliche Sündenfall aber, er liegt in der Zeitlichkeit allen Seins. Der Urgrund aller Sünde liegt darin, dass jede menschliche Tat eine Empörung gegen GOtt darstellt, weil sie auf ihrer Zeitlichkeit besteht - während es IHn in SEiner Unendlichkeit nicht betrifft. Des Menschen Schwäche ist vor SEinen Augen deshalb auch keine Entschuldigung.103
Das zweite der ausgewählten Zitate ist ein Auszug aus einem (von R. Schrott erdachten) Brief einer historischen Figur, des Reverends Edwin Heron Dodgson (1846 – 1918), der, wie der Autor die Figur beschreibt, "im 19. Jahrhundert die Siedler auf Tristan missionieren soll, ein Verhältnis mit einem Mädchen beginnt und sich dabei tief in Schuld verstrickt." (Auch dieses Mädchen trägt den Namen Marah.) Dodgson spielt hier auf die "Lifeboat Tragedy" im Jahr 1885 an, bei der 15 der 19 erwachsenen männlichen Bewohner der Insel ums Leben kamen.
Und plötzlich stehen mir dabei die Gesichter all der verschollenen Männer vor Augen, als prüften sie mich mit ihren toten Blicken, sie, die ich zuvor kaum je als Personen wahrgenommen hatte, weil sie keine eigene Geschichte besaßen, nur die ihrer Insel; Jacob, Jeremiah und William Green, Joseph, William Henry, Charles und Andrew Hagan junior; die jungen William Peter und John Alexander Green; der eitle Plapperaffe Swain und Thomas Glass, der mich auf die Südspitze der Insel mitnahm, zum Stony Hill, eine grob versteinerte Blase, scharfkantig schwarze Lavablöcke, über die wir hinaufstiegen, um in den Krater zu sehen, der kaum älter als ein paar hundert Jahre sein konnte, bloß Flechten und Moos hatten sich bis jetzt am Gestein festsetzen können. Rund um ihn aber hatte sein Vater Apfelbäume gepflanzt, inzwischen verwilderte, ein Hain aus urvordenklicher Zeit, aus dem Geröll wachsend. Es muss auf dieser Bootsfahrt gewesen sein, als wir beim Sammeln der galligen Früchte Pause machten und das mitgebrachte Essen verzehrten, dass Joshua mir von seiner Liebe zu Marah erzählte, wissen wollte, wie man als Christ die Liebe, wo sie sich doch nur auf den Leib richtet, als wahr erkennt, ich aber bloß halbherzige Worte für ihn fand.

Ja, vor allem Anfang steht Täuschung und Betrug. Auch Adam, beschämt über seine Tat, versuchte Gott zu täuschen und versteckte sich mit Eva im hüfthohen Gras. Entdeckt und entlarvt dann, gestand er den Bruch seines Versprechens ein, nicht an verbotene Früchte zu rühren, gab ihr die Schuld. Sie wiederum zeigte mit anklagendem Finger auf die Schlange, die sie getäuscht und überredet hatte, von der Frucht zu kosten. Denn was hatte die Schlange zu Eva gesagt: dass die Drohung Gottes nur Täuschung sein konnte, sie an der Frucht nicht sterben, sondern ihnen ganz im Gegenteil die Augen geöffnet und sie Gott gleich werden würden, wie Er dann fähig, Gut und Böse zu erkennen. Und ja, die Schlange war ehrlicher als Gott, ja sie hatte nicht gelogen, die Schlange hatte als einzige die Wahrheit gesagt.104

Die Bewohner von Tristan da Cunha betreiben eine Homepage, die informativ über die Geschichte der Insel und das Leben ihrer Menschen berichtet. Viele Einzelheiten, die Raoul Schrott in wunderbarer Sprache beschreibt, findet man dort wieder.

103 SCHROTT, Raoul, Tristan da Cunha oder die Hälfte der Erde, Frankfurt am Main 2003, S. 411 f.

104 a.a.O., S.465 f.
 
      Tristan da Cunha
      Tristan da Cunha ( 37° 6′ S, 12° 17′ W)
Quelle: tristandc.com
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Samstag,
12. Januar 2019
Heute die versprochenen Textauszüge aus Erich Kästners "Gang vor die Hunde" ( s.u., 10. Januar)

Fabian entdeckt in einer Bibliothek Descartes' Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie", die er seinerzeit als Student durchgearbeitet hatte.
Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, dass ich jetzt eine Schuld auf mich laden würde, wenn ich die Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen."101



"Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen."Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder lässt sich von ihm überraschen wie von einem Eisenbahnzusammenstoß oder einer anderen unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachverständig."

"Und die Menschen?"

"Der Globus hat die Krätze", knurrte der Alte.

"Das Leben lieben und zugleich die Menschen verachten, das geht selten gut aus", sagte Fabian und stand auf.102



101 KÄSTNER, Erich, Der Gang vor die Hunde, Zürich 2018, S. 38; Das Zitat von René Descartes stammt aus seinen "Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie" und kann im Projekt Gutenberg nachgelesen werden: http://gutenberg.spiegel.de/buch/betrachtungen-uber-die-grundlagen-der-philosophie-326/4

102 a.a.O., S. 115 f.
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Allen Lesern und Leserinnen meines Blogs danke ich für ihre aufmerksame Begleitung und wünsche ihnen
ein glückliches Neues Jahr 2019
   
 
 
Donnerstag,
10. Januar 2019
Mein neues Jahr fängt – natürlich – mit der Lektüre von Büchern an. Drei von ihnen möchte ich erwähnen und Zitate daraus vorstellen. Es handelt sich um zwei schon etwas ältere Bücher: "Berittener Bogenschütze" von Brigitte Kronauer aus dem Jahr 1986 und "Der Gang vor die Hunde" von Erich Kästner (1931), sowie um "Tristan da Cunha" von Raoul Schrott von 2003.

Bei Erich Kästner wird sich vielleicht mancher fragen, wie es kommt, dass er/sie von diesem Roman noch nie etwas gehört hat, wo Erich Kästner doch ein sehr bekannter Autor ist. Des Rätsels Lösung: 1931 erschien der Roman in gekürzter Fassung unter dem Titel "Fabian". Der Verlag (Deutsche Verlagsanstalt, damals Stuttgart) konnte und wollte 1931 einige Passagen und sogar ein ganzes Kapitel nicht abdrucken – die Verhältnisse, sie waren nicht so. Zwei Jahre später haben die Nazis Kästners Bücher öffentlich verbrannt.

2013 hat der Schweizer Verlag Atrium (1935 gegründet um Erich Kästners Bücher zu veröffentlichen) den Roman in einer restaurierten Fassung neu herausgegeben, jetzt auch unter dem von Kästner vorgesehenen ursprünglichen Titel "Der Gang vor die Hunde".


  Zitate aus dem Roman Berittener Bogenschütze von Brigitte Kronauer:
Er kam am städtischen Hallenbad vorbei, es roch bis zu ihm hin nach feuchter Luft und Chlor, dass sich ihm die Haare aufrecht stellten. Trotzdem atmete er hier, um den Becher bis zur Neige zu leeren, besonders tief ein. Das also war eine ihrer Vereinigungsstätten! Da krebsten sie, schnaufend, kreischend vor Wonne, mit einem Gummiband am Handgelenk, alle im selben Element, traten sich mit harten Fersen in die Weichteile, pinkelten geschickt vor sich hin, schluckten Wasser und rotzten zurück, kehrten mit Fußpilz oder Erkältung vom Gemeinschaftserlebnis heim und stanken für den Rest des Tages. Wie fühlten sie sich aber dabei? Fit! 99


Er kam an den Villen mit ihren verschnörkelten Eingängen vorbei, mit gebuchteten Balkons, mit Vorgärten, größer als mancher Schrebergarten und voller Narzissen. Hinter den alten, stabilen Mauern bemühten sich die Insassen um den Vollzug eines glücklichen Lebens, wie es der stolzen Aufmachung ihrer Häuser entsprach.100
  99 KRONAUER, Brigitte, Berittener Bogenschütze, München 2007, S. 188

100 a.a.O., S. 193/194
  Die Zitate aus den Büchern von Erich Kästner und Raoul Schrott folgen demnächst.


Zuvor aber noch Bilder aus dem Fenster, hier gibt es auch Schnee, wenn auch nicht so viel wie in Bayern. Immerhin reicht es, um aus dem Schwarzwald einen Weißwald zu machen. Oder auch nur einen Grauwald.


  Grauwald Weißwald  
9.1.19: Grauwald 10.1.19: Weißwald
   
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